FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 63

Francesco Martinelli

 

An drei aufeinander folgenden Abenden im September 1992 erkundeten die drei Blokes (Kerle) dieser CD während einer von der FMP in Berlin veranstalteten Konzertreihe alle Gruppierungen, die möglich sind: Jeder spielte ein Solo und zweimal im Duo, und um das Maß zu füllen, fügten sie noch eine kurze Zugabe als Trio hinzu.

Für diese mit einer kombinatorischen Festlegung gepaarte und scheinbar zwanghafte Einschränkung der Mittel gibt es mehrere Gründe: einer ist das Bedürfnis, die Auswirkung solcher Beschränkung auf das Musizieren herauszufinden, die Wahrheit der Worte von Georges Braque zu testen, die Steve Lacy 1980 zur Illustration einer Duo-Aufnahme wählte: "Einschränkung der Mittel führt zu neuen Formen, macht schöpferisch, ist stilbildend."

Ein anderer Grund ist die unbestrittene Tatsache, dass die besonderen Charakteristika des Sopransaxophons im Laufe der Jahre einige der interessantesten Bläser angezogen haben. (Was nicht heißt, dass das Instrument nicht auch sehr gut für kommerzielle Musik einsetzbar ist.) Dem Beispiel Sidney Bechets folgend, haben Steve Lacy und John Coltrane das gerade Horn als eine primäre Stimme etabliert. Auch der parallele unbesungene Beitrag Lucky Thompsons sei hier erwähnt. Evan Parker und Lol Coxhill waren von dem Instrument so fasziniert, dass ersterer darauf eine einzigartige Kombination von Instrumentalstimme und Solostil entwickelte, gleichwohl aber weiterhin das Tenor spielte, während der andere das größere Horn gänzlich aufgab und mit seinem süßen und sauren Ton sich ans Erkunden anderer Musikwelten machte, alle festen Kategorien außer acht lassend: Wahren ersterer stets den Einfluss Coltranes anerkannte, erklärte der zweite seine Bewunderung für Bechet und Thompson.

Außerdem besteht das Bedürfnis, die Entwicklung der beteiligten Musiker im Rückblick auf ähnliche Spielsituationen zu dokumentieren. Ein improvisiertes Stuck für vier Sopransaxophone wurde 1974 von Lacy, Parker, Steve Potts und Trevor Watts bei einem Konzert in London aufgeführt und auf der Saxophone Special - LP mit dem trefflichen Titel Sops festgehalten; dann trafen sich 1977 vier Sopranspieler während einer Company-Woche, und ein Teil des Stuckes wurde von INCUS veröffentlicht; bei dieser Gelegenheit war neben den auf jener CD herausgestellten Musikern Anthony Braxton die vierte Stimme. Hier muss erwähnt werden, dass Braxton 1971 in seiner Komposition Nr. 22 ,,die intertimbrale Implikation von vier Sopransaxophonen" feierte, das Stuck Olivier Messiaen widmete und eine Fassung davon durch Overdubbing aller vier Teile für The Complete Braxton aufnahm. 1985 spielten Steve Lacy und Evan Parker ein Soprano Duo-Konzert für Summer Music, eine weitere FMP-Produktion, und die Musik erschien auf Chirps. Das letzte zu erwähnende frühere Ereignis ist noch eine andere CD, Process and Reality, FMP, aufgenommen 1991, wo Evan Parker mit Overdubbing von bis zu acht Sopranostimmen experimentierte.

Die vorliegende CD ist also Teil einer kontinuierlichen, wenn auch dünnen Linie; ein Bereich musikalischen Ausdrucks voll endloser Faszination. Beim Anhören dieser Aufnahme werden die Grunde für diesen Reiz klar: während Klang und Körperhaftigkeit des Tenorsaxophons zum Verschmelzen der Stimmen geeignet scheinen - sehr wirkungsvoll genutzt bei berühmten Jazz-Arrangements für Bigband -, neigen die Sopranos zum Differenzieren der Stimmen. Traditionell wurden sie nur für Spezialeffekte innerhalb einer Bläsergruppe eingesetzt; das Bedürfnis, ihre exklusive Gruppierung auszuprobieren, existiert noch nicht sehr lange und scheint für dieses Horn besonders stark zu sein. Vielleicht wiegt die Tradition nicht so schwer und lässt mehr Raum für Erforschung; vielleicht tendiert der dem Instrument eigene Charakter, seine Instabilität, dazu, die Unterschiedlichkeiten zu vergrößern; vielleicht ist es auch nur Zufall. Bei dieser Aufnahme ist die Wirkung schlagend: Indem in den verschiedenen Stücken die Instrumentalstimmen von derart originellen Spielern einander gegenübergestellt werden, werden die Unterschiede von Farbgebung, Ansatz, Artikulation und Phrasierung eklatanter. Das vereinfacht den Fluss des Austausches zwischen den Spielern und betont die Gesprächhaftigkeit der Musik; die plastische Wirkung erinnert an Braxtons Huldigung an Messiaen, diesen synästhetischsten aller Komponisten, der die Wirkung von Akkorden mit Ausdrucken für sichtbare Farben beschrieb. Wenn Parker zur Einführung seiner Process and Reality - CD aus Dantes Fegefeuer zitierte, so scheint hier eine Terzine aus dem Paradies angebrachter: ,,E come in fiamma favilla si vede/E come voce in voce si discerne/ Quando una e ferma e l'altra va a riede": ,,Und wie man Funken in der Flamme sieht/Und wie wir Stimmen in der Stimm' erkennen/Die aushält, wenn die andre kommt und flieht." (übers. von Karl Streckfuß)

In The Crawl ist es interessanterweise Steve Lacy, der Evan Parker provoziert, indem er Knurrlaute und explosive Tonattacken benutzt, die gewöhnlich dem letzteren zugeordnet werden, obwohl der Amerikaner solche Effekte schon seit Jahren vorsichtig erforscht hat: etwa in seinen ,,duck"-Stücken, mit Zungenschlagen, die direkt von Ben Websters Spielweise hergeleitet sind. Der Austausch innerhalb des Duos vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: Parker übernimmt in Melodiefetzen und Tanzrhythmen Lacyismen und spielt nie seinen polyphonen Solostil, bleibt aber bei seiner harten, körnigen Stimme. Wenn er das von Lacy eingeführte Material spiegelt und ihm dabei eine andere Färbung und schärfere Konturierung gibt, ähnelt die Wirkung am Ende manchmal auf unheimliche Weise den melodischen Bogen von Parkers Soloimprovisationen, nur in anderen Zungen sprechend. Im zweiten und kürzeren Duo, Backslash, wird dies noch deutlicher, wo Lacy das Stück mit wiederholten Zirkulartrillern beendet, die an Parkers Solostil erinnern.

Der Farbkontrast in Glanced, dem Duo von Lacy und Coxhill, ist von anderer Art: Nach einem perkussiven, fast trompetenden Beginn ist Lacys Stimme kristallklar, und seine Melodien sind delikat; Coxhills Stimme ist rund und reif, in fortwährendem sforzando auf- und absteigend und die eleganten Figurationen des anderen durchkreuzend, indem er mit einfachen, kurzen Sprüngen gegen den Strich geht. Doch Lacy ist ein alter Meister dieses Spiels, und im Handumdrehn sind wie in einem formalen Nahkampfspiel die Rollen vertauscht, bis eine Art Ausgewogenheit sich entwickelt: die Stimmen behalten ihre individuellen Charakteristika bei, vermischen sich aber zu einer logischen Kombination und finden ihre Ergänzungen.

Den Kreis schließend, überraschen die beiden Engländer den Hörer mit dem melodischeren Beginn. Sie kennen einander gut und wissen, was sie verbindet und was sie trennt. Coxhill liebt Melodien, weiß dabei aber Parkers sonisches Forschen zu schätzen, und umgekehrt ist Parker durchaus nicht abgeneigt, einen gemeinsamen Boden zu finden. Die Meinungen sind jedoch alles andere als einmütig, und zuweilen wird der Dialog etwas hitzig, wobei Coxhill die scharfen Konturen des anderen in ein Gespinst weicher Melodiefäden hüllt, während Parker mit kurzen Ausbrüchen von Wiederholungen antwortet; aber beim nächsten Schritt hinauf zu den höchsten Texturen finden die beiden zu völliger Übereinstimmung: Coxhill unterstreicht feinfühlig Farbe und Rhythmus des von dem anderen Bloke gespielten Melodiebogens, und das Duo findet zu einem glatten Ende.

Beim Vergleich dieser Aufnahme mit den anderen oben genannten bemerkt der Hörer schnellere Reaktionen, glattere Integration des Materials, eine allgemeine Wirkung kompakter Knappheit. Das Duoformat bietet in dieser Hinsicht offenbar weniger Schwierigkeiten, dafür scheint die Musik in ihrer Entwicklung aber eine geradere, kürzere Linie zu finden. Im Ablauf gehen vielleicht ein paar gute Gelegenheiten verloren, zugleich eröffnen sich jedoch andere Felder der Interaktion. Die Klinge ist da; sie war einmal schartiger, jetzt ist sie schärfer, schneidet anders.

Das Thema für das abschließende Trio wurde von Lacy komponiert, und bezeichnenderweise verbindet es eine trügerisch einfache Struktur mit Humor und interessanten Möglichkeiten. Die drei gehen es ohne zu zögern an und knüpfen sofort ein komplexes, auf spontanem und unmittelbarem Wechselspiel gegründetes Gewebe; die Hinweise auf die Grundstruktur des Themas sind niemals direkt, aber in kleinen Partikeln taucht es immer wieder auf. Am Ende sind die drei Stimmen beisammen, und ihre individuelle Färbung und Tempobehandlung beibehaltend, gelangen sie zur Rekapitulation des Themas, und dabei scheinen sie auch die besonderen Qualitäten dieser Art des Musizierens sowie die hohen Ansprüche zu rekapitulieren, die an ihre Ausführenden gestellt sind: Offenheit, Selbsthumor, Hingabe.

Übersetzung: Wulf Teichmann

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