FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 69

Markus Müller

 

Was Sie jetzt (vielleicht) hören, während Sie (weiter) lesen, ist die Reproduktion von Ausschnitten eines Konzertes von Cecil Taylor "in various combinations with"(wie es damals im Programmheft der veranstaltenden FMP hieß) mit Rashid Bakr (Schlagzeug), Harri Sjöström (Sopransaxophon), Charles Gayle (Tenorsaxophon), Tristan Honsinger (Cello), Longineu Parsons (Trompete) und Sirone (Bass), das den "25. Workshop Freie Musik" am 8. April 1993 in der Akademie der Künste, Berlin, eröffnete.

Was Sie jetzt (weiter) lesen, während Sie (vielleicht) diese CD hören, ist die ergänzte Überarbeitung eines Textes, der im Anschluss an das Hören des o.g. Konzertes geschrieben wurde und im Juni 1993 zur Veröffentlichung kam. *1 Nicht, dass ich es damit Ihnen und mir leichter machen würde. Aber es erscheint mir sinnvoll, dem Augenblick, der da gut zwei Jahre im Herzen und auf dem Papier verweilte, aus naher Ferne, ferner Nähe so Respekt zu zollen, dass er, da die "…moderne Zeiterfahrung in der Spannung großer Raffungen steht, eine Epoche in einer Generation, eine Generation in einem Lebenswerk, ein Lebenswerk in einem Bild sichtbar wird…" (Carl Einstein) die Zeit (Zeilen) bekommt, die er verdient. Und immerhin habe ich erst beim Hören des Tonbandes dieser CD begriffen, warum mich das Konzert seinerzeit so begeistert hat und ich habe sogar die Musik Taylors beim Abhören dieses Tonbandes "neu" verstanden. Und da, "wir" ja schließlich meinen, das Lebenswerk Cecil Taylors zu kennen, sind wir nicht nur dankbar, wir sind berührt, denn "Always A Pleasure" fügt diesem Bild (und nirgends ist dieses Bild präziser festgeschrieben als ihn Ekkehard Josts Ausführungen zum Tonträgerwerk Taylors im Begleitbuch zur legendären FMP-Taylor-Box von 1988) eine n-te Dimension hinzu, "Always A Pleasure" ist ein Hauptwerk. Forza:
Wir hören aber immer nur uns selber.

Es ist und bleibt zwar schwach genug. Zu vielen fiele das Hören dann erst leichter, wenn man wüsste, wie man darüber zu reden hat. Das hängt mit dem höchst unsicheren und abgeleiteten Fühlen der Menschen zusammen. Denn diese sind so beschaffen, dass sie sich durchaus nur auf dem Boden der Mitteilung zu Hause wissen. Sie müssen Mittel haben, sich ihr Fühlen zurechtzulegen, sofern dadurch eben eine weitaus geringere Teilnahme, ein weitaus geringerer persönlicher Einsatz erforderlich wird, und zudem das fehlende Verständnis eingetauscht, ausgetauscht oder abstrakt ersetzt werden kann.

Manchmal aber ist alles ganz anders: Cecil Taylors Konzerte sind gefährlich. Wer ihn einmal gehört hat, hat einmal die Grenze überschritten. Zum Beispiel in der Akademie der Künste: 08.04.1993, 21.10 Uhr. Das Licht wurde gedämpft. Cecil Taylor kam singend-sprechend-tanzend-schwebend auf die Bühne.

Wir wissen heute, dass unsere Wahrnehmung ihre Weltbilder über drei Schritte etabliert: 1. Die eingehenden Sinnesdaten. 2. Die interne Konzeptualisierung dieser Daten im konstruktivistischen Sinne. 3. Die Kontrolle dieser Konzeptualisierung über unsere interne Zensur, die die Dominanz der Regularitäten des Vergangenen im Verhältnis zum Akategorialen und Neuen bedeutet. Und wenn man dann Dietrich Diedrichsen liest: "Na ja, ich habe schon einige magische Konzerte mit ihm (Taylor) erlebt," dann fragt man sich, ob die Sache mit Taylor oder anderer Musik wirklich so einfach ist. Wenn man an die Wirklichkeit der Dinge, der Musik glaubt, bewirkt ihre Verdeutlichung durch künstliche Mittel, sagen wir durch ein Opernglas, nicht ganz das gleiche, als wenn man sie unmittelbar in nächster Nähe spürt. Wenn man durch ein Opernglas auf Taylor guckt, vermeint man nun, nicht mehr Taylor vor sich zu haben, sondern sein Bild in einem Vergrößerungsglas. Aber ist das wirkliche Bild das Eigentliche? Und was ist dann das Hören dieser CD, ein Opernglas?

Aber wir waren bei Taylor. Und das Ziel einer revolutionären Aktion auf dem Gebiet der Kultur kann es nicht sein, das Leben wiederzugeben oder es zu erklären, sondern es zu erweitern. Insofern schlägt Taylor, schlägt improvisierte Musik, schlägt Musik, wo sie glückt, einen Keil in die heilige Dreieinigkeit von: 1. Eingehenden Sinnesdaten, 2. Interner Konzeptualisierung und 3. Interner Zensur. Als Taylor so singend-sprechend-tanzend-schwebend auf die Bühne kam, die eigentlich keine Bühne war, sondern die fünfzehn Zentimeter hohe Andeutung einer Bühne, bekam die interne Zensur schon ganz schön was zu tun. Wer es schon mal gesehen hat, kennt es. In einem Schritt, in einem Wort liegen alle Informationen, die uns so ad hoc über Schamanismus zugänglich sind. Das ist das Fremde, das uns eben wirklich fremd ist, es ist das Andere, das wir sehen und fühlen und begreifen möchten.

Sobald Taylor am Flügel saß, Rashid Bakr am Schlagzeug war und der Trompeter Longineu Parsons eine Flöte spielte, die ich instrumentenkundlich nicht einordnen konnte, begann die Erweiterung des Lebens. Musik ist manchmal ein riesengroßes Schachbrett, das über die ganze Welt reicht. Späterhin konnte ich mich nicht mehr genau entsinnen, wie es anfing. Zuerst Taylor, Bakr und Parsons. Dann Sirone, Tristan Honsinger, Charles Gayle und Harri Sjöström. Die Band schlug ein derart rasendes Tempo an, dass ich kaum noch Schritt halten konnte. Obendrein spielte Taylor dauernd schneller, schneller! Ich fühlte mich außerstand, noch schneller zu hören.

Erstaunlicherweise blieben meine Frau, das gesamte Publikum und die sonstige Umgebung stets neben mir, so schnell es auch ging. Dann plötzlich: Stille, wir waren in Feld zwei und alle wussten: wenn wir nur Feld acht erreichen würden, würden wir Könige sein. Wir alle erreichten Feld acht. (Und wir waren viele. Die Ausstellungshalle der Akademie der Künste war voll.) Taylor spielte eine konzentrierte, bis in die Fingerspitzen sensibilisierende Suite. Aus den dichten Strukturen des Trios (Taylor, Sirone, Honsinger) und Honsinger hat an diesem Abend, so will es die Erinnerung, drei Stunden lang fff Flageolett-Texturen erkämpft, bis das Rosshaar seines Streichbogens wie geschlagene Zuckerrohrfasern um sein Cello wehte: Die Welle, the wave, Taylors staccato Basstöne, Bakrs time time time-Tony Williams-Kubismus-Maschine, Honsingers Flächen und Sirones "Hipster, Hey presto-Bass" schwebten durch den Raum wie ein Nordlicht von Ansel Adams photographiert.

Äußerste Konzentration, äußerste Präzision, ein "lightning field", ein Blitzfeld, das "in/aus" einem gotischen Maßwerk, entschwert und mit reinem Klang gebaut, schlug. Die Welle und ich meinte jeden einzelnen Ton hören zu können. Mikroskopisch habe ich die Verdichtungen gehört, mikroskopisch die Arbeit zwischen Sjöström und Gayle, der sein Tenor erstmals eine halbe Stunde nass spielen muss, damit die Klappen schließen. Parsons eine Art Super-Don Cherry. Er und Sjöström eine Achse: Sinus-Unisono. Und die Welle und die Welle und man hörte jeden verdammten Ton und Cecil Taylor, sagte mein Berliner Freund, der mit mir auf seinem zweiten Jazzkonzert (Brötzmann und die Märzcombo in Wuppertal, das war sein erstes) war, spielte den Strobo-Effekt, er schlug so rasend an, dass die Tasten sich in einem immerwährenden, langsamen Gleiten in eine atmende, kinetische Skulptur verwandelten. Das Auditorium, wir alle: Per Anhalter durch die Galaxis. Go.Go.Go. Miles Davis "Four and More", die Melancholie des Rasens (?), dichte feuchte Hitze über ein Schachbrett gespannt, das über die ganze Welt reicht. Pause. Ausatmen. Die Photographen standen um die Bühne und lächelten glücklich, wie unter Drogen, sie hatten vergessen ihre Arbeit zu tun, was heißt Arbeit, wir alle hatten uns vergessen.

Taylor, hörte man anschließend, *2 meinte seit Jimmy Lyons nicht mehr so gespielt zu haben.

Es gilt erstens auch heute noch:
Wir hören aber immer nur uns selber. "Always A Pleasure" ist meines Erachtens ein Schlussstein in der Diskussion um das Verhältnis zwischen Taylors so genannten konzeptuellen Platten (z.B. "Conquistador", "Unit Structure" und "3 Phasis") und den so genannten Energy-Platten (z.B. "Live in Vienna", "Corona" und "One Too Many Salty Swift And Then Goodbye").
Schon die Besetzung bzw. die Funktionen, die die Musiker übernehmen, verweist auf alle "Units", bzw. Gruppen, mit denen Taylor seit "Unit Structures" (19.Mai 1966) gearbeitet hat. "Unit Structures" wie auch "Conquistador" entwickelten sich über einem doppelten Bassfundament (Henry Grimes, Alan Silva). Danach strichen Ramsey Ameen und Leroy Jenkins (beide Geige) und Sirone während der 70er und 80er die permanente Ereignisdichte, die auf "Corona" (3. und 4. November 1989) mit Harald Kimmig (Geige), Muneer Abdul Fataah (Cello) und William Parker (Bass) ihre logische Konsequenz fand. Seit 1993 spielt Taylor mit Honsinger (Cello) und Honsinger ist das "…Seil aus Titanium, das nie reißt…". *3 Honsinger spielt die Melodien, Honsinger spielt die Ereignisdichte und die Organisation der Ereignisdichte ist das wichtigste Kriterium für die Entstehung dieser Musik. Longineu Parsons erinnert mit seinem langen Atem an Bill Dixons legendären Beitrag zu "Conquistador" und auch ein bisschen an den Raphé Malik in den 80er. Sjöström und Gayle sind Jeckyll und Hyde oder der zweifache Jimmy Lyons?! Sirone ist Sirone.

Aber vielleicht hören Sie ja gar nichts, während Sie gelesen haben? Lassen Sie es sich gesagt sein: Sirenengleich ziehen lang gehaltene Unisono von Sjöström und Parsons den Hörer in den Maelstrom. Die Parforce wird mit den schon klassisch zu nennenden kürzelhaften Motiven, die Cecil Taylor vorgibt und auf die die drei Bläser wie auf Wildlockrufe antworten, eröffnet. So wird aus den Kürzeln ein aberwitziges Call and Response und Sjöström entwickelt auf der Grundlage dieser Einstiegssequenz sein weiteres Spiel. Sehr schnell werden die Rollenverteilungen klar. Sirone und Honsinger spielen permanent. Gayle überbläst expressiv und ausschließlich full force, Sjöström ergänzt und dichtet und bricht auf, er spielt gleichermaßen "Under- wie Meta-Gayle" und er spielt in den entscheidenden Momenten des Spielverlaufs. Parsons atmet durch und aus, seine Improvisationen sind entweder wie die voran erwähnten Wildlockrufe oder über das Tempo Taylors (und Honsingers) hinweg. Bakrs Schlagzeug findet (im Verhältnis zur inszenatorischen Dramatik von Ronald Shannon Jackson oder zum Overall-Approach von Tony Oxley) nicht statt. Er spielt gruppendienlich, aber während Honsinger alles gibt, gibt Bakr "nur" Pointilismen. Das Entscheidende ist aber, das es dieser Taylor-Band gelingt, einen "konstruktivistischen Expressionismus" oder "expressionistischen Konstruktivismus" mit mehrfacher Siedetemperatur erklingen zu lassen, der das Verhältnis von chronometrischer Zeit und erlebter Zeit auf den Kopf und auf die Füße stellt: die Ruhe Taylors klingt länger als sie tatsächlich klingt. Vielleicht gilt hier wie für Webern, der sagte: "Ich will keine Symbole. Ich möchte die Dinge selber." Es klingt die Welt ohne Operngläser, unverstellt, wirklich. Es wird Zeit: fangen Sie an zu hören, es wird Ihnen ein Vergnügen sein.

*1 Einmal um die ganze Welt. In den Wunderländern: Berlin, Köln, Wuppertal, Witten, in: Jazzthetik, Hrsg: Christine Stephan, Münster 6/1993, S. 8-15
*2 Harri Sjöström in einem Gespräch mit dem Autor.
*3 Paul Lovens in einem Brief an den Autor, 23.11.1995

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