FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 49

Hans Rempel

 

Es existiert eine Ansicht, die die Akzeptanz von Musik allein an die Tatsache des Improvisierens anbindet oder zumindest das Vorhandensein von Improvisation höher stellt als das Resultat. Für andere dagegen ist nur das relevant, was "unter dem Strich" dabei herauskommt, unabhängig davon, ob die betreffende Musik auf improvisatorische oder kompositorische Weise entstanden ist. Für Wolfgang Fuchs' "king übü örchestrü" scheint beides zuzutreffen: hier wird ohne Stütze (ohne festgeschriebenen Notentext, ohne allgemeine auslegbare grafische Fixierung, ohne Absprache etc.) frei improvisiert, gleichzeitig aber auch peinlichst genau auf ein positives Gelingen, also: auf ein möglichst tragfähiges Ergebnis geschaut. Das zu erreichen, bedarf es allerdings einiger, auch bewusstplanerischer, wenn man will: "quasi-kompositioneller" Voraussetzungen, so wenig die letzteren auf den ersten Blick hin mit dem Komponieren in engerem Sinne zu tun haben mögen. Diese allgemeinere, aber unerlässliche kompositorische Komponente findet sich bei "übü" in zweierlei Hinsicht.

Was eigentlich ist Improvisation, was Komposition, was auch Interpretation? Wie verhalten sie sich zueinander? Fragt man nach dem inneren Wesen dieser drei Phänomene und nach dem Verhältnis des Improvisators zu Komposition und Interpretation, des Interpreten zu Improvisation und Komposition, dann ergeben sich gleich in mehrerer Hinsicht kaum lösbar scheinende Widersprüche und Verstrickungen, in verschiedener Richtung sogar eher Überschneidungen als Abgrenzung zwischen diesen Bereichen. Am Schluss dürften mehr Fragen nach diesem komplex verwobenen Ganzen offen bleiben, als anfangs gestellt. Und derjenige, der versuchte, an das Ende dieser labyrinthischen Verwicklungen zu gelangen, liefe Gefahr, in einer Art von musikalischem "Bermuda-Dreieck", eben dem zwischen Improvisation, Komposition und Interpretation, rettungslos unterzugehen.

Denn: so einfach ist es nicht - der Komponist denkt sich etwas aus und schreibt es nieder; der Interpret spielt das Niedergeschriebene ab; und der Improvisator schließlich denkt sich ebenfalls etwas aus, aber er spielt es selbst und zwar sofort. Auch vom Hören her ist bei weitem nicht immer eindeutig festzustellen, ob improvisiert oder ob Komponiertes interpretiert wird (vielleicht spielt da ein vermeintlich Improvisierender heimlich auswendig!). Kompositorische Elemente könne sehr geschickt im Improvisationsprozess "versteckt" werden, wie sich auch Improvisiertes durch eine eventuelle Nähe zu Stil und Methode von "E"-Musik als Komposition "tarnen" kann.

Nicht alles also, was dem äußeren Vorgang nach als Improvisation erscheint, ist tatsächlich auch improvisiert, aus dem Augenblick heraus geboren. Ebenso bedarf die Komposition des Gegenteils, des spontanen Einfalls, der Inspiration, vergleichbar einem improvisatorischem Moment. Hier offenbaren sich sogar schwerwiegende Gemeinsamkeiten zwischen Improvisator und Komponist: beide sind von diesem spontan erscheinenden inspiratorisch-improvisatorischen Element gleichermaßen abhängig: es bedeutet das eigentlich Neue, die schöpferische Essenz, zu welcher sowohl der Improvisator als auch der Komponist gleichsam "verpflichtet" sind, sollen ihre Tätigkeiten einen tieferen Sinn als den bloßen Transport akustischen Materials erfüllen. Dieses Schöpferische erscheint jedoch niemals für sich allein, in "Reinkultur», sondern stets in einem unlösbaren Kontext mit "Schondagewesenem", verbunden mit einem prozessural erworbenen Reservoire an Stilmitteln und Verarbeitungsmethoden, die jeder Musiker individuell und für sich allein zum Profil seiner Musik erhoben hat. So offen, variabel und flexibel dieser stilistische Fundus auch immer sein mag: er bildet eine Konstante, die den Prozess des Musik-Machens bis zu einem gewissen Grad vorbestimmt, ähnlich den Festlesungen durch Komposition. Und - so paradox es anmuten mag - gerade dieser konstante Zug innerhalb von improvisierter Musik trägt wesentlich dazu bei, Unverwechselbares und Eigenständiges und damit Stil und Profil zu schaffen, von dem sich das eigentlich Neue, das Schöpferische in engerem Sinne, als untypisch (oder: noch nicht typisch und konstant geworden) abhebt.

Das alles betrifft auf einer ersten Ebene generell auch das "übü"-Orchester, überlagert von einer zweiten, ebenfalls "quasi-kompositionellen" Ebene, die - wie die erste - Improvisatorisches nicht beschneidet, sondern in eine ensemble-verträgliche Richtung lenkt. Auf dieser zweiten Ebene agiert der Initiator der Gruppe Wolfgang Fuchs. Er selektiert - wie ein Komponist. Er wählt zwar nicht zwischen konkreten Tönen, Klängen, Gesten, Gestalten; er wählt aus zwischen verschiedenen "Stil-Paketen" in Form von individuell profilierten Musiker-Persönlichkeiten, die in sein Konzept passen, passen müssen. Dabei weiß er zwar nicht im Voraus, wer wann was ganz konkret spielt, doch kennt er den jeweiligen stilistischen Fundus, das Grundmuster der Aktions- und Reaktionsweisen seiner Partner, die als quasi-kompositorische Konstanten das positive Resultat, von dem die Rede war, bis zu einem gewissen Grad garantieren.

Fuchs sucht stets, entsprechend seinem persönlichen Konzept, solche Musiker, die (Free-)Jazz-Fernes bzw. -Fremdes signalisieren und ein (mitunter "E"-Musik-nahes) avanciertes Konzept in die Gesamt-Konzeption von "übü" einbringen. Diese ist nach außen hin hermetisch abgeschlossen, gegen über Konvention und Mode sowieso, aber auch jener nur selten originellen und fruchtbaren eklektizistischen Methode, die den Jazz der letzten zwanzig Jahre in einem hohem Maß beherrscht hat. So gibt es keine Montagen und Collagen, keine Stück- und Stil-Zitate, kein fremdes, kein "geborgtes" Material. Das bedeutet zwar: Abgrenzung, Einschränkung, Verweigerung, aber: ohne Abgrenzung kein Stil, ohne Einschränkung kein Profil, ohne Verweigerung kein Charakter! Und: innerhalb dieser selbst gesteckten Grenzen entfaltet sich eine kaum überschaubare Vielfalt an Mitteln und Strukturen, die variabel und flexibel gehandhabt werden. Suchen, Finden und Entwickeln bedürfen bei "übü'' kaum des musikalischen Anstoßes von außen, sie expandieren in das Innere einer außerordentlich komplex angelegten Struktur.

Improvisation ist (trotz der ihr innewohnenden prä-existenten und stützenden Konstanten) immer ein Abenteuer. Speziell "übü" ist ein besonders gewagtes Unterfangen. Da ist zunächst die Qualität von zehn Musikern, die, unter "einen Hut" gebracht, miteinander auskommen müssen. Die unzähligen Möglichkeiten einer komplexen Verstrickung zwischen den einzelnen Partnern erfordern vor allen Dingen jedoch eine, spezifisch auf Kollektives orientierte Qualität, die nicht aus der bloßen Addition einzelner Fähigkeiten erwachsen kann. Grundlage hierfür ist ein gewachsenes, ein entwickeltes Improvisationsbewusstsein, das (bezieht man traditionelleren Jazz und Free Jazz als Vorläufer und Auslöser der Improvisierten Musik Europas ein) seine Geschichte hat. Dieses neue Improvisationsvermögen, hier repräsentiert von den Mitgliedern des "übü" Orchesters, hebt sich deutlich von den mehr kontinuierlich-uniformen Improvisationsverläufen des Free Jazz ab, die, vereinfachend gesagt, überwiegend nur einer einzigen und allen Beteiligten gemeinsamen Gefühls- und Stimmungslage folgen. Hier nun werden verstärkt unterschiedliche, in sich kontrastierend angelegte Charaktere und Elemente von Charakteren in den Raum gestellt, miteinander konfrontiert und entwickelt. Das geschieht innerhalb des gesamten Ensembles, aber auch im Innern der einzelnen Stimme selbst. Somit realisiert sich bei "übü" eine vom US-amerikanischen Free Jazz deutlich abgehobene Horizontal- und Vertikal-Struktur, die ihre Wurzel mehr in mittel-europäischen Traditionen der Neuen Musik als in Übersee hat.

Das zu erreichen, bedarf es bewusster und gezielter Überlegung während des Improvisierens, der Zuhilfenahme des Intellekts, wobei die Ratio die Emotionen nicht unterdrücken oder gar verdrängen, sondern eher ordnen und steuern sollte. Das, so scheint es, gelingt in der Musik von "übü'' Es gibt keinen unkontrollierten Emotionalismus, der Kopf "fühlt" immer mit, gibt Richtung und Maß an, in welchen sich Emotionen freisetzen "dürfen". Dabei drängt sich der Eindruck eines gelassenen Gespanntseins, eines Engagements mit Distanz, von Expression ohne Hektik, von Aktivität ohne Stress auf. "Ubü" ist locker, aber nicht lässig, beredt, aber nicht schwatzhaft.

Das zu realisieren, verlangt auch gleichsam "außermusikalische" Fähigkeiten im Umgang mit den anderen: zu widersprechen, aber auch Sensibilität für die Belange des Partners zu entwickeln, Mut zur Zurückhaltung zu zeigen bis hin zum totalen Schweigen, welches hier nicht sprachloses Entsetzen, sondern ungeteilte Aufmerksamkeit, interessierte Zuwendung bedeutet.

zurück / back