FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 36

Patrik Landolt

 

Gefragt nach seiner Tätigkeit, antwortet Hans Reichel behutsam: Gitarrenerfinder und Improvisator. Damit ist äußerste Offenheit formuliert und sind stilistische Schranken so tief wie möglich gehalten. Nichts kennzeichnet den Charakter der beiden hier dokumentierten Stücke und die Spielhaltung der beteiligten Musiker besser als diese knappe Äußerung: Gitarrenerfindung und Improvisation. Seit gut 20 Jahren bewegt sich der in Wuppertal wohnende Hans Reichel auf der Suche nach neuen Ausdrucksweisen und Klangwelten. Im Kreise der Musiker der Berliner Free Music Production fand er schon in den frühen 70er Jahren ein Umfeld Gleichgesinnter, die auf der Ebene der freien Improvisation arbeiteten und je auf ihre Art, entsprechend ihrem Instrument, Extreme in Material- und Klangbeschaffung entwickelten. Parallel zur Entwicklung in der Rockmusik, wo die Gitarre eine dominierende Rolle einnimmt, haben die Pioniere der Freemusic die Vorstellung, wie eine Gitarre klingen soll, verändert. Gitarren-Pioniere wie Jimi Hendrix und Sonny Sharrock oder in radikalerer Weise Derek Bailey, Keith Rowe, Hans Reichel, Fred Frith, später dann Henry Kaiser, Stephan Wittwer und Elliott Sharp setzten neue Standards. Sie veränderten das, was in der Poppublizistik als Sound bezeichnet wird, oder wie der Journalist Bert Noglik über Hans Reichel schrieb: Er hat die von der Gitarre bestehende Vorstellung nicht nur um neue Konstruktionen und Spieltechniken, sondern vor allem um neue Klangdimensionen bereichert. Dazu hat Reichel die entsprechenden Instrumente selber gebaut, eine ganze Reihe von eigenwilligen Gitarrentypen sind seine Erfindung. Gitarren auch, die ihm die Aufhebung der Funktionstrennung der Hände erlauben. Reichel selber hat einmal seine Werkzeuge, besser gesagt Spielzeuge (im wörtlichen Sinne), folgendermaßen beschrieben: Mobile Tonabnehmer, elektrisch rasierte Gitarren, vorwärts-rückwärts spielbare, korpuslose, 23saitige, 4hälsige, bundlose, vollbündige, hinter dem Steg zu spielende, zusammenklappbare usw. (das geht jetzt zu weit - der Schein trügt so wieso: Ich bin kein ,Bastler', sondern Musiker. Resultate von Reichels Musikalität sind nicht nur auf einer ganzen Serie von Solo-Platten dokumentiert, sondern auch im Spiel mit Ensembles und auf mehreren Duo-Produktionen.

Es ist eine Wahlverwandtschaft, die Hans Reichel mit Fred Frith verbindet.

Wie Reichel arbeitet Fred Frith seit den frühen 70er Jahren an der Erweiterung der Klangmöglichkeiten der Gitarre. Fasziniert von dem, was John Cage in Silence über die Befreiung des Klanges schrieb, und beeinflusst von der Art und Weise, wie Frank Zappa mit der sich neu entwickeInden Studiotechnik umging, erarbeitete Fred Frith im Umfeld der britischen Rockszene ein neues Verständnis vom GitarrenspieI. Schon 1974 legte er seine Gitarren auf einen Tisch oder seine Knie, weil er, wie er betont, die Gitarre immer weniger als ein Instrument, denn als eine ll von Sounds benutzt. Frith: Die Gitarre auf dem Tisch bietet mir die Möglichkeit, sie vielseitig zu präparieren. Wie Hans Reichel nimmt Fred Frith die grenzenlosen Möglichkeiten, Saiten über ein Holz zu spannen, wahr und ergänzt somit die konventioneIlen Gitarren- und Violinklänge mit denen von selbstgebauten Saiteninstrumenten. Auch das Transzendieren und Überspielen von stilistischen Grenzen verbindet die beiden Gitarristen. Frith, der lachende Außenseiter der Independent-Rockszene, liebt die freie Improvisation ebenso sehr wie er die von verschiedenster Folkmusic beeinflusste Rockmusik mag.

Es gab während den letzten 20 Jahren immer wieder Kontakte und Berührungspunkte zwischen den beiden Gitarristen. 1973 lud Fred Frith den Wuppertaler ein, an seinem Plattenprojekt Guitar Solos II mit Improvisationen teilzunehmen. Die Platte, auf der auch Solos von Derek Bailey und G. F. Fitzgerald zu hören sind, ist bei Virgin Records erschienen und heute leider vergriffen. Anfangs der 80er Jahre spieIten Reichel und Frith an den morgendlichen Projekten des Moers-Festivals. 1987, als Hans Reichel ein halbes Jahr in Tokyo wohnte, lernten sich die beiden Musiker besser kennen, sie gaben erste Duo-Konzerte und beschlossen, eine USA-Tournee zu machen. Die Tour, die im Herbst 1987 stattfand und während 6 Wochen in gut 30 Städte führte, wurde dank Fred Frith' Popularität in der US-amerikanischen Pop-Szene zu einem für Hans Reichel noch nie erIebten Erfolg: Volle Konzertsäle, begeistertes Publikum und der Jubel der Musikpresse. Drei Jahre später kam es zu einer weiteren Begegnung, diesmal in Europa, in der Berliner Akademie der Künste, organisiert von der Free Music Production. Die Duo-Improvisation Stop Complaining dokumentiert einen Ausschnitt aus diesem Konzert.

Kazuhisa Uchihashi, geboren in Osaka, Japan, gut dreißigjährig, kann schon zu einer jüngeren Generation Improvisierender Musiker gezählt werden. Seine musikalischen Wurzeln nennt er Pop'n'Roll. Seit 1983 beschäftigt er sich intensiv mit frei improvisierter Musik, experimentiert mit den technischen Möglichkeiten der heutigen E-Gitarre und versucht die verschiedenen Effekte in den improvisatorischen Prozess einzubeziehen. Uchihashi machte sich in Japan einen Namen mit Konzerten mit Jazzmusikern wie Barre Phillips, John Lindberg, Kazutoki Umezu, Keizo Inoue, Wädi Gysi und mit eigenen Rockbands wie Rhythmania, die 1990 auch den Sprung nach New York schaffte. Hans Reichel lernte Kazuhisa Uchihashi bei einer Session in Kyoto kennen und fand Interesse an seiner, wie Reichel sagt, außergewöhnlich musikalischen und kooperativen Spielweise. Ende Januar 1991 fand im kleinen Club Big Apple in Kobe, Japan, ein erstes Duo-Konzert statt. Der Auftritt wurde mit einem einfachen Stereo-Mikrophon mit Reichels DAT-Walkman mitgeschnitten. 35 Minuten davon sind auf dieser CD mit dem Titel Sundown veröffentlicht. (Der Originaltitel "Shanghaied on Tor Road" wurde später für zu lang befunden.)

SpieIlust und kommunikative Dichte charakterisieren die Aufnahmen mit Hans Reichel. Es geht mir nicht um eine homogene Musik, sagt Reichel zur Improvisation. Es ist wie ein Ping-Pong Spiel. Es passiert manchmal, dass wir auch gegeneinander spielen. Wir machen das aber wohlwollend, also nicht verkniffen. So eine Art Spaß. Wir wollen uns etwas entgegenhalten. Spielend wird frei assoziiert, schnell reagiert, sangliche Melodien, rockige ExpIosionen, Geräusche und Materialtrümmer verschiedenster Herkunft werden eloquent zu neuen Phantasiegebilden zusammen gewoben.

Ein Jazzkritiker nannte Reichel einst einen Klassiker des Individualismus, was nur die eine Hälfte dieses eigensinnigen KlangkünstIers und Tonphantasten trifft. Kompromissloser Individualismus und der Hang zu uneingeschränkter Selbstbestimmung sind Voraussetzung für seine musikalische kommunikative Kompetenz und seine Fähigkeit zur großen Kunst des Duo-SpieIs.

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