FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 91

Paul Dutton

 

Die Stadt Torquay, im Devon County, England, irgendwann um 1957. Ein Junge, einige Jahre nach Schulabschluss und genau so viele Jahre Arbeit in einer Druckerei, wird dank eines Buches mit Reproduktionen von einem Freund aus der Kunstschule mit der Arbeit von Jackson Pollock konfrontiert. Dieser Junge, der zu der Zeit John Coltrane hörte und Trompetenläufe übte, sucht nach neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten und saugt die Farbtumulte auf, die Explosionen des nicht-figurativen Streichens, Spritzer, Platschen, Klecksen, Tropfen und Tröpfeln, und entscheidet sich, ,,so sollte Musik klingen".

Es dauerte nicht lange, bevor dieser Junge (Phil Minton natürlich) dabei war, in Gesellschaft zweier junger Freunde auf dieses Ziel hinzuarbeiten. Einer davon (der vorher genannte Kunststudent) ,,warf mit Farbe um sich", sagte uns Minton, wahrend der andere Walkingbass spielte. Minton selbst, der als Chorknabe seine Mitsänger unterhielt und dabei den Dirigenten rasend machte, indem er witzige Einwürfe sang (,,Minton", wie ihm ein Musiklehrer einmal gesagt hat, ,,Du bist verrückt, aber irgendwie scheinst Du musikalisch zu sein"), brachte dabei einen Strom unorthodoxer Stimmströmungen hervor, während er sich kräftig hin und her warf und walzte (,,Ich war sehr beweglich", berichtet er).

Inspiriert von Aktionsmalerei (der Name steht für die Arbeit von Pollock und anderen Abstraktexpressionisten), nannten sie ihre Darstellungen ,,Aktionsmusik". Das Trio ist nie wirklich in der Öffentlichkeit aufgetreten, und Minton erinnert sich: ,,obwohl es für uns sehr aufregend war, wussten wir eigentlich nichts davon, was wir taten".

Minton mag wohl damals nicht gewusst haben, was er tat, aber er weiß es sicher jetzt - wie er es schon seit vielen Jahren weiß. Die radikalen Vokaleffekte (und, das sollte betont werden, auch die nicht-vokalen Mundeffekte) zeugen von vier Jahrzehnten engagierter Erforschung und Weiterentwicklung. Das überragende technische Können - der Umfang, von der Pikkolo bis zur Tuba; die rohrblattartige Multiphonik; die ungehemmten Klänge von Lippen, Zunge und Backen; das Knirschen und Knistern, Krächzen und Knallen; das ganze virtuose Sortiment - ist mit ausgefeilten künstlerischen Instinkten, ungeheuerlicher Musikalität und scharf fokussierter ästhetischer Ausrichtung verschmolzen.

Die kreative Vision mit der Minton gearbeitet hat, hat sich in verschiedenen Kontexten entfaltet, nachdem er seine ,,Schulden-abzahlenden-Tanzbandtage" hinter sich gebracht hatte. Einige Jahre sang und spielte er Trompete (ein Instrument was er nach und nach beiseite ließ) mit der Mike Westbrook Band. Seine Assoziationen mit frei improvisierenden Künstlern reichten von Duos mit Percussionist Roger Turner bis zu Orchesterensembles wie Tony Oxleys ,Celebration Orchestra'. Es gab auch gewagte Unternehmen, wie seine Kollaboration mit dem Pianisten Veryan Weston. Und daneben gibt es seit 20 Jahren die improvisierten Solo-Konzerte.

Es ist Mintons Solowerk, das am wenigsten auf Tonträger festgehalten worden ist. Unter allen Platten und CDs, auf denen er erschienen ist, gab es bis jetzt nur eine Soloaufnahme, die Rift Records Platte A Doughnut in Both Hands, von 1981. Daher ist diese zweite Soloaufnahme längst überfällig. Wie die Vorgängerin stellt sie eine Sammlung von freien Improvisationen dar, die mit elektronischen Mitteln eingefangen, aber nicht behandelt worden ist; der Stoff wird hier vorgestellt wie er geschaffen wurde, ohne Flicken und Schneiden, abgesehen von der Auswahl aus mehreren Studiostunden reinen Singens. Die Intervalle und Akkorde sind Simultantöne, keine Nachsynchronisationen. Die Ideen fließen im Moment der Ausführung. Es gibt keine Zweitaufnahmen und keine Retuschierungen. Es gibt nur die natürliche Stimme - das Originalinstrument - in all seiner Komplexität und Diversität; sie ist vom ausdrücklichen Behelf der Reaktion der kreativen Impulse gegenüber getrieben. "Improvisation", sagt Minton, "ist die ehrlichste und wahrste Art und Weise des Auftretens, die ich kenne". Diese dreißig Lieder sind von der Wahrheit geprägt, die im Kern dessen, was Phil Minton ausmacht, ruht: seine körperliche, emotionale und spirituelle Essenz.

Die physische Dimension der Kunst von Minton wird erst in einem Liveauftritt offenbart, in einer Aufnahme dagegen bleibt sie verdeckt. Er wirft und wälzt sich heute nicht mehr hin und her, wie er es als Teenager tat, aber das Verrenken des Gesichts, das Verdrehen des Oberkörpers, das Hinhocken und Stecken, das Hinausstoßen des Halses und Hochziehen der Schultern zeugen von der Verpflichtung seines ganzen Körpers, eine Einheit mit seinem Gesang zu bilden. Wenn er auch persönliche Emotionen in seiner Arbeit ablehnt ("Ich mache nichts Kathartisches, versuche nicht, Dinge herauszufinden") erscheint hierin doch ein emotionaler Inhalt von fesselnder Intensität, eine Erforschung erahnter aber nicht begriffener Gefühle, die irgendeiner (oder vielleicht jeder) verbalen Artikulation entgehen. Letztendlich handelt das Werk vielleicht weniger von Emotion als von Geist, der innerhalb reiner musikalischer Ausdrucksweisen erforscht wird, wo eine Annäherung an die Elemente - Klangfarbe, Dynamik, Rhythmus - stattfindet, ohne Bezug zur Zeit, Takt, Melodie oder Tonalität. Man könnte es richtigerweise abstraktes, expressionistisches Singen nennen, oder sogar Aktionsgesang. Es war schließlich die Integration von Körper, Verstand und Geist, die Aktionsmalerei definiert hat, wie sie von Pollack und seinen Kollegen verwirklicht wurde. Obwohl Minton mit Klang und nicht mit Farbe arbeitet, kann er zu recht in diese Gesellschaft aufgenommen werden.

Übersetzung: Aud Itta Sauer und Bruce Carnevale

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