FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 8/9

Steve Lake

 

UNGEHEURE STURZSEEN, WÜTENDE WOGEN

2. JULI '88

Erst die Gesänge. Mir war, als hätte ich etwas Bedrohliches in diesen abgerissenen Silben vernommen. Vom Stamm gebissene Worte; Gewalt an den Wurzeln der Sprache ... Doch dann sagte jemand, die Musiker intonierten lediglich ein paar sumerische Kernsätze, die etwas mit - wie war das noch? - Stadtbeherrschern ("ensi"), uralten Flüssen und, nun ja, mit dergleichen zu tun hätten. Vielleicht war die Inkongruenz entschiedener Nichtmystiker wie Brötzmann und Bennink, die alles mögliche sangen, an sich schon bedrohlich. Jedenfalls begriffen wir, dass dieser düstere Singsang rituelle Bedeutung hatte. Er war eine feierliche Vorbereitung auf das Musikmachen, ein "Einstimmen" von Band und Zuhörerschaft, ein Mittel, uns daran zu erinnern, dass all dies - der abgedunkelte Saal, ein Musikpodium zum Levitieren, Instrumente, die bis zur Trancegrenze ertönen sollen - eine ernstere (und viel ältere) Praxis ist als bloßer Jazz. Cecil Taylor hat uns oft gesagt, seine Konzerte seien Versuche, urzeitliche Mächte einzufangen und nutzbar zu machen, eine Naturkraft zu werden. Ein unerreichbares Ziel, gibt er zu. (Aber ist irgendwer dem nähergekommen?)

Es war so: Sie kamen aus den schattigen Ecken der Kongresshalle geschlichen, klagend und klatschend, bis sie schließlich in Hörweite der Mikrophone der FMP waren. Improvisatoren von überall her - aus Ost- und Westdeutschland, Holland, England, Polen, Italien, Frankreich, Amerika-, gefolgt von dem Mann, der zuerst vor dreißig Jahren auf ihr Idiom (wenn man so sagen kann) gestoßen war. Cecil Taylor tat so, als versetzte er dem Konzertflügel, seinem nachgiebigen Gegner, ein paar Karatehiebe. Han Bennink hockte sich hinter das bescheidene, für den Abend gemietete Drumset, griff sich die Besen, ging los auf die Snare und dann ... Und dann verschwanden zwei Stunden. Die Musik war festnagelnd, fortreißend. Die Zuhörer wurden verzehrt.

Als die Saallichter angingen und ich widerstrebend in eine irdischere Wirklichkeit zurückkehrte, war ich ziemlich sicher, soeben die herrlichste Bigbandmusik der Post-Free-Ära erlebt zu haben.

Davon bin ich umso überzeugter, je öfter ich diese Stücke höre. Die Klarheit dieser Aufnahmen - ein Vorzug, dessen Taylors Werk sich nicht oft erfreute - erlaubt dem Zuhörer, tief in den Klang einzudringen, unter die gröberen Konturen zu gelangen, die Oberfläche zu durchstoßen. Man kann eintauchen in diese Musik, ihre Unterströmungen erkunden - oder ihren wütenden Wogen die Stirn bieten, zusehen, wie die ungeheuren Sturzseen sich berghoch aufbauen. (Aus jeder Perspektive ist es ein überwältigendes und demütigend machendes Erlebnis.) Der Wucht des Klanges ausgesetzt, dem elementaren Tosen, blicken die Musiker auf Taylors kompositorisches Material wie auf kursanzeigende Sterne, Verweisungszeichen.

Wie viel von dieser Musik ist geschrieben? Wie viel improvisiert? Taylor, der sorgsam mit Worten umgeht, würde die Bedeutung jedes dieser Ausdrücke in Frage stellen. In wegwerfendem Ton kann er "Komponist" sagen, dass es klingt wie "Diktator" oder "Größenwahnsinniger": "lch glaube nicht, dass ich je als ein Komponist angesehen werden möchte" (wobei er das Wort angeekelt ausspricht). Komponisten handeln mit Festgelegtem, Endgültigem. Taylors Werk, niemals "fertig ", wird stets wiedergeboren durch die Kreativität des Spielers, der den Mut aufbringt, es anzupacken. Vor langer Zeit nahm Cecil Taylor Ellington als ein Rollenvorbild, überzeugt von des großen Bandleaders Klugheit, das Wissen und den Charakter der Musiker als integrale Elemente in die Musik einfließen zu lassen. Taylor schreibt jedoch nicht so sehr im streng ellingtonschen Sinne für die Musiker, sondern er bietet Strukturgerüste an, innerhalb deren die Musiker ihre eigenen Beiträge steigern können. Für dieses Berliner Konzert sind den Bläsern und Streichern die Noten während einer Woche intensiven Übens gegeben worden. Das war schließlich ein Bündel Notationen von Melodien, riff-artigen Figuren und ungeheuren Akkorden, die nach freiem Ermessen von "Sektionsleitern" (oft waren das Peter van Bergen, Hannes Bauer, Tristan Honsinger) in die orchestrale Klangmasse getrieben werden konnten, ein hierarchisches, in der Hitze des Gefechts freundschaftlich über den Haufen geworfenes Arrangement. Besonders Enrico Rava, Evan Parker und Louis Sclavis erwiesen sich als geschickte Finder schneller Lösungen und halfen, den Klang zu schichten, wenn Solisten vorbeiflitzten - in ständiger Rotation, wie es schien - und komplexe Ruf-undAntwort-Ketten durch das Orchester prallten und hallten. Strukturelle Einzelheiten konnten aufgegeben, umgestellt oder verzögert werden, wenn die Schwungkraft der Musik andere Reaktionen erforderlich machte. Nur ein Beispiel: In Teil Zwei bildet das Duett zwischen Hannes Bauers Posaune (seinem wild motorischen, fast hechelnden Phrasieren) und Louis Sclavis' leidenschaftsloser Klarinette deshalb einen so dramatisch erleichternden Kontrast zu den Peitschenhieben von Taylors Klavier und Hampels Vibraphon, weil Evan Parker die anderen Bläser mit fuchtelnden Handzeichen in Schach gehalten und ihren Wiedereinsatz bis zum letzten Moment hinausgezögert hatte.

Solche Einzelheiten könnten noch des längeren ausgeführt werden und von der Dichte und Dynamik der Musik einiges erläutern, würden die durchgängige Brillanz des Werkes als Ganzem aber nicht wegerklären. Auch eine musikologische Analyse der Kompositionsmethode Taylors (wäre ich dazu befähigt) würde das nicht leisten. Große, frei über kochender Gruppenimprovisation schwebende Akkorde und hymnische Melodien, fast gradlinige Bigband-Brandung, kurze Erkundungen der Klangfarben neben Kammermusik... analoge Episoden ließen sich in den großangelegten Werken von einem Dutzend im Jazz wurzelnder Komponisten finden. Der Unterschied liegt in der Intention.

Die Weigerung dieser Musik, sich mit weniger als Transzendenz zu begnügen, bezeugt Taylors ungemeine Kraft als Katalysator, Inspirator und Ansporn. Sein Glaube an die Fähigkeit der Spieler, weit über die Noten hinauszugehen, verleiht eine Verantwortlichkeit, der man sich nicht leicht entziehen kann. Taylors Losung ist lange Zeit gewesen "Größe durch Beharrlichkeit", eine unablässige Herausforderung seiner selbst; eine Herausforderung, der gewachsen zu sein, jeder der Bigbandspieler versuchen muss. Jeder muss bemüht sein, zum Funktionieren dieser Musik ebensoviel beizutragen wie Taylor. Siebzehn Lebensgeschichten sind in ihr versammelt, ein Reichtum an Erfahrung, der durch aufgeklärte Führung zum vollsten Ausdruck gelangt.

Cecil Taylors Urteil?

"Wunderbar! Wunderbar!"

Wahrlich, das ist es.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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