FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 70

Bert Noglik

 

Zusammengekommen, um die Musik Manfred Schulzes dem Vergessen zu entreißen, bringen sich die fünf Bläser in dessen Musik ein. Interpretation kann in diesem Falle nicht Angleichung an ein vorgezeichnetes Muster bedeuten. Sie schließt ein Postulat ein, das Manfred Schulze an seine Mitspieler stellte: Individualität. Zugleich ging es ihm stets um die Geschlossenheit eines Ensembles, womit eine Spannung bezeichnet ist: die zwischen persönlichem Klang, Spielduktus, Ausdruck einerseits und dem kollektiven, überindividuellen Gesamtresultat. Interpretation meint hier also zugleich Freisetzung von kreativen Energien und "dienendes" Verhältnis zu einem Werk, das zwar auf Komposition beruht, sich aber nicht auf diese beschränkt. Grundlage für Schulzes Kompositionen ist einmal Geschriebenes im herkömmlichen Sinne, aber auch Spielanweisung. Spielanimation, Konzept. Improvisation wird zur Fortsetzung der Komposition mit anderen Mitteln. Nicht umsonst hat Manfred Schulze oft von Improvisationsmodellen gesprochen.

Fünf Bläser huldigen einem Meister, der zwar in dieser Musik präsent erscheint, aber nach schwerer Krankheit selbst nicht mehr spielen kann. Im Prozess einer minutiösen Sucharbeit wurden frühere Kompositionen Manfred Schulzes gesichtet. In intensiven Probenphasen gewannen sie Klangprofile. Vielschichtigkeit, Tiefe. Töne, die dem blassen Papier abgerungen wurden. Blutvolle Musik eines Klangschöpfers, der sich immer als integralen Bestandteil seiner Werke begriffen, der die Trennung zwischen Denken und Spielen nie akzeptiert hat. Solche Musik ohne die persönliche Einbindung ihres Urhebers fortleben lassen, bedarf der Nähe zu dessen Spielhaltung, .Spielgesinnung, Intention. Nur durch solche Affinität kann sich erschließen, was andernorts "Werktreue" genannt wird. Authentizität. Manfred Hering verbindet eine jahrzehntelange musikalische Freundschaft mit Manfred Schulze. Gemeinsam mit jüngeren, Johannes Bauer und Heiner Reinhardt, hat er dann auch über die gesamte Spanne der achtziger Jahre mit Manfred Schulze in dessen Bläser Quintett gespielt. Paul Schwingenschlögls Weg hat folgerichtig zur Mitwirkung in der reformierten Besetzung geführt. Und Gert Anklam, 35 Jahre jünger als Manfred Schulze, setzt mit den Erfahrungen seiner Generation fort, wozu ihn der Altmeister der neuen Klänge ermutigte. So ergibt sich eine seltene Verbindung zwischen den Generationen: im instrumentalen Klang und im Geflecht individueller Stimmen zu einem Ensemble. Die Aufnahmen entstanden wenige Wochen nach Manfred Schulzes 60.Geburtstag, dem17.August 1994, zu dem die Gruppe ebenfalls ein Konzert gab. Heiner Reinhardt schrieb zum Anliegen: "Mit dem Weiterbestehen des Bläser Quintetts wollen wir der Musik eines Mannes huldigen, die nicht in Vergessenheit geraten sollte. Uns und dem Publikum wollen wir die Freude erhalten, sie zu spielen und zu hören". Bei den Aufnahmen spürt man die Freude und die Qual. Aus beidem ist diese Musik geboren worden. Manfred Schulze als einen kompromisslosen Querdenker oder -spieler zu bezeichnen liefe an seinem Wesen vorbei, weil er nie darauf gekommen wäre, etwa schlichten, abschwächen oder überbrücken zu wollen. Er war in seiner Musik konsequent, ohne sich um Modetrends oder vermeintliche Strömungen des Zeitgeistes zu kümmern. Dass im nach hinein der Eindruck entstehen kann, Manfred Schulze sei mit seinen Kompositionen und Improvisationsmodellen zu früh gekommen, lässt sich nicht verleugnen. Die Aura des Tragischen wird durch die Kraft der klingenden Musik aufgebrochen. Das Manfred Schulze Bläser Quintett spielt keine lamoryanten Nachrufe zu Lebzeiten, sondern eine lustvolle, keineswegs selbstlose Hommage.

Manfred Schulze war Pionier und Wegbereiter, schließlich auch Lehrmeister, unbequemer Doyen und Veteran für die Musik, die sich den Herkömmlichen Kategorien entzieht. Er selbst betonte immer wieder, aus der europäischen Musiktradition zu schöpfen. Mit einer Ernsthaftigkeit und einem autodidaktischen Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen, führte er seine Erfahrungen als Jazzmusiker und seine individuell geprägten Vorstellungen von Klang/Struktur zusammen. Was entstand, hebt sich so deutlich von überlieferten und späteren "Third Stream"-Versuchen und E-Musik-Jazz-Begegnungen ab, dass Manfred Schulze, aus der Sicht der kulturbürokratischen Landvermesser und Linienrichter, im Niemandsland verschwand. In der Tat hat er sich von seinem Weg nicht abbringen lassen und kontinuierlich gearbeitet, oft mit jüngeren Musikern. Schulzes Musik kann sich nur im Kollektiv realisieren; und er litt oft darunter, keine, für seine Ideen aufgeschlossene Mitspieler zu finden. Allenthalben stieß er auf die Verfestigung von Klischees. Mit Nachwachsenden zu arbeiten, sie für neue Spielformen und Musizierweisen zu öffnen, erwies sich daher als unumgänglich.

Unter der Vielzahl der Gruppen, mit denen Manfred Schulze arbeitete, nimmt das Bläser Quintett eine exponierte Stellung ein. Bereits 1969 entstand eine erste Formation dieses Namens. Schon der Verzicht auf eine Rhythmusgruppe bzw. das Schlagzeug deutet auf eine Abkehr von der Jazz-Idiomatik. Was die Bläsersätze anbelangte, so spannt Manfred Schulze einen Bogen zum europäischen Erbe. Die Klangvorstellungen erinnern nicht selten an Erscheinungsbilder der Neuen Musik. Doch der Duktus, der Spielimpetus beruht auf einem Gebot, das im Jazz betont, in dessen Praxis freilich oftmals ins Gegenteil verkehrt wurde: Abkehr von der Nachahmung, der epigonalen Bequemlichkeit.

Manfred Schulze erscheint rückblickend als Außenseiter und als Zentralfigur. Jenseits des etablierten Kulturbetriebes der DDR stehend und weder in der Jazzszene noch in Kreisen der Neuen Musik etabliert, berührte er mit seinem Schaffen die neuralgischen Punkte, die Fragen nach dem Verhältnis von Prozess und Struktur. Dass er oft schwierig im Umgang war, mag auch auf seine Entwurzelung zurückzuführen sein. Mit starken Traditionen verbunden, strebte er nach einer Expressivität, die dem klassischen Musizierideal entgegensteht. Nach einer formalen Schlüssigkeit, die im Jazz eher die Ausnahme bildet. Nach einer Verbindung von Körperlichkeit und Intelligenz, die die herkömmlichen Interpretationsmuster und Improvisationsklischees aufsprengt.

Die Begrenztheit der jazztraditionellen Improvisationsweisen erkennend, widerstrebte es Manfred Schulze, lediglich über die Harmonien der jeweiligen Themen zu extemporieren. Er schuf Improvisationskonzepte und -modelle, die ein engeres und vielschichtigeres Zusammengehen von Komposition und freiem Spiel ermöglichen, wobei er selbst darauf hingewiesen hat, dass "frei" für ihn nie "voraussetzungslos" bedeutet und seine Musik den Spielern ein hohes Maß an Disziplin abverlangt. Die hier zur Aufführung gebrachten Stücke Manfred Schulzes lassen eine Reihe unterschiedlicher Verfahren erkenne, wobei über alle Fragen, die das Material, die Techniken und Verfahrensweisen berühren, nicht das Eigentliche, die musikalische Botschaft vergessen werden sollte. Manfred Schulze und dem seinen Intentionen folgenden Bläser Quintett gelingen klare Konturierungen und transparente Klangbilder. Strukturen, die einfach genug sind, um im besten Sinne spielerisch, auch improvisatorisch, realisiert zu werden, und die doch in sich so viele Dimensionen offenbaren, dass sie niemals simpel wirken. Mitunter arbeitet Schulze nahezu minimalistisch mit dem Verhältnis von Klang und Stille, Pracht und Opulenz der Bläsersätze weiß er ebenso zu integrieren wie individuelle und kollektive Prozesse der Selbstfindung. Damit ist er nicht nur, was die Besetzung anbelangt - die Vielzahl von Bläsergruppen im Jazz seit den siebziger Jahren scheint von Schulzes frühen Besetzungen nie etwas gehört zu haben -, sondern auch, was die Kompositions- und Spielpraxis anbelangt, seiner Zeit vorausgeeilt. Unverwechselbar und unbequem, klar im Anspruch und im Anliegen, hat er gegen die Beliebigkeit angespielt: als Klarinettist und als Baritonsaxophonist im Spektrum zwischen Tönen aus tiefster Steinkohle und schrillsten Schreilauten. Exzessiv und mitunter auch unerwartet sanft, stets bewusst, konzentriert. Es lohnt, die vorliegende Version der Komposition "Nummer 12" mit jener Aufnahme zu vergleichen, an der Manfred Schulze selbst beteiligt ist (Manfred Schulze Bläser Quintett: Nummer 12), um Unterschiede und Ähnlichkeiten zu entdecken.

Die Musik von Manfred Schulze kann nur erhalten werden, indem sie gespielt wird. Das Manfred Schulze Bläser Quintett bezeugt die Lebenskraft seiner Ideen.

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