FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90004

John Corbett

 

Betrachtet man die Improvisation, wie es gemeinhin der Fall ist, als zwischenmenschlichen Vorgang - als das Ringen zweier oder mehr Spieler um eine gemeinsame Musik, in der sich ihre individuellen Formensprachen begegnen, dann stellt uns die Solo-lmprovisation vor ein Problem. Was bleibt an Auseinandersetzung - mit sich allein - übrig? Vollzieht sie sich zwischen dem Spieler und dem Instrument, als Erforschung der eigenen Klangsprache, wie verhindert man dann, dass daraus eine Art öffentliches Üben wird?

Und wer sich mit dem vorhandenen Instrumentarium konventioneller Techniken auseinandersetzt, wie vermeidet der, dass dies zur bloßen Demonstration gerät? "Es gibt einen Rückkoppelungsmechanismus, der mich mit dem Instrument verbindet", sagt Evan Parker, ein Experte des Solospiels. "lch suche stets herauszufinden, was es kann, das ich nie zuvor gehört habe". Die heikle Balance zwischen dem, was man weiß und dem, was man erforscht, zwischen Sicherheit und Risiko, Klischee und Erfindung, bekannten Lesarten und neuen Konnotationen. Selbst für einen Musiker wie Derek Bailey, der sich einen Ruf als Solospieler erworben hat, bleibt das Problem ungelöst. Bailey spricht oft von der Armut der Solo-lmprovisation, hat in der Praxis aber ihre Bedeutung immer wieder bestätigt. Der in Berlin lebende Saxophonist und Klarinettist Wolfgang Fuchs kennt dieses Problem aus eigener Anschauung. Auf der vorliegenden CD stellt er die einzelnen Instrumente vor, mit denen er seinen unverwechselbaren Sound geprägt hat, während er das Abenteuer unternimmt, im Zwiegespräch mit sich selbst seine Fähigkeiten und Grenzen auszuloten. Er arbeitet mit reinem Sound, aber im Kontext einer formalen und musikalischen Logik. Fuchs hat durch die intensive Beschäftigung mit den Mitteln und Möglichkeiten erweiterter Spieltechniken einen hochpersönlichen Stil entwickelt. Er gehört zur ersten Generation improvisierender Saxophonisten, die sich mit dem von Evan Parker Mitte der 70er Jahre vollzogenen Paradigmen-Wechsel auseinandersetzen musste, und er hat sich der Herausforderung gestellt und eine eigene instrumentale Handschrift entwickelt. Er verfeinert jenes Reservoir an Spielweisen und Ansatztechniken immer weiter und entdeckt dabei unentwegt neue, ihm bisher unbekannte Elemente und Partikel (BITS & PIECES). Als Solo-lmprovisator souverän im Einsatz seiner Sprache, verfügt er über ein ansehnliches Spektrum klanglicher Möglichkeiten. In den vorliegenden Solo-Stücken erprobt er neue Wege, um sein elementares Rohmaterial zu organisieren oder zu strukturieren, um zu artikulieren, was er als dessen "immanenten Teil" bezeichnet - die Möglichkeiten, wie sie je nach Raum und Zeit der Aufführung gegeben sind.

Wie Parker ist auch Fuchs extrem und anspruchsvoll, planvoll und intuitiv. Obwohl er schwerlich mit Evan zu verwechseln sein dürfte (wenn man richtig hinhört), ist dennoch in weiten Teilen ein gemeinsames Spielfeld zu erkennen. Der explorative Umgang mit dem Saxophon hat die Türen geöffnet zu einer Vielzahl bisher unerforschter musikalischer Verzweigungen und hat eine Reihe durchaus unterschiedlicher Stilisten hervorgebracht - von Luc Houtkamp, Mats Gustafsson, Louis Sclavis, Floros Floridis, John Butcher, John Zorn bis zu Kang Tae Hwan. Wie Ned Rothenberg, ein weiterer Vertreter dieser Richtung, erklärt: "Es bezeugt die Tatsache, dass diese Sprache ganz reich ist und sehr unterschiedliche Arten von Poesie darin zum Ausdruck kommen können".

Das Markenzeichen von Fuchs: Tonschleifen, Triller, Klangfetzen, Flatterzunge, Klangtupfer, Growls, ,Entenschnabel'. Die Ahnung stimmlicher Präsenz hinter brüchig aufjaulenden Klangsplittern. Graziöse Verzierungen umhüllen schrill verzerrtes Material. Schneidende Interpunktionen - plötzlich abbrechende Stakkati, blitzschnelle Verlangsamung. So schnell und präzise sind die Tempi Wechsel, dass die Attacke in den Ohren klingt wie ein rückwärts laufendes Tonband. Ein weiterer Bestandteil sind Fuchs' rhythmische Fähigkeiten. Manchmal erwächst aus dem Wirbel des anschwellenden Klangsturms ein Beat so ebenmäßig und betörend wie ein balinesischer Mönchsgesang; passt auf, ob Ihr nicht unbewusst mit dem Fuß mitwippt - möglicherweise hört er etwas, was Ihr nicht hört.

Fuchs setzt die Kontrabassklarinette als vollwertiges Instrument ein und nicht als Maschine zum Erzeugen von Freak-Effekten. Es gibt in der Tat keinen anderen Spieler, Peter van Bergen ausgenommen, der die Tiefen dieses Instruments so beharrlich ausgelotet hat. So, wie Fuchs damit umgeht, klingt es manchmal wie eine Art Analog-Synthesizer, doch dafür wiederum viel zu menschlich, weil in seiner Artikulation viel zu vital. Federnde Klappengeräusche, furiose Ansatztechniken. Von einem Extrem zum anderen; auf dem Sopranino klingt Fuchs wie ein sich selbst bezähmender Rachegott, scharf und spitz - die inkarnierte Linearbewegung. Streckenweise lässt er aus einem tiefen Ton Obertöne hervortreten. Zwischen diesen beiden Polen agierend - Klarinette und Bassklarinette eingeschlossen -, stellt sich Fuchs dem Dilemma des Solospiels. Er kreiert spontane Musik, genuine Improvisation - auf sich selbst verwiesen wie ein einsamer Jägersmann.

Wölfe treten im Rudel auf, sie jagen gemeinsam nach etwas Neuem. Dies ist nicht nur Fuchs' zweite Soloplatte in einem Jahrzehnt, es ist auch eine seiner allzu seltenen Gruppenbegegnungen. Nach 45 Minuten solistischer Arbeit ein transitorisches Stück, mehrspurig aufgenommen im Overdub-Verfahren: lange, tiefe Töne auf der Kontrabass-Klarinette, dann ein Panoramaschwenk auf Vogelschwarm, Klarinette, Stimme. Das Vokal-Poem, das bereits auf seiner ersten Solo-Scheibe SO-UND?SO! zu hören war, verbindet diese Hör-Kunst mit dem Vermächtnis der lautmalerischen Dada-Poesie. Es ist insofern auch ein Quartett: 4 x Fuchs.

Dieses Stück ist das Bindeglied zwischen der Soloarbeit und zwei Duo-Sets, einmal mit Evan Parker und einmal mit Jean-Marc Montera. Wie es der Zufall wollte, hielten sich seinerzeit beide in der Stadt auf, als Fuchs seine Soloplatte aufnahm. Fuchs und Parker haben bereits 1989 die Doppel-CD DUETS, DITHYRAMBISCH gemeinsam mit Louis Sclavis und Hans Koch eingespielt. In diesen beiden Mitschnitten setzen sie ihre feinnervige Hör- und Interaktion fort. Parker bleibt beide Male beim Sopransax (kein Tenorsax) - im ersten Stück verweilt die Bassklarinette im tiefen Register, bis Fuchs sich dem Briten zugesellt. Gleißende Sonnenstrahlen auf sanft gekräuseltem Wasser. Die Begegnung zwischen Sopranino und Sopran beginnt in einer Art Mauseloch: mit Energyplay und veritablen Klanggewittern. Wie sich ihr jeweiliges Klangvokabular fortschreibt, wird am Ende des Stückes deutlich, als sich die hohen Töne unentwirrbar miteinander verflechten. Bei Montera, der unlängst mit HANG AROUND SHOUT seine eigene Antwort auf das Solo-Dilemma herausgebracht hat, zügelt Fuchs sein vorpreschendes Temperament. Im ersten Duo spielt der Klarinettist in den tiefen Lagen der Bassklarinette und bleibt im Hintergrund der expressiven Gitarre, während er gleichzeitig die oberen Register bearbeitet. Und dann das Finale: eine phänomenale statisch-harmonische Klangfarben-Studie für Klarinette und Gitarre.

Wolfgang Fuchs ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Reeds-Spieler. Ob als Solist, im langjährigen Duo mit dem Live-Elektroniker Georg Katzer, mit seinem King Übü Örchestrü, das sich der Klangdestillation verschrieben hat oder auch im freien Trio-Spiel, stets bringt Fuchs eine Frische mit ins Spiel, eine Überzeugung, eine Klarheit. Gleichzeitig zu suchen und doch bei sich zu sein: das ist allemal ein kühnes Unterfangen, ob allein oder in Gesellschaft.

Übersetzung: Helma Schleif

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