FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 18

Bert Noglik

 

16. JULI '88

Konzentration und Freiheit. Begrifflichkeit und Intuition. Spontanes Sein und konstruktives Gestalten. Sinnlichkeit und Intellekt. Mit Wörtern wie diesen sind auseinander liegende Bereiche, wenn nicht gar gegensätzliche Pole bezeichnet. Das diskursive, mit der europäischen Kulturgeschichte verbundene Denken hat zu einer enorm differenzierten Weltsicht, allerdings auch zu einer Aufspaltung ganzheitlicher Erfahrung geführt: am Ende dessen sich Emotion, Vernunft und Genuss kaum mehr ohne Widersprüche in einem Zusammenhang denken.

Cecil Taylor entwickelt demgegenüber eine Komplexität von Lebenserfahrung und Lebenstätigkeit. Man mag die Komplexität seines Klavierspiels musikologisch analysieren - nicht weniger bedeutsam, vielleicht sogar entscheidend erweist sich seine Fähigkeit zur Integration kultureller Strömungen, die scheinbar weit auseinander liegen, aber derselben Quelle entspringen. Weltmusik im Sinne einer inszenierten oder konstruierten Zusammenführung unterschiedlicher Musikkulturen ist eine Fiktion. Cecil Taylors Klavierspiel, das die Definitionen in sich geschlossener Denksysteme überschreitet, ist eine Realität. Das Solokonzert, fast am Ende des Cecil Taylor Projektes '88 in Berlin, geriet zu einer nachhaltigen Lektion und zu einer unwiederholbaren Feier des Augenblicks.

Rhythmik, Melodik und Harmonik- Begriffe bzw. Ebenen der Vorstellung, die zur Erklärung von Musik beitragen sollen - verblassen im Prozess des Erlebens von Cecil Taylors Solospiel. Taylor führt zusammen, was oft funktional getrennt gedacht und analysiert wird. Taylors Klavierspiel ist eine poetische Erfahrung. Nur die Poesie vermag, jenseits der Regeln formaler Logik, mit Worten zu spielen - sinnlich und sinnvoll zugleich. So betrachtet, nimmt es nicht Wunder, dass sich der Musiker Cecil Taylor zuerst und vor allem als Poet begreift. Dichtung, das deutsche Wort für Poesie, deutet auf Verdichten, mithin auf Komplexität.

Avantgarde, was immer das sein mag, verbindet sich in der Kunst mehr und mehr mit Konzept. Die Lektion von Cecil Taylor besteht auch darin zu spielen. Keine Spur von Verspieltheit. Spielen als eine Möglichkeit, Leben zu äußern; spielen als ein Medium des Überlebens; spielen als ein Ausdruck der Lebenskraft. Physisches und Psychisches eben nicht mehr trennend, sondern verdichtend. Weder Konzept noch Spielerei. Bewegungen. Hin zum Wesentlichen.

Das Taylor-Solo-Konzert offenbarte ein Gefühl für den Fluss des Lebens, das sich mit der konventionellen Vorstellung von musikalischer Form nicht in Deckung bringen lässt. Taylor strukturiert die Ereignisse in der Zeit, entwickelt eine Bewegung aus der anderen, konstruiert keine Großform, sondern folgt intuitiv der Logik einer Verlaufsform. Prägnante Struktureinheiten - Intervalle, Motive, rhythmische Patterns oder musikalische Stimmungen - werden wiederholt, besser gesagt: vorangetrieben (denn in dieser, dem Augenblick folgenden Musik wiederholt sich nichts), verändert, kontrastiert, weitergeführt. Die Konstruktivität des Solospiels von Cecil Taylor wirkt weder ausgedacht noch zufällig. Auf die Gefahr des logischen Widerspruchs hin sei behauptet: Taylors Konstruktivität wirkt organisch.

Was Taylors Spiel vieldeutig erscheinen lässt, ist nicht nur die Schnelligkeit, sondern auch die Gleichzeitigkeit. Taylor kombiniert unterschiedliche Techniken (Single Notes, Läufe, Arpeggien, Blockakkorde usw.), unterschiedliche Tastaturbereiche / Registrierungen, unterschiedliche Tempi und unterschiedliche Anschlagsarten. Die Fülle des Geschehens lässt sich im Verlaufe des aktuellen Hörprozesses kaum mehr nach konventionellen Kriterien aufgliedern. Dennoch, das ist das Erstaunliche, ersteht eine Durchsichtigkeit, eine Klarheit des Sounds, die die Intention verdeutlicht: Individualität nicht zu vertuschen, sondern offen zu legen. Fragen nach dem Privatleben erscheinen unangebracht und sekundär angesichts uneingeschränkter Offenbarung der Persönlichkeit im Prozess des Spielens selbst.

Cecil Taylor transzendiert das Klavier. Anmerkungen zu diesem Solokonzert konnten Zuflucht in Analogien suchen. Nahe liegend wäre eine Analogie zu Perkussionsinstrumenten. Doch Taylor hat zu Recht betont: das Klavier ist ein Perkussionsinstrument. Ohne jeden Zweifel geht Taylor mit dem Klavier um wie mit einem Orchester - ein Kreativitätspotential, dessen Nutzung historisch auf Ellington zurückgeht. Eine weitere Assoziation, bei Cecil Taylor nahe liegend, führt hin zum Tanz. Taylor hat einmal gesagt, dass er virtuell in seinem Spiel die Sprünge der Tänzer mitverfolge. Diese Musik intensiv hörend, wird man in die physische Bewegung, in die Körpersprache einbezogen - in die Sprünge und in die Läufe, in die anhaltenden und weiter treibenden Bewegungen. Perkussion, orchestraler Zusammenklang, Tanz und Bewegung. Auch ein Bezug zum Stimmlichen wäre denkbar. Dialogisches zwischen den verschiedenen Lagen. Diskant und Bass oft gleichzeitig. Unterhaltungen. Chöre. Gesangsstimmen, mit- und hinzugedacht. Gesang als Musikalisierung von Poesie.

Immer wieder ein Stocken, das die Dynamik nur noch verstärkt; immer wieder eine Fundierung in der Basslage, eine starke Linke, freilich immer bezogen auf die freien Bewegungen der rechten Hand. Die Aufhebung des dualistischen Denkens in der intuitiv koordinierten Aktion zweier selbständiger Handel Die Versöhnung von rechter und linker Gehirnhälfte. Spontanes und Gedachtes im Einklang. Indianisch, afrikanisch, amerikanisch, europäisch, asiatisch - Beifügungen von Erfahrungen, die sich nicht mehr aufspalten lassen. Die Synopsis von New York aus, Brückenschlag in die Welt.

Konzert in Berlin am Sonnabend, den 16. Juli 1988, Hochsommer, fast am Ende des Taylor-Projektes, fast so etwas wie eine Zusammenfassung der musikalischen Ausdruckswelt von Cecil Taylor. Musik voller Entschlossenheit und doch zugleich auch (allen Klischeevorstellungen zum Trotz) außerordentlich sanfte Musik. Er spiele jetzt mehr aus einem Gefühl der Freude heraus, hatte mir Taylor gestanden. Auf Imagination angesprochen, sprach Taylor von Magic. Hier wenigstens greifen die Begriffe ineinander: der Imagination wohnt die Magic inne. Cecil Taylor hat davon gesprochen, dass die Improvisation den magischen Aufschwung unserer geistigen Fähigkeiten in den Zustand der Trance bedeute. Diese, das begriffliche Denken überschreitende Existenzweise, braucht die Aufmerksamkeit nicht herabzusetzen, vermag sie vielmehr zu steigern. Das Berliner Konzert gibt eine Ahnung davon: Klarheit, das Gefühl von etwas Leuchtendem, Integrität. - All das mag euphorisch klingen, so dass erklärend angefügt werden soll: es ist die Musik, die abheben lässt, keine Ideologie, kein Personenkult, keine hineininterpretierte Idee, No New Age.

Nun, nachdem das folgende bereits auf dem Papier steht, muss ich bekennen, dass mich unmittelbar nach dem Solokonzert Sprachlosigkeit befiel. Es war, wie Taylor selbst sagt, ein Zelebrieren des Lebens. Die Fülle des Lebens. Und, um noch einmal musikalische Begriffe in ihrer Sinndimension zu erweitern, noch ein Zitat von Cecil Taylor: Ich bin in Harmonie mit mir selbst. 16. Juli 1988 in Berlin. Die harte Realität nie vergessend: die Magic, die Konzentration, die verdammte Anstrengung und die Feier des Augenblicks, die Überfülle und die Sprachlosigkeit.

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