FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 48

Joseph Chonto

 

KULTURELLER VÖLKERMORD IN AMERIKA:
DIE UNTERDRÜCKUNG UND EINSCHRÄNKUNG
SCHWARZER KLASSISCHER Musik
(Bekannt auch als Jazz)

Damit das gleich klar ist: über Dinge wie Noten, Rhythmen, Harmonien der Musik auf dieser Scheibe werde ich nichts sagen. Das Wesen dieser Musik liegt weit jenseits solcher grundlegenden Begriffe, und wer schon so hip war, diese CD zu kaufen, braucht wahrscheinlich ohnehin keine Anweisungen, um zu würdigen, wie überaus wunderbar diese Musik ist.

Wichtig anzumerken ist jedoch, dass diese FMP-Aufnahme von Charles Gayle die erste ist, die seit vier Jahren herauskommt, und erst die vierte, die überhaupt von ihm herauskommt. (Die ersten drei sind die Silkheart-Platten, die alle 1988 innerhalb von vier Tagen aufgenommen wurden. Ebenfalls wunderbar und sehr zu empfehlen, wie ich hinzufügen möchte.) Des Weiteren ist anzumerken, dass bezeichnenderweise FMP ein deutsches Label ist; und Silkheart ist eine schwedische Firma. Deswegen also die Frage: Wie kommt es dass Charles Gayle - ein amerikanischer Musiker, der auf höchstem Niveau eine Musik spielt, die das amerikanische Kultursystem nur ungern als "Amerikas einzigen originalen Beitrag zu den Künsten" anerkennt - von keiner amerikanischen Firma auch nur eine Chance angeboten wurde aufzunehmen, und dass seine öffentlichen Auftritte fast ausschließlich auf die Straßen von New York und eine gelegentliche Montagnacht in der Knitting Factory beschränkt sind? Warum ist Charles Gayle zu bestimmten Zeiten seines Lebens obdachlos gewesen? Warum muss er sich herumbalgen, um gerade genug Arbeit zu kriegen, dass er sich erhalten kann? 1991, in einem Artikel von Francis Davis in der Village Voice, ließ Gayle wissen, dass er durch "Spielen auf den Straßen gerade genug Geld für eine Mahlzeit am Tag" verdiene, doch dies sei "die einzige ehrliche Alternative für einen schwarzen Musiker". Warum?

Was ist los mit Amerika - einem Land, das sich als "führend in der freien Welt", als "Land der Freiheit" und "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" anpreist -, dass die freieste und befreiteste Musik praktisch keine Möglichkeiten bekommt? Die Antwort liegt in der immanent rassistischen kulturellen Einstellung und Machtstruktur und in der Tatsache, dass die Musik, die die Herren Gayle, Parker und Ali spielen, eine hochgradig selbst bestimmte Musik ist, per definitionem genau das, wovor die amerikanische, weiße, kolonialistische Machtstruktur am meisten Schiss hat. (Man kann sicher sein, dass Amerika, bei seiner gut dokumentierten Geschichte des Niederwerfens jeder ernsthaften Bewegung der Selbstbestimmung außerhalb seiner Grenzen, genauso daran arbeitet, jede einheimische Tendenz zur Selbstbestimmung zu ersticken).

Was der Machtstruktur solche Angst vor der Musik einflößt, ist, dass sie eine dynamische, vereinigende Kraft ist, die nicht nur schön anzuhören ist, sondern auch das Bewusstsein des Zuhörers für das erweitert, was es bedeutet, ein menschliches Wesen zu sein - mit allem, was daraus folgt. So war Ellington beispielsweise der erste Komponist, der erkannte, dass diejenigen, die da mit ihren Instrumenten auf ihren Stühlen saßen menschliche Wesen waren - entwickelte menschliche Individuen. Seine Kompositionen berücksichtigten folglich die Stärken und Schwächen des einzelnen Musikers. Er war der erste wirklich demokratische Komponist und in diesem Sinne der erste post-westliche Komponist. Und wenn man Ellingtons Begriff von dem, was ein Orchester ausmacht, auf die gesellschaftliche Ebene überträgt, dann ist das für die weiße Machtstruktur erschreckend, denn es bedeutet, dass sie die Tatsache berücksichtigen muss, dass hinter dieser Maschine oder hinter diesem Lenkrad eines Busses oder in dieser Schlange der Arbeitslosen nicht bloß ein Zahnrad der ungeheuren Maschine des nationalen Bruttosozialprodukts steht, sondern ein menschliches Wesen, das elementare Gegenleistung verdient, wie Gesundheitsfürsorge, eine anständige Wohnung, Nahrung, Freizeit usw.

Gayle, Parker und Ali spielen in einem Kontext, der eine natürliche Entwicklung von Ellingtons Konzept ist (welches seinerseits eine Entwicklung der schwarzen Musiktradition vor ihm war), wobei jeder einzelne sein ganzes musikalisches Selbst frei und spontan einbringt und zugleich die ästhetischen Erfordernisse der Komposition berücksichtigt, so dass jeder Beitrag und jede Reaktion mit denen der anderen zu einem vereinten harmonischen Ganzen verschmilzt; zu einer geistigen Einheit und geistigen Ganzheit, worum es schließlich geht in der Musik.

Es ist bemerkenswert, wie die Methodologie verschiedener Musiken die gesellschaftlichen Orientiertheiten der Zeiten widerspiegelt. Die klassische Musik des Westens wurde beispielsweise von einem Beethoven oder Mozart oder Vivaldi komponiert, wurde einem Dirigenten übergeben, der eine Gruppe von Musikern um sich scharte, die die vorgeschriebenen Lutscher auf dem Notenpapier pflichtgemäß umsetzten wie Musik machende Maschinen. Im Grunde eine Situation, über die, auf eine gesellschaftliche Ebene übertragen, Hitler wie Ronald Reagan froh gewesen wären. Und umgekehrt, wie die Methodologie von Gayle, Parker und Ali - bei der jeder einzelne sensibel auf seine eigenen Bedürfnisse eingeht und zugleich ebenso sensibel auf die Bedürfnisse des Kollektivs reagiert-, übertragen auf eine gesellschaftliche Ebene, die ist, die Marx, Jefferson, Guevara, Schweizer, Mandela und wahrscheinlich die ganze Menschheit zu erreichen hofft. Daher also die Bedrohung für die weiße Machtstruktur. Und folglich die Anstrengungen der weißen Machtstruktur, diese Musik verhungern zu lassen.

Ein Musiker muss offensichtlich entweder durch kommerzielle Mittel unterstützt werden (Club- und Konzertarbeit, Platten usw.) oder durch staatliche Kunstförderprogramme, körperschaftliche und private Stiftungen usw. Gayle und allen anderen kreativen schwarzen Musikern sind diese Zugänge fast völlig versperrt. Das ist eine direkte Folge der dem amerikanischen System immanenten rassistischen Einstellung, die die Öffentlichkeit erfolgreich in Unwissenheit hält über die Musik und deren Bedeutung.

Jeder leitende Angestellte einer Plattenfirma wird einem den Grund nennen, warum man nicht interessiert ist, diese Musik aufzunehmen: "Sie verkauft sich nicht." Warum verkauft sie sich nicht? Weil die Öffentlichkeit nichts von ihr weiß. Die hippen Zeitschriften schreiben nichts über sie - sie verkauft sich nicht, also ist sie für ihre Leser nicht hip genug. Die wenigen Radiosender, die Jazz bringen, spielen sie nicht - denn nach den Billboard-Jazz-Charts verkauft sie sich nicht, also wollen die Leute sie nicht hören. Die Jazzclubbesitzer - dito. Die TV-Talkshows lassen die Finger davon - sie haben weitaus interessantere Leute vorzuzeigen. Man sieht also, wo die Musik nicht aufgenommen wird, besteht ein Teufelskreis: Wegen des Mangels an Wissen und Verstehen der Musik wollen die Medien nichts zu tun haben mit ihr, und warum sich mit ihr beschäftigen, sie wird ja sowieso nicht aufgenommen. Also wiederum: Warum etwas promoten, was die Leute nicht kaufen können (und wofür sie nicht werben können)? Und abermals: Das alles ist so, weil die Musik sich selbst als ausreichend profitabel erweisen muss - damit irgendein weißer Besitzer die Profite einsacken kann, und wenn die Musik einem Clubbesitzer nicht mindestens ein paar tausend Dollar einbringen kann, wenn sie einer Plattenfirma keine Zweihunderttausend einbringen kann, dann ist sie einfach steinharter Stuhl, Alter, also lern mal was spielen, was den Leuten gefällt (was genau das ist, wobei nur all zu viele Musiker dann landen). Man sieht also, dass die Musik in ihren reinsten, dichtesten und schönsten Formen in der feindseligen und kurzsichtigen amerikanischen kapitalistischen Umgebung so gut wie keine Chance hat, ökonomisch zu überleben (oder gar zu gedeihen).

Und vielleicht ist es angesichts des offenbar bodenlosen Abgrundes von Geschmacklosigkeit, in dem die amerikanische Öffentlichkeit sich suhlt, töricht zu erwarten, dass der amerikanische Markt je fähig sein wird, diese Musik zu fördern. (Ja, stimmt, das klingt irgendwie unschön, aber hab ich recht oder was)? Die Crux des Problems ist, dass Jazz eine Kunstmusik ist, die jeder anderen Kunstmusik, insbesondere der westlichen klassischen Musik, gleichwertig ist - mindestens. Doch die weißen Kunstdiktatoren (und deren Bosse und Unterbosse), die entscheiden, was in den Schulen unterrichtet wird und welche Kunstprogramme gefördert werden, verfolgen stur eine rassistische Politik und weigern sich, dem Jazz seinen gebührenden Status als Kunstmusik einzuräumen. Bestenfalls wird Jazz herablassend als eine Art "künstlerische Unterhaltungsmusik" anerkannt, was besagt, dass sie der westlichen klassischen Musik ästhetisch unterlegen ist, aber immer noch eine oder zwei Stufen höher steht als die Popmusik im Radio und die Hintergrundmusik der Titten-und-Arsch-Darbietungen in Las Vegas.

Das amerikanische Musik- und Kunstestablishment besteht im Grunde darauf, dass die Formen von Beethovens Sinfonien und Quartetten, die ingeniösen thematischen Entwicklungen von Mozarts Klavierkonzerten, die kontrapunktischen Verwickeltheiten von Bachs Fugen usw. Dinge sind, an die der Jazz nie heranreichen konnte; dass mithin die westliche klassische Musik dem Jazz künstlerisch überlegen sei. Und das ist, offen gesagt, natürlich ignoranter, rassistischer Bullshit, weil es die Maßstäbe der einen Kultur benutzt, um die relativen Verdienste der Kunst einer anderen Kultur zu beurteilen. Aber dieses idiotische "Form-geht-dem-lnhalt-voraus"-Argument und die Anwendung einer Art ästhetischer protestantischer Arbeitsmoral (wer die ehrgeizigsten Partituren hat, die nach etwas klingen, der gewinnt), um künstlerische Qualitäten zu beurteilen, ist genau das, was Amerikas Kunstdiktatoren benutzen, um zu rechtfertigen, dass sie den "Jazz an seinem Platz halten" und die rassistischen großen Kulturlügen verewigen und somit auch, im weiteren Sinne, den rassistischen gesellschaftspolitischen Status quo Amerikas. (Und jeder, der daran zweifelt, dass Amerika im Innersten eine virulente rassistische Gesellschaft ist, halte sich die Tatsache vor Augen, dass 85% der Gefängnisinsassen Amerikas Nichtweiße sind, während 85% der Gesamtbevölkerung Weiße sind; und dass nur Südafrika einen höheren schwarzen Pro-Kopf-Anteil an Gefängnisinsassen hat).

Die allergrößte Kulturlüge ist also 1.) dass die westliche klassische Musik die ästhetisch lauterste, intellektuell entwickeltste, disziplinierteste und am schwierigsten zu spielende ist; und dass somit 2.} die schwarze Musiktradition ein lumpenarschiger Scheiß ist, den man nicht ernst nehmen kann, wenigstens nicht so ernst wie Bach, Mozart oder Beethoven den Großen. Die Tatsache, dass Musik wesentlich eine Mitteilung von Leben und über das Leben ist, und dass auf dieser Ebene Coltrane, Monk, Mingus - und Gayle, Parker und Ali- und noch viele andere Musiker ebenso beredt und schöpferisch wie irgendeine Musik, die je gemacht wurde, sich mitgeteilt haben und es noch immer tun -: dass man das denkt, ist den Musikdiktatoren Amerikas nicht genehm. Sie wollen einen nicht wissen lassen, dass Muddy Waters, Robert Johnson oder Mississippi Fred McDowell mit drei Akkorden in drei Minuten ebenso viel musikalische Magie erzeugen können wie Beethoven mit 100 Musikern in vier Sätzen. Und das der Gehalt eines Solos von Coltrane oder Ayler oder Gayle den Gehalt der durchschnittlichen Sonate wegbläst. Denn sobald genügend Menschen diese Dinge zu verstehen beginnen und anfangen, die Musik in ihr Leben einzubeziehen und mit ihr zu wachsen, wird sie die klassische Musik Garten-Party des Systems zur Hölle blasen - und ein paar andere Dinge vielleicht noch dazu.

Na schön, so mancher wird jetzt denken, ich sei gegen klassische Musik. Bin ich nicht. Mir ist durchaus klar, dass es eine Menge westliche klassische Musik gibt, die recht gut ist, und einiges ist großartig trotz der immanenten Mängel im Verhältnis von Komponist-Dirigent-Musiker und der gelegentlichen Verirrungen von Geschmack und Phantasie seitens des Komponisten. Das Problem bei der europäischen klassischen Musik heute ist nicht die Musik selbst, sondern die überhebliche, heuchlerische Art, in der sie gefördert, verpackt und produziert wird. (Man prüfe irgendein Orchesterprogramm dieser Saison - garantiert noch mehr von der alten langweiligen Suppe als letzte Saison ein Cage, Feldman, Brown, Nancarrow, Wolff, Nono, Berio oder Varese. Es gilt als "progressiv", wenn in einer ganzen Saison ein kurzes Stück von Schönberg, Webern, Bartok oder Ives herausgestellt wird)}. In nahezu jeder größeren Stadt gibt es mindestens ein Orchester, und in jeder Großstadt gibt es mehrere neben Opernhäusern, Kammermusik-Ensembles usw., die in Konzertsälen spielen - und für Gagen, von denen kreative Musiker wie Charles Gayle nur träumen können. Offensichtlich lächelt das System wohlgefällig zu westlicher klassischer Musik und unterstützt sie üppig mit staatlicher Kunstförderung sowie körperschaftlichen und privaten Spenden, die von der Steuer absetzbar sind. Warum auch nicht? Sie ist melodisch, süß, rührt an unsere heiligsten, tiefsten, zartesten Gefühle, und danach können alle freimütig beim Kaffee bekennen, sie hätten eine "kulturelle Erfahrung" gemacht, und die Welt sei eigentlich doch kein so schlechter Ort, und vielleicht äußert jemand den Wunsch, es gäbe nicht so viele unanständige obdachlose Bettler, die das Lincoln Center unsicher machen. Mit anderen Worten, die Szene der klassischen Musik ist zu einer Art kulturellem Schlafmittel, einem kulturellen Opium umgemodelt worden.

Es ist freilich wahr: das System gewährt Jazzmusikern Zuschüsse. Doch verglichen mit den Zuwendungen, die die klassische Szene bekommt, erfüllt die geringe, dem Jazz vorbehaltene Unterstützung offensichtlich nichts als eine beleidigende Alibifunktion: buchstäblich die Krumen vom Tisch. Aber wiederum: nicht überraschend in Anbetracht der rassistischen Natur Amerikas. Und dabei zollt doch das
System dem Jazz Lippenbekenntnisse, nennt ihn "Amerikas einzigen originalen Beitrag zu den Künsten" usw. Man sieht aber, wie weit die Würdigung geht. Praktisch keine finanzielle Unterstützung. Praktisch kein Unterricht. (Von jedem amerikanischen Abiturienten wird erwartet, dass er etwas über die drei B 's weiß, wer den Messias komponierte usw., aber was Duke Ellington oder Louis Armstrong betrifft, so mögen zuweilen die Namen fallen, doch ein wesentlicher Bestandteil des Lehrplanes sind sie nicht. Und Charlie Parker, Billie Holiday, Thelonious Monk, John Coltrane, Charles Mingus, Cecil Taylor? Wenn man Glück hat, werden ihre Namen im Rahmen von Hochschulstudien erwähnt). Das Ergebnis, wiederum, ist eine Massenindoktrination: Jazz sei ernsthafter Beachtung nicht wert, Jazz sei esoterisch, etwas für Freaks. Und das ist nicht nur traurig, es ist alarmierend - und wahnsinnig -, dass ein Land, das täglich drei Milliarden Dollar für sein Militär ausgibt, und dessen Liebesaffäre mit der Technologie Raumfähren und gigantische Teilchenbeschleuniger hervorbringt, eine derartige Paranoia gegenüber den profundesten und schönsten menschlichen Ausdrucksformen hat und eine derart stumpfsinnige Geringschätzung der glänzendsten und mitwirkendsten Mitglieder der Bevölkerung. (Von den gewöhnlichen Sterblichen ganz abgesehen). Es gäbe noch viel zu sagen, aber hier ist kein Platz mehr. Und ich weiß, diese Anmerkungen sind ein bisschen nieder ziehend, dafür ist aber die Musik voller Aufschwung. genießt sie also - das Warten hat sich gelohnt.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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