FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 67

Bert Noglik

 

Erdverbunden und abgehoben. Noch mit dem Boden in Berührung und schon in den Raum fliegend. Neue Musik im Prozess ihres Entstehens. Drei Individuen , deren Mentalität und Musikalität zu einander finden, obwohl sie gänzlich verschiedenen Erfahrungsbereichen entstammen. Das Zusammentreffen von Wadada Leo Smith, Peter Kowald und Günter Sommer Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre markiert einen Sonderfall der improvisierten Musik. Das Trio fällt aus dem Rahmen der mit amerikanischem Jazz oder europäischer Emanzipation umschriebenen Entwicklungen, folgt weder einer Auflösung des rhythmischen Kontinuums und klangsensiblen Partikularisierung englischer Provenienz, noch den Abstraktionen des Powerplays, noch den ethnisch eingefärbten Spielarten einer Great Black Music. Freilich, so, wie sich alles in allem wieder findet, weist auch das Trio Kowald/Smith/Sommer Assoziationen zu den umrissenen Spielbereichen auf, doch der Grundansatz ist neu, ergibt sich aus der Überlagerung unterschiedlicher Ansätze. Mit seinem seltsamen Changieren zwischen Statik und Drive, zwischen Meditation und Expressivität fällt diese Musik aus der Zeit, rennt sie - gänzlich unspektakulär - der Entwicklung voran. Günter Sommer sagte fünfzehn Jahre später, damals wären gleichermaßen Antworten gegeben und Fragen gestellt worden. Der Wunsch, wieder zusammenzukommen, habe sich im Laufe der Jahre verstärkt, denn das zu dritt bestellte Feld wurde niemals gänzlich abgeerntet. Kowald/Smith/Sommer oder Wuppertal-Chicago-Dresden, wie sich das Trio damals in Anspielung auf die Anreiseorte auch nannte, leuchtet als unabgeschlossenes Kapitel der Musikgeschichte.

Trio-Situation. In der ungewöhnlichen Instrumentenkombination Trompete bzw. Flügelhorn, Bass und Schlagzeug plus der nicht als "little instruments", sondern als gleichberechtigte Stimmen eingesetzten Erinnerungen mit Percussions, Orgelpfeifen, Sanza usw. sind alle drei Musiker - und zwar durchgehend - von gleicher Wichtigkeit. Die Musik definiert sich ebenso durch die Töne, die gespielt, wie durch jene, die augelassen werden. Die Anforderung, das durchgängig kollektiv und solistisch zu agieren, führte zu gesteigerter Aufmerksamkeit und Sensibilität. Peter Kowald hat seit der Zusammenarbeit im Trio mit Wadada Leo Smith und Günter Sommer seine Gruppen sehr bewusst zusammengestellt und kaum mehr als Sideman fungiert. Günter Sommer gelangte in diesem Prozess - parallel zu seiner Hörmusik, dem Duo mit Hans-Günther Wauer und dem Quartett mit Fred Van Hove, Phil Wachsmann und Mark Charig - zu einer Spielweise, die der Verbindung von Klang und Rhythmus und deren Entfaltung im Raum eine zuvor ungeahnte Bedeutung beimaß. Wadada Leo Smith schließlich hat seine musikalische Konzeption hier in einem Kontext mit europäischen Improvisatoren eingebracht, was seinerzeit in dieser Form nicht nu per se ein Novum darstellte, sondern auch zu neuen Resultaten führte. Grundbedingung dafür, ständig aufeinander hören und reagieren zu können, ist zunächst einmal die klangliche Transparenz des Trios. Wichtiger noch wiegt die vorurteilslose Offenheit, mit der sich die Drei begegnet sind.

Welt-Situation. Peter Kowald sprach einmal davon, dass in Konstellationen wie der des Trios mit Wadada Leo Smith und Günter Sommer jeder seine eigenen Erfahrungen einbringen und zugleich auch mit denen der anderen spielen könne. In der Tat manifestiert das Trio eine Annäherung unterschiedlicher Spieltraditionen, ohne sich auf einen kleinen Nenner zu einigen. Mit Wuppertal-Chicago-Dresden kam zum Bewusstsein, was seit langem in unterschiedlichen Zirkeln improvisierter Musik angebahnt worden war: die Möglichkeit, aufeinander zugehen zu können, ohne sich verleugnen zu müssen.

Konzentration. Bei Wadada Leo Smith gewinnt, gerade durch seine Sparsamkeit, durch sein Gefühl für spannungsreiche Intervall-Konstellationen und durch seine nuancenreiche Tonbildung, jeder einzelne Klang an Bedeutung. Günter Sommer hat am Spiel von Wadada Leo Smith dessen Sinn für Gültigkeit hervorgehoben: Improvisation als verbindliches Musizieren in der Folge gelebter Momente. Peter Kowald sprach vom "undramatischen" Charakter der Musik von Wadada Leo Smith. Leo wolle nirgendwo hin, sei immer schon da.

Ausweitung. Indem Wadada Leo Smith - sowohl in seiner Theorie wie auch in seiner musikalischen Praxis - die Musik auf Grundelemente zurückführte, durchbrach er zugleich die Grenzen einer auf partielle Bereiche beschränkten Ästhetik. Klang, Stille, Rhythmus und Raum, so der Impetus von Wadada Leo Smith, seien vom kreativen Improvisator, der kreativen Improvisatorin aus dem Augenblick heraus und doch zugleich mit der gesamten, akkumulierten Lebenserfahrung zu gestalten. Wie weit der Horizont solcher Erfahrungen gespannt ist, verdeutlichen die kulturellen "Verschränkungen" im Zusammenspiel. Wadada Leo Smith, der aus dem Mississippi-Delta stammt, mit dem Blues aufgewachsen ist, diesen aber weniger als konkretes Material, denn als emotionale Matrix begreift, bringt in das Spiel des Trios mitunter Klänge ein, die an die europäische zeitgenössische Musik denken lassen. Günter Sommer nimmt hingegen den Gestus der afroamerikanischen Trommelsprache auf, ohne sich auf den Weg in die Sackgasse der Imitation zu begeben. Peter Kowald weiß im Prozess des Selbstausdrucks zugleich im besten Sinne zu vermitteln, Beziehungen anzubahnen, die Komplexität des Zusammenspiels zu befördern. Dieses Talent ermöglichte ihm, in den Folgejahren eine Vielzahl kreativer Arbeitsbeziehungen zu Musikern und Musikerinnen aus Europa, Amerika und Japan herzustellen.

Spirit. Wie ein kleiner Stamm sind sie zusammengekommen, eine seltene Ethno-Gruppe mit unterschiedlichen Backgrounds. So tourten sie mit einem Kleinbus durch die unwegsamen Gebiete des Kulturbetriebs, kreuzten sie da und dort zu Konzerten auf mit einer Musik, die diejenigen, die sich darauf einließen, erstaunt zurückließ. Mit den Beinen auf dem Boden und doch auch ein wenig von diesem abhebend. Ohne eine Botschaft und doch mit einem Anspruch: mit Klängen und Rhythmen, die sich selbst genug sind und zugleich über sich hinausweisen.

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