FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 34/35

Wolfgang Burde

 

1971, das war ein Jahr, in dem sich die Musiker des europäischen Free Jazz, die im Berliner Quartier Latin auftraten, gegen die berühmten amerikanischen Ensembles um Ornette Coleman, um den hinreißenden Don "Sugar Cane" Harris oder die neue Miles-Davis-Formation behaupten mussten, die in der Berliner Philharmonie aufgetreten waren. Aber das gelang den Jazz-Musikern um Peter Brötzmann damals mühelos, wie man im Berliner "Tagesspiegel" nachlesen konnte:

"Das Geheimnis dieses Jazz-Ensembles liegt in seinem differenzierten Artikulationsvermögen. Nur diese Musiker verstehen es, die Fans für einen gewissen Mangel an Swing zu entschädigen. Han Bennink beispielsweise, der ein Perkussions-Genie genannt zu werden verdient, überschüttete das Auditorium nicht nur mit orgiastischen Schlagzeug-Ausbrüchen, sondern ihm steht auch ein reiches, kammermusikalischer Wirkungen fähiges Schlagzeug zur Verfügung. Ob er nun einer Mundorgel farbige Klangbänder entlockt oder einem wie ein Lasso geschwungenen Gartenschlauch, ob er zum riesigen Alphorn greift oder zum afrikanischen Klavier, stets ist die Klangwirkung neu." Und über Peter Brötzmann konnte man Lesen: "Dieser Saxophonist begnügt sich nicht, wie die Mehrzahl seiner Free-Jazz-Kollegen, mit riesigen Klangexplosionen, mit Klangausschüttungen, die die Grenzen physischer Verausgabung streifen, sondern er verfügt heute genau so souverän über ein Repertoire an Formulierungen im anderen Extrem-Bereich: dem, des kaum mehr hörbaren und zarten. Und was beide, Bennink und Brötzmann, die großen BB's des Free Jazz, an Feeling, an Ausdrucksnuancen artikulieren, an Weltschöpferisch zusammenziehen, das ist nicht nur schiere Gegenwart, sondern genialisch in seiner geistesgegenwärtigen Attitüde."

Die große Aufbruchzeit des Free Jazz, die herrlich frischen Ausbrüche aus der Jazz-Konvention, die sich Globe Unity um Alex Schlippenbach oder Manfred Schoofs Ensembles im Verlauf der sechziger Jahre erlaubt hatten und die mit Brötzmanns Machine-Gun-Auftritt im Mai 1968 in Bremens "Lila Eule" in einem nicht mehr zu überbietenden bruitistischen Höhepunkt kulminierten, waren innerhalb weniger Jahre bereits differenziert worden. Was danach kam, war weiterstürmende Exploration, vor allem aber intensive Ausarbeitung des in mehreren Jahren eroberten Terrains, bis, ja bis das Willem Breuker Kollektief nach Berlin (1975) kam und mit ironisch zitierter Marschmusik oder Songs in "La Plagiata" völlig neue, den Jazz formal verfestigende Töne anschlug, Irène Schweizer mit weiblichen Prankenschlägen ziemIich herbe "WiIde Senoritas " (1976) an die Damen und Herren Jazz-Fans austeilte, Brötzmann zu einer reichen melodischen "Schwarzwaldfahrt" aufbrach oder gar zum Schein "Tschüs" sang oder das Grumpff-Ensemble Berlin erkundete. Nicht zu vergessen "Globe Unity", das in "Bavarian Calypso" (1975) wieder zu swingen begann und in "Pearls" (1975) erstmal mit Thelonious Monk kokettierte: Ruby my Dear. Und hatte nicht Brötzmann zusammen mit Fred Van Hove und Han Bennink bereits 1973 das "Einheitsfrontlied" intoniert - einer seit den sechziger Jahren immer noch unverwüstlich linksherum sich drehenden Spirale huldigend?

Das Jahr 1971 war also auch ein Turning point. Noch war man zwar ziemlich wild, noch saß den Musikern die Lust am Schrei locker in den Kehlen - der listig sein Publikum stets aufs neue durch Löwengebrüll überrumpelnde Han Bennink beweist es. Aber was Van Hove am Beginn der siebziger Jahre am Klavier zu artikulieren wagt - rasante Etüden, die an Chopins oder Liszts klaviertechnische Eskapaden erinnern oder an Art Tatums virtuose Kunst und was Van Hove an zarten Minimal Music Bändern ausspinnt - das hatte mit der ruppig-farbigen Cluster-Technik nur noch wenig gemein.

Was also schlug im Jahre 1971 an neuen musikalischen Erfahrungen so intensiv durch, dass es den eben zu sich selbst gekommenen Jazz allmählich aber spürbar veränderte? Wenn wir den neunminütigen Jazzprozess "Antwarrepe" (Van Hove) beispielsweise beobachten, ein Klangband der drei Bläser vor allem, das von Van Hove teils mit Minimal-Music-Formeln, teils mit tröpfelnden Einton-Akzenten kontrapunktiert wird, sind es unüberhörbar vor allem Erfahrungen mit außereuropäischer Musik, mit tibetanischer oder afrikanischer Bläsermusik, die damals möglich wurden. Solche Sound-Pattern werden hier dann freilich bald orgiastisch, im Stil der Kaputtspiel-Phase des Free Jazz aufgegriffen und vom Schlagzeug vehement attackiert. Und "Alberts" (Mangelsdorff) klingt über weite Strecken wie jene afrikanische oder südamerikanische Schlagzeugmusik der Xylophone oder klöppelnden gestimmten Blech-Trommeln, die uns damals faszinierten.

Noch lebt "The End" (Brötzmann) über weite Strecken von jenen sich bis in die Erschöpfung hinein verausgabenden großen Steigerungsformen. Aber "Florence Nightingale" ist ein hinreißendes Beispiel für eine neue Ökonomie und für das wache aufeinander Reagieren von vier Musikern im August 1971 im Quartier Latin zu Berlin: hybrid sich verausgabend oder behutsam einander belauernd, in Duetten zueinander findend oder jene phänomenale Balance zwischen den verschiedenen instrumentalen Zeitschichten haltend, der die Neue Musik in Kompositionen Nancarrows oder Ligetis bis heute nachstrebt: poly-rhythmische Strukturen zu komponieren, die übereinander geschichtet, gleichsam schwerelos werden und allmählich in den Klangraum abheben. Zeit wird hier zum Raum, sie vergisst ihr zeitliches, ihr prozesshaftes Wesen. Davon aber träumte im Grunde auch der traditionelle Jazz, der die messbare, die artikulierte Zeit durch off-beat-Phrasierung so durcheinander schüttelte, dass unsere Zeiterfahrung swinging wurde. Wie übrigens auch die des Jazzmusikers, der sich mehrere Zeitschichten unterschiedlicher Ablaufsgeschwindigkeit vorstellte und in ihnen sich zu formulieren versuchte. Abzuheben aber über alle traditionelle off-beat-Phrasierung und Erfahrung hinaus, das gelingt dem Quartett um Peter Brötzmann im Jahre 1971 unter dem erneuerten Gestirn des Free Jazz in diesen CD's immer wieder auf faszinierende Weise.

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