FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 94

Peter Kowald etc.

 

"365 Tage am Ort": das war Idee und Entscheidung, für ein Jahr lang alle Konzerte in der großen, nahen und weiten WeIt abzusagen, hier zu bIeiben (Luisenstrasse, Wuppertal), keine Autos, Busse, Taxis, Züge, Bahnen, Flugzeuge usw. nur noch ein dreirädriges Fahrrad zu benutzen (da kann auch der Bass ein Stück mit) und die Musik hier am Ort - jeden Samstag um 19 Uhr - für Freunde und Nachbarn zu spielen;

"Das ist ja interessant dass ein Künstler Kunst macht und kein Mensch will das mehr verstehen oder hakt das ab in dem Moment, wo es Kunst benannt wird. Das heißt, eigentlich gibt es dann keine Begründung mehr dafür, dass einer überhaupt noch Kunst macht, weil: es will ja keiner mehr etwas mit der Kunst zu tun haben. Und dann gibt es aber unheimlich viele, die sich abrappeln und behaupten: Ich will aber! Ich mach aber Kunst. Ich mach aber Musik! Obwohl dann ganz viele sagen: Hör doch auf mit dem Gedudel!"
(Felix Droese)

gleichzeitig an diesem Ort (ein loftähnlicher Raum von knapp 100 qm) ein paar AussteIlungen und Gespräche über die Musik und die Kunst etc anzuzetteIn; und den Platz und mich als nasagenwirmal Gastgeber des Ganzen einmalwöchentlich den jüngeren Improvisatoren aus der Gegend zur Verfügung zu steIlen, um an musikalischer Improvisation in größerem EnsembIe und damit verbundenen Fragen zu arbeiten.

" Wir komponieren spontan, wenn wir improvisieren, weil in dem Moment, wo wir die ersten Töne, irgendeine Technik oder Musik herausbringen, alles lebendig ist ".
(Joélle Léandré)

Zuerst kamen 8 (der jüngste 13 Jahre alt),dann bald bis zu 20, regeImäßig 12-15 Musikerinnen und Musiker aus Wuppertal und verschiedenen Städten der Umgebung auch von verschiedenen musikalischen Vorder-/ Hintergründen: vom Oberschüler zum musizierenden Tänzer, vom ambitionierten Musikliebhaber zum professionell Engagierten, eine in vieler Hinsicht bunte und muntere Mischung, die sich Schritt für Schritt über die Monate zum "Ort EnsembIe" formte.

"So gelangt man, ausgehend aus dem Spannungsfeld von Individualität und Gleichheit, auf einer anderen Ebene zu einer möglichen Gleichartigkeit aller in Beibehaltung der Individualität; das ist eine Übereinstimmung in etwas Übergeordnetem, die aber in Bewegung - in jedem Moment neu - gefunden werden muss".
(Mathias Beck)

Freie Improvisation: der so anspruchsvolle Begriff der Freiheit meint ja erst einmal die Freiheit von stilistischen Gegebenheiten, von formalen Schemata und festgelegten Regeln, wie sie sich in allen Kulturen von Afrika bis Asien, von den Aborigini bis zu den Inuit-Frauen finden (in der europäischen Musik siehe vierstimmigen Satz oder 12-tönige Reihe).

"Aber ich bin immer der Meinung, es gibt keine Gesetze. Nur die, die du von Moment zu Moment willst. Was mich interessiert, ist nicht die Formlosigkeit, ader es ist eine Form, die sich ... irgendwie ... herausstellt".
(Misha Mengelberg)

So ist eigentlich alles erlaubt und möglich: Ausgangspunkte für uns waren ganz einfache musikalische Erfahrungen wie gemeinsame Improvisation aller (mehr) oder Solistisches (weniger), dann Grundelemente wie lange Töne / kurze Töne tonale Zentren / nicht tonale Strukturen, sich nähern / sich entfernen, crescendo / decrescendo, Wiederholung kleiner Einheiten und Entwicklung repetierbarer Strukturen, Imitation eines Solisten oder eines Ensemblestücks usw, auch Versuche, schnelle Entscheidungen zu treffen und damit schnelle Wechsel zu provozieren, also alles Dinge, wie sie als Übung und Grundstrukturierung von vielen Improvisatoren praktiziert werden.

"Es kommt auf die Zielsetzung der Gruppe an: zielt die Gruppe darauf, eine anhörbare Konzert-Musik zu machen, die für Nichtteilnehmer bestimmt ist, oder wird die Musik als Erfahrung für den Spieler verstanden? Wenn entschieden ist, dass die Erfahrung der Spie/er genügt, dann ist die 6ruppe gewissermaßen selbstbezogen. Dann sind die Probleme ganz andere, als wenn sie versucht, etwas zu erzeugen, das für Nichtteilnehmer bestimmt ist. Es könnte sein, dass da verschiedene Denkschulen genau zu diesem Punkt innerhalb der Gruppe bestehen, die sich nicht vereinbaren lassen".
(Evan Parker)

Die Gewichtung zwischen langsamem Prozess und schneller Entscheidung wurde zu einem wichtigen und kontinuierlichen Experimentierfeld: bei Versuchen mit sehr kurzen Stücken (also 20, 30, 40 Sekunden, 1 - 3 Minuten) entstanden durchweg höchst interessante, skizzenähnliche Ergebnisse, kleine klare Formen in einer Eindeutigkeit und Prägnanz, wie sie bei den langen Improvisationsprozessen viel schwieriger zu realisieren waren. Durch Reduzieren und Aussortieren wurde vereinfacht oder eine überschaubarere Art von Komplexität gesucht, gleichzeitig wurde ein besonderes Augen-/Ohrenmerk auf die Autarkie des einzelnen im Ensemble gerichtet, schon entwickelte Personalstile waren natürlich zugelassen; die stellten sich immer gleichzeitig als Möglichkeit und Hindernis heraus.

"Dieses Werk ist ein fortgesetzter Augenblick, wächst, verändert sich, löst sich auf, beginnt wieder neu. Es ist wie Linien und Punkte, auch wie Endpunkte von Linien, die sich zu einem Hörbild verdichten. Sowie sie zusammenkommen, springen sie auseinander, halten wieder fest und trennen sich. Ein rhythmisches Wechselspiel der Bewegung mit in der Erinnerung wachgerufenen Bildern".
(Irmel Droese)

Auf Wunsch der Spieler wurde immer wieder versucht, die entstehenden Fragen im Ensemble zu diskutieren; Reibungen und Spannungen zwischen den Beteiligten schienen manchmal den gemeinsamen Impetus sprengen zu wollen.

" . habe ich inzwischen die Möglichkeit, die Dinge zusammenzuführen (und mit einem Publikum zu teilen), von denen ich immer wusste, dass sie zusammen gehen: Mythologie, Musik, Dichtung, Tanz, Ritual. Das ist die Sprache, die innere Sprache, an der ich interessiert bin".
(Jeanne Lee)

Anfangs habe ich verbal oder über Handzeichen in das Geschehen eingegriffen, auch Experimente zu Instrumentierunq und Orchestrierung (zum Beispiel einzelne Instrumenten-Gruppen des Ensembles hinein- oder hinauszuwinken) waren eine Art kompositorisches Einwirken auf die Improvisation.

"Natürlich teilen wir die Verantwortung des Komponierens. Wenn ich dir dieses Zeichen gebe und du weißt, was es bedeutet, führst du es aus. Ich kann dir nur sagen, wann du es machen sollst und wann du aufhören sollst. Ich habe keine Kontrolle über den Klang, nur über die Struktur".
(Butch Morris)

Es ging um Experiment und Selbstversuch genauso wie um Behauptung und Findung (ein jedes Experiment ist ja schon Musik), doch auch um das Ausfindigmachen von "tricks of the trade" (Frank Lowe) und um die Fragen nach Routinen, Allgemeinplätzen Clichés. Fehler gibt es nicht: jedes Element, das so tut wie ein Fehler, kann wiederholt werden und wird gleich zur musikalischen Struktur (sagt Fred Frith).

So entstanden sehr verschiedene Materialien. Die Musik für einen Dokumentarfilm von Thomas Schadt, wo vom Regisseur festgeleqte Vorgaben und Ziele für den Film erfüllt werden mussten, war ein weiterer Schritt in Richtung Reduktion und Zielgerichtetheit.

"Wenn ich zum Beispiel für eine bestimmte Gruppe oder ein Ensemble schreibe, dann bin ich erst einmal nur dabei, die Dinge zu verdrängen`, die sich zu schnell aufdrängen. Und ich glaube einfach, dass sich über diese Beschäftigung damit ein gewisses System von Linien oder Kriterien bildet, vor dessen Hintergrund man dann auch spontan arbeiten kann. Es ist nicht so, dass ich immer weiß was ich tue. Aber ich tue erst dann was, wenn der Verlauf mir genügend Sicherheit bietet, dass ich das Gefühl habe, dass was ich dann spontan tue mit dieser Vorarbeit zu tun hat". (Heiner Goebbels)

Mein Ziel innerhalb dieser abgesteckten Phase von fast einem Jahr war, mich schrittweise überflüssig zu machen, allenfalls noch eine Zeit lang das äußere Ohr des Ensembles zu sein (bei den Arbeitsproben habe ich nicht mitgespielt). Das hat fast funktioniert.

.. diese alte Art, dass das nicht allein Musik ist und irgendwelcher Text und so weiter, dass da mehr ist. eine Freiheit von innen".
(Sainkho Namtchylak)

Nach Monaten, in denen das Ensemble ausschließlich mich vor der Nase hatte, entschieden wir, für kurze Arbeitsphasen (mehr war auch finanziell nicht drin) andere einzuladen: den Dirigenten Butch Morris, die Saxophonisten Evan Parker und Floros Floridis, und für einen Workshop mit den Streichern den Geiger Carlos Zingaro. Für die Aufnahme dieser CD wurden Evan Parker und Carlos Zingaro als Gäste eingeladen, außerdem der Perkussionist Lê Quan Ninh.

"so setzt sich mein orkester zusammen: rauschen des bluts, ticken der nerven, unkenrufe der ratio, grillen des traums".
(Martin Disler)

Die Proben wurden nicht aufgenommen: immer wieder entstandene, fast magische Momente sind für immer verflogen. Diese Aus-Schnitte (cuts) aus den Studioaufnahmen geben einen durchaus wahrhaftigen Querschnitt durch die Arbeit eines Jahres "Ort Ensemble", wie ich sie erlebt habe (wobei das trauriqkitschige Schlussstück für die Filmmusik entstand). Die Zeit mit dem Ort-Ensemble war aufregend und wunderbar.

Die kursiv gedruckten Zitate sind dem "Almanach der 365 Tage am Ort" entnommen, erschienen im Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1998.

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