Wilhelm Liefland
Zum Tode unseres Mitarbeiters



Foto: Dagmar Gebers (1979)

Wir trauern um Wilhelm Liefland, den Lyriker, Schriftsteller, Musiker und Jazzkritiker, unseren Mitarbeiter und Freund.

Wilhelm Liefland wurde, Zufallsopfer eines jugendlichen Amokläufers, am letzten Samstagabend in der Frankfurter Innenstadt zusammengeschlagen. Einige Tage versuchte er in seiner Wohnung, allein und zusammen mit Freunden über den Schock, die Angst und die Schmerzen wegzukommen. Bis er sich entschloss, allein nach Norddeutschland und ans Meer zu fahren. Er kannte das Wattenmeer bei Nordstrand genau, die Landschaft seiner Kindheit und Jugend. Es war Heimat, die er bei seinem Tode sehen wollte und sah.

Wilhelm Liefland, 1938 geboren, stammte aus einer strenggläubigen Pastorenfamilie. Die Kraft seiner Intelligenz und seines Gefühls hat ihn weit von seiner Herkunft weggeführt und doch nicht weit genug, als dass er nicht unter dem Abgetrenntsein, Anderssein gelitten hätte. Der früh Stigmatisierte hätte nichts so dringend gebraucht wie Geborgenheit. Der Kampf ums Akzeptiertwerden war für ihn ein tagtäglicher Überlebenskampf. Er arbeitete schwer, immer auch mit Lust. Seine künstlerische, sprachliche, kritische Leistung, so subjektiv und bisweilen auch hermetisch sie sich darbot, hatte immer Adressaten. Lieflands Arbeiten fanden zunehmend Verständnis, Anerkennung, Bewunderung. Das alles konnte dem Verletzten, weiter Verletzlichen aber doch nur zum Teil helfen. Eine viel umfassendere Liebe und Wärme nur hätten sein Leben erhalten können. Auch wir, seine Kollegen und Freunde, müssen uns fragen, ob wir ihm genug gegeben haben.

Wilhelm Liefland ging an der Kälte menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Einrichtungen zugrunde, dem ohne Schutzpanzer Lebenden wurden fast alle beruflichen Schwierigkeiten und privaten Konflikte zu finsteren, existentiell bedrohlichen Zeichen. So empfand er das Zusammengeschlagenwerden zuletzt als eine Art Todesurteil.

Wilhelm Liefland wuchs als Lyriker und Schriftsteller daran, seine Angst zu bearbeiten. Beschäftigtes Leben transzendierte zu sprachkünstlerischer Formung, die tagtägliche Not wendete, indem sie sie bloßlegte. In allem, was Liefland schrieb, war er selbst mit seiner Angst, seiner Erfahrung, seiner Sehnsucht, immer ganz da. Sein Bewusstsein kannte keine fachspezifischen Abspaltungen. Wenn er in dieser Zeitung, im „Vorwärts“ oder im Rundfunk über Jazz schrieb oder sprach, schrieb und sprach er von sich, so hell und feinfühlig er auch analysierte und beschrieb. Ein Jazzkritiker mag ersetzbar sein; Wilhelm Liefland ist unersetzlich.

Die Erfahrung mit Alkohol und der damit zusammenhängenden psychiatrischen Kasernierung ging Wilhelm Liefland mit Schreiben, Dichten, Musikmachen an, aber auch mit mutiger, selbstbewusster Lebensgestaltung, nicht zuletzt mit Disziplin gegenüber seinem Körper. Dem jünglingshaften Mann mit dem auch winters weit offen stehenden Hemd war kaum zuzutrauen, dass er andere verletzen konnte. Und doch gab es Leute, die von ihm verletzt wurden; ihre ungefährdete Lebenstüchtigkeit musste das Anathema des Gesetzes der Lieflandschen Existenz bedeuten, seiner strenge und Reinheit.

Wilhelm Liefland hatte Theologie, Literaturwissenschaft und Philosophie studiert. Seit 1969 war er ständiger Mitarbeiter der „Frankfurter Rundschau“. Er hatte insbesondere teil an neuen Entwicklungen des Jazz. Betriebmacherei war ihm verhasst; so hoben sich seine Kritiken vom üblichen, werbetextnahen Jargon der Jazz- und Poppkritik scharf ab. 1975 erschien Lieflands Gedichtband „Gesänge entlang der Angst“, Gedichte und Prosaarbeiten von ihm wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Mit dem Ensemble der „Maininger“ erarbeitete Liefland präzis theatralisierte „Jazz- und Lyrik“-Programme, die in ihrer künstlerischen Stringenz und thematischen Komplexität ihresgleichen suchen.

Einer, der Nähe suchte, aber sich nicht anbiederte, nicht anpasste. Es gibt angesichts seines Todes keinen Trost als den, dass Wilhelm Liefland gelebt hat.

Hans-Klaus Jungheinrich

aus: Frankfurter Rundschau, 23. August 1980