FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

OWN 90009 (CD 3)

Interview Andreas Kallfelz mit Rüdiger Carl

 

AK: Was war die Absicht, der Hintergedanke bei dem Projekt "Virtual COWWS"?

RC: Wir hatten über fast zehn Jahre das Klangspektrum des Quintetts in die verschiedensten Richtungen ausprobiert und auch das Potential der einzelnen Musiker ziemlich ausgelotet, um an die Dinge zu kommen, die uns vorschwebten. Nun hatte ich mit einem mal eine Vorstellung von etwas im Kopf, bei der ich zunächst sehr im Unklaren war, wie ich da vorgehen sollte, denn ich konnte mir das weder ausgeschrieben auf Papier noch improvisiert denken. Also musste ich eine Vorgehensweise finden, mit der sich das umsetzen ließe.

AK: Hast Du also erst vom klanglichen Ergebnis und weniger vom Verfahren aus gedacht?

RC: Ich hatte tatsächlich das Ergebnis sozusagen bereits im Ohr, wie es übrigens öfter in der Entwicklungsgeschichte von COWWS gewesen ist, bevor ich mir Verfahren oder Spielanleitungen überlegt habe.

AK: Und es sollte sich in einer Art Zwischenraum zwischen Improvisation und Komposition bewegen?

RC: Es war von mir auch früher schon versucht worden, mit dem Quintett Musik zu erzeugen, die diesen spezifischen Schub, mit dem Improvisation meistens einhergeht, bricht und hinterfragt. Ich war interessiert improvisierte Musik mit einem kühlen Kopf und einer gewissen Distanziertheit zusammenzubringen. In die gleiche Richtung gingen übrigens bereits die ersten beiden langen Stücke, die das Quintett 1987 live eingespielt hat, z. B. bei der Aufführung von "Whirls" hatte ich den Mitspielern gesagt, versucht nicht aufeinander zu hören. Das meinte als Ergebnis eigentlich etwas ähnliches wie "Virtual COWWS", war allerdings in dieser Konsequenz gar nicht realisierbar.

AK: Und dann hast Du eine bestimmte Struktur entwickelt oder auch teilweise Strukturen übernommen ocker angewandt?

RC: Ich hatte mir vorgenommen, acht Stücke zu machen, vier mal 8 Minuten und vier mal 10 Minuten, das entspricht etwa einer CD-Länge. Das ging dann auch erst mal ganz abstrakt weiter. Ich habe mir in der Stille jeweils Strecken von acht oder zehn Minuten vorgestellt und meiner Assistentin Zeichen gegeben, und sie hat von jeder Unterbrechung und deren Länge die Zeit genommen. Am Ende hatte ich lauter willkürlich zustande gekommene Zahlenwerte, die Aktivzeiten für die einzelnen Instrumente bestimmen sollten. Anschließend wurde das graphisch notiert, die Stimmen übereinander gelegt, noch ein bisschen umgestellt und gedreht, das war dann der Ausgangspunkt.
Später habe ich mir überlegt, zwei befreundeten Zahlenhändlern auch mal solch eine Arbeit anzudienen, und dann sind die beiden Dinge entstanden, die Ludwig Gosewitz und Meuser gemacht haben. Meuser hat solche Zahlenreihen ausgedacht, die zwar logisch, aber im Ergebnis merkwürdig holprig sind. Und Ludwig Gosewitz, der immer in so einem astrologischen Bereich mit Zahlen umgegangen ist, hat eine Sinuskurvenberechnung von einem sechszackigen Stern zugrunde gelegt und mir dann seine Zahlen und die dazugehörigen Zeichnungen geschickt.

AK: Bildet die daraus entstehende Struktur mehr als Aktivzeiten, also Zeitintervalle, sondern auch bestimmte Vorgaben über Parameter wie Tempo, Dynamik oder ähnliches?

RC: Das Material war erst einmal ganz neutral. Ich habe mir die Bewegung lediglich ziemlich langsam vorgestellt, Klänge, die stehen und verharren, geschnitten und überdeckt von anderen Klängen, in einem nicht definierten Zeitverlauf. Es wurde von mir auch nicht so sehr als Musik gehört, mehr als Klänge, und auch nicht räumlich, sondern eher als lineare Blöcke und Abschnitte.
Bezeichnungen für die Spielweise gab es zwar, aber die waren sehr vage; da stand dann z. B. hysterisch, nervös, und woanders stand eisig, kalt, spröde oder wieder ruhig, teigig, äußerst langsame, schwere Bewegung, und es waren auch nie mehr als drei Worte, die ungefähr beschreiben sollten, worauf sich der Spieler einzulassen hätte.

AK: Und dann sind die einzelnen Musiker jeweils mit Vorgaben für diese acht Stücke ins Studio gegangen.

RC: Ja, das waren zwei Tage Studioarbeit im Radio DRS in Bern, die Musiker hatten vorher nichts gesehen, es war ja auch nicht viel zu sehen, nur Striche und Zeiteinheiten. Jeder Spieler war einzeln im Studio, ohne dass jemand dabei war außer dem Toningenieur, die anderen wussten auch nicht, was da gespielt worden war, und ich habe mit der Stoppuhr jeweils den Einsatz und das Ende gegeben. Die Situation war für alle ungewohnt, einzeln eingewinkt zu werden und dann mit äußerster Konzentration zu arbeiten, ohne zu wissen was kommt. Wir haben uns keine Unterbrechung erlaubt, das waren für jeden knapp zwei Stunden hintereinander, mit Atempausen natürlich. Die Restarbeit, genaue Pausen etc., habe ich später im Studio in Frankfurt gemacht. Zum Schluss sind es dann sieben Stücke geworden, sechs in der beschriebenen Art, und eins ist ein rein gelooptes, geschnittenes Stück aus speziell dafür eingespieltem Material.

AK: Wenn man die Sachen dann hört, hat man teilweise den Eindruck, dass wirklich zusammengespielt wird.

RC: Das mag sein, aber ich hatte wirklich nicht darauf hingearbeitet. Das liegt vielleicht eher daran, wie ein musikalisches Gedächtnis funktioniert, wie man z. B. eine Zusammengehörigkeit von Instrumentarium einfach schon im Kopf parat hält. Das Quintett hatte ja seine Klangeigenartigkeit, egal welches Motiv, ob man miteinander spielt oder einander ausweichen will oder ob man wie hier einem Zahlenspiel folgt, es ergibt sich sofort wieder eine typische COWWS-Textur.

AK: Wie haben dann die Beteiligten selber die Arbeit erlebt oder am Ende auch empfunden?

RC: Unterschiedlich, das sind ja auch ganz verschiedene Charaktere. Im Prinzip war es aber absolut ein Auftrag für Improvisatoren; das kann man sonst auch keinem zumuten, spiel mal 2 Sekunden eisig, 27 Sekunden polternde Klänge etc., und das in einem Durchgang zwei Stunden lang. Gleichzeitig war es eine ungewohnte Herausforderung für die Spieler, mal nicht das Solo zu spielen oder besonders architektonisch zu denken, sondern eigentlich mit einem Strich schon klarzukommen.

AK: Mehr oder weniger willkürliche Vorgaben, die dem Musiker dann aber noch einen weiten Freiraum offen lassen, hat auch John Cage schon zur Grundlage vieler Stücke gemacht.

RC: Ich habe Dir ja meinen leicht satirischen Arbeitstitel schon genannt, bevor ich das Projekt "Virtual COWWS" nannte, hieß es "50 Jahre Absichtslosigkeit". Es ist ja jetzt ungefähr ein halbes Jahrhundert her, dass Cage anfing, mit Auswürfen und Auspendeln Musikentscheidungen zu fällen. Nur sind meine Dinge doch anders, mehr an der Geschichte angelegt, an der ich beteiligt bin, d. h. das ganze Vorhaben und die Realisation hat unbedingt mit den Leuten zu tun gehabt, die das gespielt haben, und mit meiner Beziehung zu ihnen. Die Musiker, die Cage spielen sind im allgemeinen von vorneherein Interpretationskünstler, während diese hier keine Interpreten sind, die spielen zwar auch die 2 oder 47 Sekunden, aber das ist dann doch ihr eigener Stoff, und nicht von irgendjemand anders.

AK: Wie stellt sich die Produktion als Endpunkt der Arbeit des COWWS-Quintetts dar?

RC: Das sieht auf den ersten Blick vielleicht nach einer bierernsten Kopfarbeit aus, und tatsächlich war es ja auch meine bislang aufwendigste Angelegenheit mit all den Überlegungen und Bearbeitungen zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Fertigstellung. Aber ich sehe das doch mit der gleichen guten Portion Heiterkeit an wie die gesamte Geschichte des COWWS-Quintetts auch.
Und diese zehnjährige Zusammenarbeit war ja auch ein Phänomen, fünf ganz individuelle, spezielle und komplizierte Leute über so einen Zeitraum zusammenzuhalten und immer diesen Konsens über besonders musikalische Eigensinnigkeiten zu pflegen.

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