FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90003

Markus Müller

 

Das ist keine Kunst, keine Pfeife, keine Musik 1)

Erhard Hirt gehört zu der schon berühmt-berüchtigten 'zweiten Generation' der europäischen Improvisationsszene. Und nachdem Alexander von Schlippenbach gerade veröffentlicht hat, dass "Free Jazz bedeutet, das Wissen um die Tradition wie auch die neuen, eigenen Errungenschaften gleichermaßen zu nutzen..."2), ist man geneigt, auch Erhard Hirt in diesem Sinne zur zweiten Generation des europäischen Free Jazz zu zählen. Der Titel des ersten Stücks der Guten und Schlechten Zeiten jedenfalls erinnert an Ein Husten für Karl Valentin und verweist damit auf eine LP eben des Schlippenbach Trios, nämlich Pakistani Pomade. Respect to the old school?

In jedem Fall aber spielt Erhard Hirt in grundlegender Weise mit seinem Wissen um die Tradition und mit dem Verhältnis seiner eigenen Errungenschaften zu diesem Wissen. Zunächst einmal, indem er sich in bemerkenswerter Weise um einen 'Gitarrendiskurs' bemüht. Seit 1987 organisiert Hirt die mittlerweile international bekannten, so genannten Gitarren Projekte in Münster. Neben der Tradition, also Spielern wie Derek Bailey, Stephan Wittwer, Eugene Chadbourne, Davey Williams oder Joe Sachse, stellte Hirt im Rahmen dieser mehrtägigen Veranstaltungen auch "neue Errungenschaften neuer Spieler" (wobei die Grenzen hier natürlich je nach Informationsstand fließend sind), wie z.B. Valery Dudkin, Frank Rühl, Jean-Marc Montera, vor.

Mehr als jeder andere Spieler arbeitet Hirt also in einer 'Gitarren-Bauhütte', und mehr als jeder andere Spieler erforscht Hirt in seiner 'Bauhütte' wie in einem Laboratorium, wie seine Gitarren klingen, wenn er sie ihre spezifischen Klänge finden lässt. Ganz im Sinne der von Marcel Broodthaers proklamierten Methode Duchamp, arbeitet Hirt an einer Definition der Möglichkeiten der Gitarre. Jetzt haben Sie vielleicht einen Eindruck davon, wie vielseitig diese CD ist.

Abstrakt heißt das, dass es ganz gleich ist, ob es sich um ein mit R. Mutt signiertes Urinoir (1917) handelt oder um ein Objekt trouvé, jeder beliebige Gegenstand kann in den Rang eines Kunstwerks erhoben werden. Seit Duchamp ist der Künstler Autor einer Definition. Konkret heißt das, dass Hirt, in bester Künstler-Wissenschaftler-Manier erarbeitet, wie ein Drone oder wie mit Klammern, oder mit Motoren, oder wie Percussion, oder wie MZ (mit Maßband gespielt) klingt. Und das mit einer Konsequenz, die hören lässt, wie es klingt, wenn man, wie er es selbst ausgedrückt hat, "...zu Ende spielt, was man sonst nicht zu Ende spielen kann". Erhard Hirt verfällt allerdings nie dem Impressionismus der Heimwerker, seine Materialsammlung entwickelt sich eher analog einer akustischen Versuchsreihe mit wechselnden Parametern. Das bedeutet nicht, dass Gute und Schlechte Zeiten oder die oben genannten Stücke wie die Tabellensammlung nach einer zehnjährigen Versuchsreihenauswertung klingen. Aber soviel Zeit ist seit Zwischen den Pausen, der ersten Solo-LP vergangen.

Schließlich baute man mit den Bauhütten ja auch nicht Rödelheim oder Marzahn7 sondern Kathedralen des Lichts. So nüchtern die Titel dieser CD klingen, so schön ist die Musik. Nun ist Schönheit ja nur ein bedingt taugliches Kriterium.

Und wo Duchamp Schönheit mit dem Retinalen verwechselte arbeitet Hirt mit dem Kriterium der Auswahl an der Versuchung des oberflächlichen akustischen Schönen. Das heißt, wenn man bei Hans Reichel hören kann, dass er der 'Haltung Blues' und der 'Haltung Melodie' verpflichtet ist, dann kann man bei Hirt hören, dass er auch der 'Haltung Webern´ (damit meine ich, dass man nur das macht, was nötig ist) verpflichtet ist. Das Hauptproblem an der 'Haltung Webern' oder bei der Auswahl (zum Beispiel des Instruments und der benutzten 9Volt-Motoren, mit denen er arbeitet) ist, dass der Künstler seit Duchamp verpflichtet ist, "...etwas auszuwählen ohne Geschmack, Geschmackloses…"3) und dass diese 'Entästhetisierung´ zu einem Minimalismus führen kann, dessen Endpunkt John Cage bereits vor Jahren mit 4'33" definiert hat. Hirt gelingt es zu zeigen, dass man auch etwas Geschmackvolles auswählen kann, um Musik zu definieren. Er setzt Geräusch (Mit Motoren) gegen Stille (Zwischen den Pausen) gegen Harmonik (Axes). Hirts Arbeit mit dem erweiterten Geräuscheinsatz klingt immer so, als hätte es immer schon so geklungen. Sie entzieht sich damit, meines Erachtens, auch musikwissenschaftlichen Kategorien. Nur so ist zu erklären, wieso jemand in einem Stück nur einen Gitarrensynthesizer (Synthesizer) klingen lassen kann und man trotzdem keine Klischees hört, ja über diese Klischees erst nachdenkt, wenn man über diese Musik schreibt.

Jetzt haben Sie vielleicht einen Eindruck davon wie eigen diese Musik ist. Erhard Hirt klingt nicht wie andere Gitarristen. Das ist das Geheimnis. Wie Vögel. Wie die Straßenbahn auf der Straße über dir. Wie das Leben. Nicht wie Musik. Wie das Leben.

1) Denken Sie bitte an: Margritte, Duchamp, Broodthaers.
2) Alexander von Schlippenbach: Liner Notes zu The Morlocks and other Pieces, FMP CD 61.
3) Marcel Duchamp zu den Auswahlkriterien für ein Ready-Made, in: Serge Stauffer: Marcel Interviews und Statements, Stuttgart 1992, S. 105.

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