FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 62

Markus Müller

 

"Ignorance of your culture is not considered cool"
(The Residents, 1978)

Seit über 15 Jahren spielt Peter Kowald Solo-Bass *1. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Instrument ist auf dieser CD selbstverständlich zu hören.

Wenn Carl Einstein in Zusammenarbeit mit der Photographie von der "Normalisierung der Erfahrung" gesprochen hat, also die Photographie in diesem Jahrhundert eine Veränderung der Wahrnehmung von Bildern bewirkt hat, so lässt sich analog über unser Verhältnis zur Musik sagen, dass Tonträger, also vor allem die LP und die CD, eine wesentliche Veränderung der Wahrnehmung von Musik bewirkt haben. "Was Da ist" ist mehr als eine interessante und faszinierende Ergänzung des Katalogs wichtiger Solo-Aufnahmen. "Was Da ist" ist: Wahrnehmen, hören können.

Exkurs: Das Jahr Mai 1994 - Mai 1995 verbringt Peter Kowald zu Hause, am "Ort", Luisenstraße Wuppertal. Ohne an dieser Stelle weiter auf das Konzept "Ort" eingehen zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass eine feststehende Größe des "Ortes" die Solo-Konzerte von Peter Kowald sind: Jeden Samstag 19.00 Uhr eröffnet Kowald mit seinem Bass die Ereignisse des weiteren Abends. Und obwohl sich Konzert und CD formal unterscheiden (in der Aufführungssituation entwickelte Kowald bisher meist ein zusammenhängendes Stück von bis zu 45 Minuten Dauer, wohingegen die CD einen Bogen von 70 Minuten Spannweite in kurze, konzentrierte Vignetten editiert), habe ich, während ich diese Zeilen schreibe und die Musik der CD höre, das Gefühl Kowald zu "kennen", wie ich kaum einen anderen Improvisator "kenne". Das heißt, in diesem speziellen Fall aber auch, dass die CD vor der Folie von 10 oder 15 Konzerten, die ich gehört habe, jedes Mal anders und jedes Mal vertraut klingt. So sehr die CD als Medium auch versucht etwas festzuhalten, das sich prinzipiell dem Festhalten verweigert, so sehr ist diese CD auch immer wieder der schöne Augenblick, in dem das Gedächtnis Rückschau und Vorschau erlaubt und doch nicht verweilt.

Und vielleicht gerade weil diese Aufnahmen, im besten Sinne ein "Expertenwissen" um die spezifischen Möglichkeiten des Instrumentes dokumentieren, gibt es "keinen Grund mehr, von irgendetwas technisch beeindruckt zu sein…" *2 Kowald, der einmal gesagt hat, dass er "…gern Kompliziertes und Einfaches möglichst gleichzeitig miteinander verbinden…" *3 möchte, macht hier mit seinem Bass so ziemlich alles, was man sich seit Jimmy Blanton, also seit 1939 vorstellen kann, hin und wieder macht er auch das, was man sich nicht vorstellen kann und, das ist wesentlich, er weiß, was man nicht tun darf. Nicht nur nach Peter Handke macht das die Qualität von Musik und von Kunst überhaupt aus.

Wenn Kowald pizzicato mit und ohne Netz und doppelten Bogen, coll'arco vor, hinter und neben dem Steg spielt, mit seinem Kinn zusätzliche Harmonien verdichtet, den Bordun zu seinem Tiefbass brummt, Obertöne wie Wolken an einem amerikanischen Himmel des mittleren Westens aufziehen lässt, Raureif kratzt, klassischen "Walking Bass" bedient, die Melodien von Pontos-Griechen vorstellen lässt, so ist er (Achtung) nicht mehr Subjekt vor der Wirklichkeit des Kontrabasses, sondern er projiziert mit ihm Spielmöglichkeiten auf diese Welt, die wie die Verwirklichung von Träumen klingen. *4 Meinetwegen Träume von tibetanischen Mönchen (aber da die Konkretion dieser Träume, das Komputieren, also Zusammenzählen dieser Träume, die Aufgabe von Ihnen, die Aufgabe des Hörers ist, will ich hier meine Konkretionen nicht weiter aufdrängen).

Das heißt, dass man nicht nur nicht mehr von Technischem beeindruckt ist, sondern dass das Technische tatsächlich nur noch ein Werkzeug ist, das benutzt wird, um die Poesie der Projektionen und in diesem Fall (es gibt meines Erachtens nicht viele Fälle) eben die Poesie der Projektionen von Peter Kowald zu ermöglichen. Selbstverständlich. Damit beschreibe ich eine der wesentlichen Grunddispositionen frei improvisierter Musik. Es geht darum: "To tell one's story". Und Kowald erzählt unverwechselbar seine Geschichte. Dabei lässt sich nicht eindeutig nachvollziehen, ob Kowalds Geschichten eher von Jimmy Blanton, Scott La Faro oder vom Wind in den Weiden und den Obertönen, die in Tuva durch ein kleines Loch müssen, inspiriert wurden. Die Musik klingt wie eine sehr persönliche Kulturkosmologie und als wüsste der, der diese Musik macht, genau um seine Schritte, seine Wegmarken in dieser Kosmologie.

Das besondere dieses "Weltentwurfes" ist jedoch weder die selbstreflexive Qualität, noch ein etwaiger historischer Exkurs auf musikalische Vorbilder. Kowald geht es meines Erachtens weder um die Vertonung konkreter impressionistischer Klanglandschaften noch um die Tradition in der er sich bewegt. Kowald geht es um einen neuen Realismus. Einen Realismus des Hörens als bestimmtem Akt - eines Hörens, das sich seiner eigentümlichen Fähigkeiten bewusst ist und sie gegen das von den Medien verlangte konventionelle, praktisch orientierte Hören kultiviert. Kowalds Musik verweigert in diesem Sinne jede Vorstellung von idealer Schönheit. Die Klänge, mit denen er arbeitet, sind keine reinen "Farben". Ebenso wie wir in der Natur selten ein "C" hören, sondern sich Töne immerzu in anderen Tönen brechen, also in Relation zu ihrem Umfeld als verändert erscheinen und überdies, abhängig von Raum und Umraum, Wind und Wetter, aber auch von unseren Stimmungen nur als Element eines sich ständig verändernden, höchst differenzierten Klangensembles wahrgenommen werden können, bietet auch Kowalds Musik kein eindeutige Ordnung, sondern "nur" ein Äquivalent zu dieser Erfahrung aus der Zeit vor der "Normalisierung der Erfahrung". Als in diesem Sinne "realistische" Musik veranlasst "Was Da ist" aber nicht nur einen Prozess, in dem sich das Hören seiner selbst bewusst werden kann, sondern ist darüber hinaus geeignet, erkennen zu lassen, dass die Ordnungen, in denen wir leben, eben von uns und nicht von der Natur gemacht sind - und dass das nichtkonventionelle Hören-Können eine wichtige Fähigkeit ist, eben dies real zu erfahren.

Es gibt ein mittlerweile berühmtes Trio das Kowald mit "Baby" Sommer und Wadada Leo Smith hatte. *5 Dieses Trio erreichte mit ganz anderen Mitteln eine ähnliche Wärme wie diese CD. Kowald begründete seine Vorliebe für dieses Trio unter anderem damit, dass "Leo nie irgendwo hin (wollte), er war immer schon da." *6 Für mich lässt sich so auch die Faszination dieser CD beschreiben: Sie ist, "Was Da ist".

*1 Und an dieser Stelle sei auch noch einmal an die drei Duos mit den Bassisten Barre Phillips (FMP 0680), Barry Guy (FMP 0960) und Maarten van Regteren Altena (FMP 0990) erinnert.
*2 Niel-Henning Ørsted Pedersen zur Situation des Basses, in: Joachim E. Berendt: Das große Jazzbuch, Von New Orleans bis Rock, 5. Ausgabe Ffm 1982, S. 326.
*3 Peter Kowald in: Bert Noglik: Jazz-Werkstatt International, Berlin 1981, S. 441.
*4 siehe hierzu: Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1985.
*5 FMP 0730 und FMP 0920
*6 Interview Peter Kowald/Markus Müller, s.o., S.28.

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