FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 61

Alexander von Schlippenbach

 

Bei den Workshops mit dem BERLIN CONTEMPORARY JAZZ ORCHESTRA, das 1988 mit der künstlerischen Zielsetzung "Neue Werke zeitgenössischer Jazzkomponisten aufzuführen und für Tonträger produktionsreif zu machen" gegründet wurde, hatte ich mich bisher vorwiegend mit Stücken anderer Musiker wie Misha Mengelberg, Kenny Wheeler, Carla Bley und Willem Breuker auseinander zu setzen, bei deren Einstudierung ich allerdings Erfahrungen und Erkenntnisse von unschätzbarem Wert für meine eigene Arbeit als Komponist und Arrangeur gewonnen habe.

So habe ich mir diesmal - unbescheidener Weise, aber nicht zuletzt auch durch Zuspruch von Freunden und Kollegen ermuntert - erlaubt, den Workshop 1993 ausschließlich zur Arbeit an eigenen Werken zu nutzen.

Bei solchem Vorhaben lag es nahe, mein nunmehr seit über zwanzig Jahren bestehendes Trio mit Evan Parker und Paul Lovens in die Band zu integrieren und somit über das reiche Material und den festen Boden zu verfügen, den wir uns im Laufe der Zeit erspielt haben. Aki und Ino bildeten als langjährige Duo-Partner den idealen Gegenpol in dieser Konstellation. In den Bläsersections hatten wir alte Mitstreiter wie Henry Lowther, Thomas Heberer, Walter Gauchel und Utz Zimmermann, die mehr oder weniger von Anfang an dabei waren, sowie eine Reihe jüngerer Musiker, zumeist aus Berlin, die zum ersten Mal mitspielten.

Die für die Produktion ausgewählten sechs Stücke stammen aus dem Zeitraum von1983-1993 und sind formal, strukturell wie auch inhaltlich sehr unterschiedlich.

1) "Any piece, but A's piece" wurde Januar 93 für Aki zum Geburtstag komponiert. Dem Stück liegt eine AA/B/A Form, mit verkürzten Perioden (A = fünf Takte / B = sieben Takte) zugrunde. Die folgenden Improvisationen beziehen sich nicht auf diese Form sondern auf das Thema im Sinne einer "lnitialzündung", die auch gleich ein beachtliches Duett von Paul Lovens und Jörg Huke auf den Weg bringt. Elemente des Themas werden im weiteren Verlauf zu Backgrounds und Überleitungen verarbeitet. Danach in starkem Kontrast das Trio Aki, Ino und Thomas Heberer. Die Gesamtform schließt sich nach einer Saxofonimprovisation über sechs Akkordfermaten mit dem, im halben Tempo einsetzenden B Teil und wird mit dem letzten A Teil a tempo zum Abschluss gebracht.

2) "Contrareflection" basiert auf einer Anordnung von Zwölfton-Akkorden, die ich im Laufe der Jahre für bestimmte Klavierimprovisationen entwickelt habe. Aus diesen Akkorden bestehende Bläserfragmente bilden in kontrapunktischer Verzahnung einen Background für das Solo von Evan Parker. Die Bläserparts sind streng ausgeschrieben und werden von Aki dirigiert. Bass, piano und sopransaxofon improvisieren. Auch hier liegt eine abstrahierte Liedform zugrunde, wobei das unbegleitete Solo der "bridge" entspricht.

3) "Rigaudon Nr. 2 aus der Wasserstoffmusik" ist eine rein strukturelle Komposition, deren Elemente aus semantischen Informationen bestehen, die, in bestimmter Anordnung von den Instrumentalisten ausgeführt, den Ausgangspunkt bilden. Die im weiteren Verlauf sich ergebenden Interferenzen entstehen durch Wiederholung von Teilabschnitten, deren aleatorische Handhabung laufend neue Resultate hervorbringt. Somit wandeln sich die Formelemente ständig und bleiben doch fest miteinander verbunden. Auf dieser Grundlage entwickelt sich eine kollektiv-improvisierte, motivische Variation. Dieses Verfahren habe ich erstmals bei der Doppelorchester-Produktion von "Globe Unity" und dem "London Jazz Composers Orchestra" beim WDR in Köln 1987 erprobt und in meiner zu diesem Anlass komponierten "Hydrogene-Music" angewendet. Das "Rigaudon Nr. 2 aus der Wasserstoffmusik" ist inzwischen zu einem eigenen Stück geworden und gibt in dieser Fassung Raum für freie Improvisationen von Flöte und Perkussion, sowie für das Trio Saxofon, Piano und Perkussion.

4) "Marcia di Saturno". Die Komposition im Tempo eines sehr langsamen Trauermarsches stammt aus dem Jahr 1983 und bildete ein paar Jahre später den zweiten Satz eines größeren Werkes für Jazz- und Symphonieorchester mit dem Titel "Colori di Olevano". Dem Stück ist eine düstere Stimmung nachgesagt worden, und es ist mir immer besonders schwer gefallen, dafür eine endgültige Form zu finden. Deshalb hier mein besonderer Dank an Ino für seine hervorragende Einleitung und Walter Gauchel für seine unvergleichliche Improvisation über das schwere Thema.

5) "The Morlocks". Das eigens für diesen Workshop im Sommer 1993 komponierte Stück basiert auf motorischen Strukturen für präpariertes Klavier zu vier Händen. Die aus dem verfremdeten Klavierklang entstehenden ostinaten, durch Tonhöhen- und Lagenwechsel wie auch Tempodivision bzw. -multiplikation ständig sich ändernden Bewegungen auf das Orchester zu projizieren, war hier mein Anliegen. So sollten die Bläsergruppen die ihnen gegebenen Tonfolgen auf Zeichen des Dirigenten einspielen und nach mehrfacher Wiederholung improvisatorisch oder genauer gesagt variationsmäßig weitertreiben, so dass sie sich im Idealfall in der Überlagerung potenzieren. Bezeichnenderweise war bei diesem Stück das Dirigieren bald überflüssig, und es erwies sich von Vorteil, die Einsätze durch die Sections selbst bestimmen zu lassen. Der "magische Moment", in dem es dann zum ersten Mal ganz von alleine ging und wir alle das Gefühl hatten, eine wirklich neue Entdeckung gemacht zu haben, wird mir unvergesslich bleiben.

Das Stück ist Steve Lacy gewidmet, mit dessen Musik ich oftmals - auch in Zusammenarbeit mit ihm selbst - beschäftigt war und von dem ich, insbesondere was den systematischen Clusteraufbau in seinen Klavierparts betrifft, viel gelernt habe.

6) "Jackhammer" stammt noch aus der Zeit vor 1983. Das Stück ist schon von unterschiedlichen Besetzungen gespielt und oftmals umgearbeitet worden. In der vorliegenden Fassung habe ich versucht, die starken rhythmischen Impulse, die von den Motiven des Themas ausgehen, durchgängig zu Backgroundriffs und Zwischenspielen zu verarbeiten. Eine fröhliche, rüde Jazznummer - gewissermaßen der "Kehraus" dieser Produktion mit einem famosen Solo von Henry Lowther am Schluss. "Jackhammer" wurde als letztes Stück der Session aufgenommen und kam gleich beim ersten Take wie aus einem Guss.

PS: Als Komponist ist es weniger meine Absicht, ein Programm aufzustellen oder eine bestimmte Richtung zu vertreten, als vielmehr dem einzelnen musikalischen Einfall oder kompositorische Gedanken die größte Aufmerksamkeit zu widmen und seinen innersten Bewegungsgesetzen so weit wie möglich auf die Spur zu kommen, um daraus dann die größeren Formen zu entwickeln. FREE JAZZ bedeutet, das Wissen um die Tradition wie auch die neuen, eigenen Errungenschaften gleichermaßen zu nutzen, und ist in diesem Sinne immer noch das beste Wort für meine Musik.

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