FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 50

Wolfgang Burde

 

Seit dem Jahre 1970 spielen sie zusammen, der Saxophonist Evan Parker, der Schlagzeuger Paul Lovens und der Pianist Alexander von Schlippenbach, der dem Ensemble den Namen gab, SCHLIPPENBACH TRIO In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Ensemble sein musiksprachliches Vokabular verändert, hat an ihm gefeilt, hat es gehärtet; aber eines ist den Musikern bei allem Wandel stets geblieben die expIosive Atmosphäre, die sofort unter die Haut gehende Präsenz der souveränen Instrumentalisten und der phänomenale Kontakt, den sie in jedem Augenblick der Improvisationsprozesse miteinander halten. Kürzlich hat Alexander von Schlippenbach auf die letzten beiden Jahrzehnte ein wenig zurückgeblickt:

"An den Umständen von Spiel- und Aufführungspraxis hat sich bis heute wenig für uns geändert Es waren, von den obligaten Festivals, einigen Goetheinstitut-Tourneen und gelegentlichen größeren Auftritten bei den FMP-Veranstaltungen abgesehen, vor allem die kleinen einschlägigen Jazzclubs mit der spezifischen, noch aus älterer Zeit stammenden ,Atmosphäre', die wir Jahr für Jahr, immer mit dem Auto und manchmal auf recht abenteuerlichen Fahrten unterwegs heimsuchten Die Tongefechte, die auf solchen Bühnen im stolzen Besitz der neuen Mitte! und mit allerhand selbst gefundener Geheimmunition ausgetragen wurden, möchten manchen braven Zuhörer zutiefst befremdet haben, gewannen aber mit den Jahren an Kohärenz und Form, wie auch die ausschließliche Live-Situation vor Publikum in der die Musik gemacht wurde von fundamentaler Bedeutung für die Stilbildung gewesen ist. In diesen Jahren und unter solchen Bedingungen haben wir, oft genug nach dem Motto: ,Vogel friss oder stirb' gelernt wie man , weiter spieIt, d. h., wie man auch ohne Themen, Changes, Liedformen, vorgegebenen Metren und Tempi, spontan entwickeIte Gedanken rau und unbekümmert vorwärts treibt und auch über lange Strecken nicht abreißende Spannungsbögen, Balance und Zusammenhänge schafft. FREE JAZZ im wahrsten Sinne des Wortes und nichts als das. Wesentlich für eine Etablierung der Gruppe war natürlich und nicht zuletzt die, von Anfang an kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Free Music Production, wodurch die Geschichte des Trios durch eine Anzahl von Langspielplatten und CD's in verschiedenen Phasen dokumentiert ist und wofür dem wackeren Jost an dieser SteIle nochmals gedankt sei."

Dass sie ihre jüngsten Einspielungen PHYSICS genannt haben, - Physik, die Errungenschaften der Technik oder bestimmte Materialeigenschaften und ihre physikalischen Gesetze assoziierend, soll sicher nicht zu wörtlich verstanden werden. Aber das physikalische Gesetz, die Kraft linearer, gradliniger Ausdehnung (The Coefficient of linear Expansion) kann im übertragenen Sinne ja auch eines der Zeitkunst Musik, kann bestimmendes Merkmal musikalischer Prozesse sein. Und es verdient hervorgehoben zu werden, dass der erste Free-Jazz-Prozess unserer Einspielung sich eben nicht allein durch seine Expansion in der Zeit auszeichnet, sondern durch das großartige Reaktionsvermögen der 3 Instrumentalisten, durch die Art und Weise wie sie einander zuhören und das Gehörte im Augenblick umsetzen und fruchtbar fortsetzen.

The Coefficient of linear Expansion ist für solches im besten Sinne folgerichtiges musikalisches Spiel, das sich dennoch vieIfältigen neuen Gedanken zu öffnen vermag, ein ausgezeichnetes BeispieI.

Die ersten 15 Minuten des Improvisationsprozesses beginnen mit schweren Akzenten, die alle 3 Instrumente setzen und aus denen sich allmählich instrumentale Figuren heraus Iösen. Schlippenbach fügt solche Figuren zu größeren melodischen Bögen zusammen und das Saxophon umspielt die sich mehr und mehr mit drive anreichernde Klavierentwicklung mit virtuosen Figurationen. Paul Lovens akzentuiert das Dialogisieren beider Instrumente mit farbigen Akzenten oder nimmt bestimmte ostinate Formeln des Klaviers auf. Ein zweiter, sich weit öffnender rhapsodischer, "zeitIoser" Prozess schließt sich an, ein großer weitmaschiger Dialog des Klaviers und des Saxophons. Lovens gibt dazu Farbakzente und dialogisiert dann - nach einem größeren Monolog des Klaviers mit Alexander von Schlippenbach. Später wird auch Evan Parker in einen großen Monolog ausbrechen.

Diese großartige Balance zwischen improvisatorischer Lockerheit, zwischen assoziativem Ausschwärmen und folgerichtigem, an bestimmte materieIle KonsteIlationen sich bindende instrumentale Virtuosität zeichnet auch Das Drehmoment aus. Und manchmal hat man tatsächlich das Gefühl in eine Zeitschraube eingespannt zu sein, die einen auf hinreißende Weise durchwirbelt. "Im Gegensatz zu Derek Bailey's Theorie, wahre Improvisation sei nur möglich, wenn Musiker, die sich nicht kennen zum ersten und letzten Mal zusammenspielen, meine ich, dass gerade bei langzeitlicher Zusammenarbeit ein und derselben Gruppe von Improvisatoren Herausforderung und Anspruch immer höher angesetzt werden können. Es ist die Vision eines Kristallisationsprozesses, bei dem durch ständige EinschmeIzung, DestilIation, Raffinerie und Schliff-, die angestrebte Härtung und Veredelung des Materials erreicht werden kann (Schlippenbach)."

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