FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90007/8 (CD1/2)

Andreas Kallfelz

 

Munteres Kombinieren und Kombinatorik

Free Jazz setzt eine unbedingte und spontane Leidensbereitschaft voraus. Der Liebhaber muss ausbaden, was der Akteur glaubt, sich und den anderen schuldig zu sein. Diesem temporären Verhältnis geht allerdings eine andere Geschichte, ein verborgener Vorgang voraus: derjenige, der die Schuldgefühle erzeugt und der mit der heimlichen Erfahrung doppelbödiger Gefühlsoberflächen zusammenhängt. Ihr Vorhandensein mit dem Mittel der "reinen" Entäußerung zu bekämpfen, bringt jedoch nur eine zeitweilige Entlastung und bleibt an seinen widersprüchlichen Ausgangspunkt fixiert. Tatsächlich gibt es sowieso keinen - und schon gar keinen konsequenten - Weg, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Jenseits der Konsequenz gibt es aber auch noch das Feld dessen, was man sich erlaubt. Dort sehen wir, wie Rüdiger Carl dem Ausbaden der Schuld im nächsten Moment einen erholsamen Gefühlsschwall folgen lässt und uns vorübergehend vom Schwergewicht der Bedeutungen entlastet. Nach dem Bruch mit der Harmonie folgt der Bruch mit der Disharmonie und lenkt die musikalische Wahrnehmung in einen Raum, in dem sich für die Beanspruchung ihrer Toleranz mit eindeutig doppelbödigen Gefühlen belohnt wird. Die Kombinatorik des "Book" folgt dem Prinzip wechselseitiger Relativierung und offener Ambiguität. Gegen die Erwartung eines in sich geschlossenen musikalischen Systems präsentiert es ein Tableau jenseits von gut und böse, eine Sammlung relativer Motive, die sich unter der Hand gerne mit einer Mischung aus Unschuld und Dreistigkeit verbinden.

Auf den ersten Blick handelt es sich um ein musikalisches Familienalbum, mit gemeinsamen Ausflügen in die Wildnis, konzentriertem Gedankenaustausch, lustig intensiven Partys, besinnlichen Momenten mit den Haustieren am Kamin usw., die Stunden, die man allein verbringt und die in Gesellschaft. Eine Sammlung verstreuter, bruchstückhafter Geschichten aus einem über zwanzig Jahre umfassenden Zeitraum: das und das gab es auch noch, und es hätte auch noch anders aussehen können. Die Akteure wechseln und kehren wieder und das Ergebnis ist entsprechend immer unterschiedlich oder vergleichbar, doch nach einigem Reinhören rücken die jeweils konkreten Situationen in einen weiteren Zusammenhang. Dieser liegt in einer über die Absicht des Moments hinausgehenden Sinn-Verschiebung, die eine diffuse Spannung herstellt: was gerade passiert, kann sich seines Status eigentlich nicht sicher sein. Konkrete Anforderungen können zwar leicht erfüllt werden, bleiben aber gleichzeitig ein Definitionsproblem. Modulare Blöcke sind festgelegt, aber es ist nicht vorgegeben, wie sie genau ausgefüllt werden. Komponierte Passagen werden dezent ausgeführt, aber ihr Sinn ist nicht selbstverständlich. Die Freiheit der Improvisation ist in Wirklichkeit vom ersten Ton an relativ.

Das hierfür verantwortliche Element ist sozusagen das Andere. Konkret besteht dieses Andere z. B. in den verschiedenen aufgegriffenen nostalgischen oder avantgardistischen Vorbildern, die hier nicht nur anders klingen, sondern sich mit den jeweiligen Stücken so verbinden, dass diese in sich selbst anders erscheinen. Die Differenz ist oft hauchdünn, so dass einzelne Stücke wie zwei übereinander gelegene und kaum unterscheidbare Folien funktionieren, sie sich doch nicht berühren. Unter Umständen verschwinden die Vorbilder aber auch völlig aus dem sichtbaren Bereich, werden durch Klangausbrüche zugedeckt oder verbergen sich in der offenen Entscheidung für den nächsten Schritt. Zwischen dem aktuellen Geschehen und dem Vorbild bildet sich ein Zwischenraum, der in seiner konkreten Bedeutung ungeklärt bleibt, ein Raum eines ungefähren Wagnisses, der eine innere Verdopplung erzeugt und gleichzeitig eine Ebene, auf der die Musik in eine sich beobachtende Relation zu sich selbst tritt. Sie präsentiert eine bestimmte musikalische Form, ist aber nicht mit ihr identisch.

Das zweite Andere sind die Irritationen und Zufälligkeiten, die in das üblicherweise geschlossene System der Musik hineinspielen, die Außengeräusche, Nebengeräusche, Resonanzen, alle jene Momente des Äußeren und des realen Raums, die - in ihren Implikationen ebenso unerschließbar wie die Geschichte, auf die man zurückgreift - den unhintergehbaren Horizont des musikalischen Handelns bilden. Sie sind nicht definiert als Teil des musikalischen Systems, sondern als präsenter Außenraum, der die eigene Position in der Kontingenz ihrer Umgebung bestimmt. So wird in einem Stück wie "Saints" schon mit dem Klang des alten Klaviers die Ebene der Musik über die geradezu hörbar unabschließbaren Momente ihrer (privaten) Umgebung relativiert, was durch die suchende, unperfekte und so in eine Art intime Distanz zu sich selbst tretende Interpretation, der wiederum eine weitere Folie, eine bestimmte Spielweise von Thelonious Monk, unterlegt ist, noch weiter getrieben wird.

Manchmals werden diese Nebenwelten sogar zu einem unmittelbar tragenden Faktor der Musik und aus der Tiefebene des anarchisch Körperlichen vergnügt ins Zentrum des Geschehens hochgespült, wie bereits beim ersten Stück der September Band, wo der musikalische Gestus des Vorwärtsschreitens durch den ihm widersprechenden Gestus grunzender oder folkloristisch anheimelnder Klangerzeuger (Daxophon und Akkordeon) sogleich im fröhlich Absurden mündet. Dazu gehören auch die Billigklänge verrückt spielender Spielzeugelektronik, denen sich die geniale Dilettantenband Jailhouse hingibt, oder die absonderliche Umkehrung, in der das Gluckern eines Schwarzwaldbachs - in einer imaginären Beziehung zu einer berühmten Kasseler Wasserorgel - den rhythmischen Background für einen ikonenhaften Walzer herstellt und dabei zur Coda der ganzen Sammlung wird.

Bleiben noch: die Anderen (einschließlich man selbst). Tatsächlich dreht es sich hier um Kommunikation, Handeln, mögliche Ebenen der Vermittlung und des Kontakts. Doch das Prinzip der Autorschaft (Komposition) und das Prinzip der in blindem Verstehen verbundenen Gemeinschaft (Improvisation), zwei mögliche Modelle für eindeutige Beziehungen, lösen sich auf zugunsten eines dritten, eigentlich unmöglichen, zumindest nicht-linearen Prinzips, in dem der Kommunikationspartner einem wie auch immer bestimmten strukturellen System unterworfen ist, ohne diesem wirklich zu unterliegen und ihm im engeren Sinne zu entsprechen. Die Struktur definiert auch hier einen Kommunikationszwischenraum, in dem die Spannung zwischen den Festlegungen, Vorgaben und dem im Geschehen doch nie festlegbaren, fixierbaren Anderen entsteht. Sein Funktionieren verdankt sich dem Umstand, dass dieses "Verfahren" gleichzeitig mit Ernst und Unernst betrieben wird. Es bildet kein Dogma, entsteht aber auch nicht aus dem Zufall, die Arrangements laufen darauf hinaus, die Distanz zu wahren als Voraussetzung, sie auch überschreiten zu können. Das Peitschen Knallen in der Pariser Kinderspielzimmerimprovisation (CD1, 16) kommt nicht von ungefähr, bleibt aber eingebunden in die Inszenierung. Die Autorschaft Rüdiger Carl induziert Emotionen, die auf einer verschobenen Ebene real werden und in das Geschehen zurückfließen.

Das Wechselspiel von kontrollierendem Rahmen und dem was innerhalb dieses Rahmens aus der Kontrollierbarkeit wieder heraustritt, markiert zwischen den Beteiligten einen Freiraum, in dem sich die (insgeheime) Kommunikation in der Einnahme unterschiedlicher Möglichkeitsorte vollzieht. Diese sind emotional besetzt, gewinnen ihre Verfügbarkeit aber erst durch ihre Einbindung in eine Kombinatorik, die einerseits als konkretes Verfahren die jeweiligen musikalischen Spielräume limitiert, dann aber im munteren Kombinieren und Wechseln zwischen unterschiedlicher musikalischer und Außermusikalischen "Szenen", der Hingabe an die Doppelbödigkeit und dem Vergnügen am Dubiosen, alle Optionen wieder öffnet.

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