FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 38

Markus Müller

 

seeker of truth
follow no path
all paths lead where
truth is here
e.e. cummings

When The Sun Is Out You Don't See Stars, oder? Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss fand heraus, dass früher Seefahrer unserer Zivilisation in der Lage waren, Planeten bei vollem Tageslicht wahrzunehmen. Das ist für uns heute und nicht nur für uns, sondern wohl auch für Berufsastronomen, eine schier unvorstellbare Leistung. Das Beispiel zeigt aber auch, dass wir im Laufe der Entwicklungen der letzten Jahre bestimmte Wahrnehmungsfähigkeiten, die in uns stecken, verlernt haben. In der Musik von Lüdi-Kowald-Morris-Namtchylak, geht es, wie in dem voran stehenden Gedicht von e.e. cummings, darum, was da ist und es geht auch darum zu erkennen, was da ist also letztlich darum, in uns steckende Wahrnehmungsfähigkeiten (im weitesten Sinne) zu reaktivieren.

Es gibt grundsätzlich verschiedene Wege für Forschungsreisende ins eigene Hier und Jetzt. Im Bereich der bildlichen Darstellung gibt es die wissenschaftliche Methode der so genannten Ikonologie. Aby Warburg (Hamburg, 1866-1929) hat in der (von ihm so genannten) kritischen Ikonologie die Möglichkeit entwickelt, Bilder (die auf ihren Ursprung in den Bildern des klassischen Altertums hin untersucht werden) so zu untersuchen, dass authentische Positionen und Bildinhalte, die durch Überlieferung verdeckt und verfälscht worden sind, wieder freigelegt wurden. Konkret hat Warburg z. B. 1896 eine Reise nach Oraibi, Arizona, unternommen, um dort anhand des Schlangentanzes der Puebloindianer Fragen des Verhältnisses von Darstellender und Bildender Kunst zu untersuchen. Er schrieb später (1923) über diesen Aufenthalt in Oraibi: ,,lch ahnte noch nicht, dass mir aus dieser amerikanischen Reise eben der organische Zusammenhang zwischen Kunst und Religion der primitiven Völker so klar werden wurde, dass ich die Identität oder die Unzerstörbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt, so deutliche schaute, so dass ich ihn als Organ ebenso in der Kultur der florentinischen Frührenaissance wie später in der deutschen Reformation herausstellen konnte." Warburg stellte sich die Frage: Wie entstehen die sprachlichen oder bildlichen Ausdrucke, nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt, bewusst oder unbewusst, werden sie im Archiv des Gedächtnisses aufbewahrt und gibt es Gesetze nach denen sie sich niederschlagen und wieder herausdringen? Er untersuchte diese Frage unter anderem im Rahmen einer Sammlung, im Rahmen des Bilderatlasses.

Die Frage, die sich Warburg für sprachliche und bildliche Ausdrucke stellte, stellt sich der Hörer von When The Sun is Out You Don't See Stars für den Bereich der musikalischen Ausdrucke. Denn dieser Hörer hört einen Klangatlas. Er hört einen Saxophonisten aus der Schweiz, einen Bassisten aus Wuppertal, einen Kornettisten aus Nordamerika und eine Sängerin aus Tuwa. Das an sich ist schon eine kleine feuilletonistische Sensation und zu dieser Sensation gehört zwangsläufig die Idee der Weltmusik. Wenn man jedoch der Meinung ist, dass Weltmusik oft nichts anderes als die Fortsetzung des Imperialismus mit kulturdiktatorischen Mitteln ist (Beispiel: angloamerikanischer Beat der von Tablas und einer Shakuhachi umspielt wird) dann ist When The Sun is Out You Don't See Stars Weltmusik in einem ganz anderen Sinne. Der Hörer hört nämlich vier Musiker, die selbstverständlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und das sich aus diesen unterschiedlichen Erfahrungen (und das ist nicht mehr selbstverständlich) auch unterschiedliche musikalische Positionen entwickelt haben. Jede dieser Positionen ließe sich verallgemeinernd beschreiben. Da ist die Position Werner Lüdis, sprich die Tradition der europäischen Freien Improvisation. Butch Morris, der mitten im Zeitalter der allgemeinen Beschleunigung die Ruhe findet Ellington zu reflektieren. Peter Kowald, Weltreisender in Sachen Bass. Und Sainkho Namtchylak, eine Sängerin die als Geheimtipp gehandelt wird und deren Großeltern noch Nomaden in der Mongolei waren. Wesentlich ist, dass jede dieser hier oberflächlich berührten Positionen sich als authentischer und selbstbewusster Ausdruck in der Produktion der CD hören lässt. Man möchte meinen, dass das Resultat einer Zusammenarbeit auf der Basis so verschiedener Voraussetzungen entweder Chaos oder ermüdende Routineabwicklung oder eben Weltmusik im oben verworfenen Sinne ist. Tatsächlich ist das Resultat nichts von alledem, es ist mehr, weil es weniger ist. Der Hörer hört' wie der Atem die Ursprünglichste aller Musik macht, eine Musik, die jenseits aller geographischen Grenzen Bedeutung hat. Er hört wie es ist, wenn vier Musiker ihr Ding machen und dieses Ding alle vier Musiker gleichberechtigt vor stellt. Er hört die Schönheit der Fremde und die. Fremde der Nähe. Er hört (und hier appelliere ich an ihr Assoziationsvermögen, werter Leser/Hörer!) zum Beispiel die Erweiterung des Saxophonbegriffs, tibetanischen Bassbrumm, die Geschichte des Blues in der Tradition John Lee Hookers, Rex Stewarts und Miles Davis' und die Weite einer Landschaft sanfter, grüner Hügel und satter Wiesen, in denen, schon von weitem sichtbar, eine Urga steckt. Und er hört, was zwischen diesen Klängen klingt: die Stille, er hört- sich selbst. Und das ist die eigentliche Sensation.

In dem Moment, in dem ich mich selbst gehört habe, erinnerte ich mich eines Gespraches mit Kowald über den Maler Cy Twombly und einen Aufsatz den Roland Barthes zu Twombly geschrieben hat: "...Twombly (schreibt Barthes) möbliert sein Rechteck (seine Leinwand) nach dem Prinzip des Raren, d. h. des Versprengten. Dieser Begriff ist wesentlich in der japanischen Ästhetik, die die kantischen Kategorien des Raumes und der Zeit nicht kennt, sondern die subtilere des Intervalls (japanisch: Ma). Das japanische Ma ist im Grunde das lateinische rarum, und das ist die Kunst von Twombly (und das ist die Kunst der hier beschriebenen Musik). Im Grunde sind die Leinwande Twomblys große mediterrane Zimmer, warm und licht durch flutet, mit versprengten Elementen . . . Die Bilder Twomblys produzieren . . . einen Effekt. Dieses Wort ist hier in dem sehr technischen Sinn zu verstehen, den es in den französischen Literaturschulen der letzten Jahrhundertwende . . . hatte. Der Effekt ist ein . . . Gesamteindruck - ein höchst sinnlicher und zumeist visueller (hier akustischer) Eindruck. Das ist banal. Aber das Eigentümliche des Effektes besteht darin, dass seine Gesamtheit nicht wirklich zerlegt werden kann: man kann ihn nicht auf eine Summe lokalisierbarer Details reduzieren . . . Der Effekt ist also kein rhetorischer Trick: er ist eine tatsächliche Kategorie der Empfindung, die durch folgendes Paradox definiert ist: unzerlegbare Einheit des Eindrucks (der Botschaft) und Komplexität der Ursachen, der Elemente."

Genau diesen Paradox erleben Sie, werter Leser/Hörer. So sehr Sie auch Ihr Assoziationsvermögen anstrengen, Sie mögen der Komplexität der Ursachen, der kleinsten klanglichen Splitter noch so sehr auf der Spur sein, Sie erfahren doch die unzerlegbare Einheit des Eindrucks. Und dieser Eindruck berührt derartig ursprüngliche Spuren im Archiv Ihres Gedächtnisses, dass das vermeintliche Freie des hier gehörten Improvisierens in Frage gestellt werden muss. Eine Musik, die so deutlich aus einem interkulturellen und zeitlich nicht einzugrenzenden Klangatlas schöpft, ist nicht wirklich frei. Sie berührt vielmehr etwas, das sich wahrscheinlich nicht nur als Spur im Gedächtnis der Musiker, sondern eben auch in Ihrem und in dem Gedächtnis vieler anderer Hörer archiviert hat. Diese Qualität ist zugleich die neue und nächste Dimension der improvisierten Musik überhaupt. Wenn Diedrichsen schreibt, das der Unterschied zwischen Kunst(E)- und Unterhaltungsmusik ist, dass Kunstmusik ,,. . . von ihrem Publikum Spezialisierung verlangt . . ."und Popmusik ,,. . . das nicht tut . . ." und daraus schließt, dass es, weil z. B. Popmusik heute auch von Spezialisten gehört wird, eine Musik geben kann, die beides ist, dann ist When The Sun Is Out You Don't See Stars nicht nur beides, diese Musik ist auch ein Drittes. Diese Musik lässt etwas klingen, was wir alle wahrnehmen. Diese Musik steckt in uns, wir können mit ihrer HiIfe etwas, dass in uns ist, reaktivieren. Das klingt so einfach und ist doch unendlich schwierig.

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