FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 84

Christian Rentsch

 

Unter dem Diktat Postmoderne verfransen die gängigen Kunstbegriffe, verlieren die herkömmlichen Zuschreibungen ihre Bedeutung. Waren wir noch vor wenigen Jahren selten stutzig, wenn es darum ging, eine Musik als Jazz zu identifizieren, bleiben wir heute allzu oft ratlos. Auch die Musiker selber verweigern sich mit gutem Grund einer klaren Einordnung. Jazz, einst die Utopie von Freiheit, von Rebellion und Widerstand gegen das Biedere, Konfektionierte, Langweilige, ist. selber bieder, konfektioniert und langweilig geworden. Musik der Wiederholungstäter, der Fundamentalisten und Spießer im Nadelstreifenanzug, das musikalische Etikett der versteinerten Tradition.

Der moderne Jazz in Europa war schon immer ein wenig anders, zumindest seit der Emanzipation von den amerikanischen Heroen in den sechziger Jahren. In den Lärm- und Krachstrukturen der Fee Music, dem Beginn der europäischen Mündigkeit, finden sich, ironisch verfremdet, Klänge der europäischen Folkloren, andere Musiker näherten sich der zeitgenössischen akademischen E-Musik. Nach einer kurzen Phase der nationalen Eigenwege, teils bärbeißig-sarkastischen, teils witzig-verspielten Experimenten der Wurzelsuche und Selbstvergewisserung haben die europäischen Freemusiker schnell die kleinräumigen Grenzen gesprengt, nach wenigen Gipfeltreffen in Berlin, London, Amsterdam und anderswo entstand gleichsam eine Europäische Union mit freiem Personen- und Ideenverkehr, selbst über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg.

Die brutale Kommerzialisierung der Musikindustrie, die Diktatur des Unterhaltsamen im Gedränge des Konzertbetriebs, der Festivals und Fastfood-Radios, welche die europäischen Freemusiker von Anfang an in die Außenquartiere der Subkultur abdrängte, hat hier, böse Pointe des Kapitalismus, im Schlechten auch sein Gutes: Wo Geld nicht zählt, darf man ungeniert Ideen haben, wo nur noch Konfektion, das Locker-Leichte als marktverträglich gilt, wird der ästhetische Profit die einzige Zielgröße des musikalischen Unternehmergeists. Gegen die lärmigen "Neuheiten" der populären Tagesproduktion, die doch nicht mehr sind als schnelle Aufputscher, die den Überdruss am immergleichen kurzzeitig vergessen machen, führten sie ungebrochen Individualität, Eigenwilligkeit und Experimentierlust, Radikalität und Dringlichkeit ins Feld.

Das europäische Trio "Holz für Europa" steht in dieser Tradition. Seit 1988 kennen sie sich, der Deutsche Wolfgang Fuchs, der Schweizer Hans Koch und der Holländer Peter van Bergen, getroffen haben sich die drei Saxophonisten/Klarinettisten anlässlich eines Konzerts des Cecil Taylor European Orchestra. Koch und van Bergen saßen auf der Bühne, Fuchs im Zuhörerraum. Später spielten Fuchs und Koch als Gäste in van Bergen Ensemble für Neue Musik, "LOOS". Drei Lebensläufe mit Ecken und Kanten: Hans Koch, klassisch ausgebildeter Orchestermusiker, während Jahren Soloklarinettist am Musikkollegium Winterthur, bis er es nicht mehr aushielt, kam über Coltrane, Coleman und Braxton zum Jazz und von dort in die freie Szene, mit Kontakten zur New Yorker Experimentierfabrik um Butch Morris. Peter van Bergen, auch er akademisch geschulter Klarinettist, experimentierte zuerst im offenen Bereich der Neuen Musik. Und Wolfgang Fuchs, nach dem Musikstudium in Karlsruhe in der Berliner Freemusic-Szene unterwegs, hat zusammen mit dem Gitarristen Erhard Hirt das surrealistische Kammerensemble King Übü Örchestrü gegründet, auch er ist längst international vernetzt, vom Franzosen Louis Sclavis über den österreichisch-holländisch-britischen Posaunisten Radu Malfatti bis zum New Yorker Cecil Taylor.

Sieben Holzblasinstrumente, von der Kontrabass- und Bassklarinette zur B- und Es-Klarinette, vom Tenor- über Sopransaxophon zum Sopranino, zwischen Stille und heftigster Intensität, zwischen zarter Schönheit und ungehemmter Expressivität, zwischen ausgetüftelt geschriebenen Passagen und freien Suchbewegungen in den noch längst nicht definitiv erschlossenen Räumen von Melodie, Querklang und Geräusch, sublime, zuweilen spröde Klangbilder in allen Stadien der Unruhe, der Brüchigkeit und Drastik. Gewiss, die drei Musiker von "Holz für Europa" spielen keine Musik der Rebellion, des offenen Aufruhrs, die Zeiten sind nicht danach. Die Ästhetik des Widerstands ist abgelöst durch eine Ästhetik der Dringlichkeit aller musikalischen Mittel und Möglichkeiten, sowohl in der Entfaltung wie in der Reduktion. Eine Musik des wahren Augenblicks.

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