FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 97

Steve Lake

 

Fünf Jahre sind vergangen, in einem Wimpernschlag, seit Peter Brötzmann sein Quartett Die Like A Dog gründete und sich damit vor dem kurzen und turbulenten Leben seines Fast-Zeitgenossen Albert Ayler verbeugte, dem Innovator des synchronistischen Saxophons und seelenverwandten Klangfarben-Virtuosen („Es geht nicht um Noten, es geht um Sounds“). Auf dem ersten Tondokument der Gruppe (FMP CD 64) und bei frühen Konzerten gab es Splitter von Ayler-Themen ebenso zu hören wie Klassiker des älteren Jazz wie „St James Infirmary“, dessen hypnotisches, überirdisches Vibrato Parallelen zwischen Bechet und Ayler aufzeigt und damit Ayler bestätigt, der meinte, auf dem Weg von der kollektiven New-Orleans-Improvisation zum "Birth of the Free" wäre der Jazz ziemlich vom Kurs abgekommen. Dazwischen lag zuviel Bebop, zuviel solistische Effekthascherei. Und das, so erkannte Albert mit dem unbestechlichen Blick des Nicht-Intellektuellen, war „zu einfach“.

Fünf Jahre wären, nach Aylerschen Maßstäben, mehr als der Zeitraum zwischen „Prophecy“ und „New Grass“, fünf Jahre, in der all die Höhen und Tiefen einer irrsinnigen „Karriere“ Platz haben, die Albert dem erbärmlichen dog´s death im East River immer näher brachten. Trotzdem ist Die Like A Dog eigentlich ein unpassender Name für die lebensbejahende Musik des Brötzmann-Quartetts. Losgelöst vom ursprünglichen Kontext erinnert der Name eher an das öde Erbe des Post-Punk und Spät-Goth – eine unüberschaubare Schar von Dead Boys, Dead Kennedys, Dead Can Dance, Southern Death Cult, Suicidal Tendencies, von Caspar B.s Massaker ganz zu schweigen. Gemessen an der Energie, die in dieser Musik steckt, wäre Dive Like A Kingfisher, Swim Like A Seal, Soar Like An Eagle, Roar Like A Lion oder Stand Still Like A Hummingbird viel zutreffender.

Aber wahrscheinlich gibt es noch eine andere Interpretation. Nach wichtigen Einflüssen auf sein Denken befragt, nennt Hamid Drake den Sufismus. Eine zentrale Maxime der Sufis lautet: „Stirb, bevor du stirbst"“. Um der Realität näher zu kommen, heißt es, muss man – neben anderen Maßnahmen – das eigene Ego zerstören, dieses falsche Ich, das von Konditionierung, Gier und der Sucht nach Anerkennung und Applaus getrieben wird. In diesem Sinne kann Jazz all den „Tod“ gebrauchen, den er kriegen kann. Also kopfüber hinein ins Fegefeuer der Eitelkeiten!

Hier ist vielleicht ein rascher Blick auf weitere philosophische Affinitäten angebracht. Kondo, ein äußerst merkwürdiger Zeitgenosse, bei dem jeder Auftritt wie eine Zen-Offenbarung wirkt – er taucht plötzlich auf, wie ein orientalisches Kaninchen aus dem Zylinder – gehört, der aktuellen Jazzpresse zufolge, zum engeren Zirkel des Dalai Lama. Außerdem studiert er seit vielen Jahren T'ai Chi und weiß, wann man zuschlagen muss. William Parker wurde in David Suchs Buch Avant-Garde Jazz Musicians mit folgender Bemerkung zitiert: „Damit freie Musik Erfolg hat, muss sie zu freier spiritueller Musik werden. Es gibt Musik, bei der es nicht auf Technik ankommt, sondern darauf, ein Bote des Herrn zu sein. Wir sind nicht die Schöpfer, wir sind das Medium, über das der Schöpfer seine Schwingungen aussendet.“ Peter Brötzmann als Anführer einer Truppe von Neo-Mystikern? Lässt kurz an den berühmten Ausspruch Blakes denken, nach dem der Weg des Exzesses zum Palast der Weisheit führt.

Wie auch immer, hier haben wir eine Gruppe, deren Mitglieder ihre Inspirationen aus den unterschiedlichsten Quellen beziehen – der Smirnoff-Flasche und dem tibetischen Totenbuch, dem Profanen und dem Spirituellen, altem und neuem Jazz und der Musik der großen weiten Welt. Eine Gruppe, die Peter führt, indem er es vermeidet, sie zu dominieren. Die quasi-theatralischen Elemente des Polterns und Drohens, des großspurigen Säbelrasselns, die in den wahnsinnig-ausgelassenen Phantastereien von Last Exit (die apokalyptischen Reiter spielen den Blues) ihr endgültiges Extrem fanden, sind gezügelt worden. Dieses Quartett macht Musik zusammen und nicht in gegenseitiger Konkurrenz – Musik, die trotz aller technischen Komplexität nie ihre Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit verliert. Organisch hätte man das in einer anderen Zeit vielleicht genannt. Oder menschlich, denn obwohl sie auch eine hypermoderne Klangkomponente besitzt – Kondos rabenschwarze Trickkiste nämlich – hinterlässt sie einen außerordentlich starken emotionalen Eindruck.

Über Rollen wird nicht viel diskutiert, jedes Bandmitglied bekommt soviel Freiheit wie es braucht, aber es wird auch großzügig gegeben, jeder ergänzt und optimiert die Beiträge der anderen. Vor ein paar Jahren zog ein offenbar schlechtgelaunter Misha Mengelberg in einem Option-Artikel über Peters Musik her: „Ich hasste sie, diese formlose energy school. Ein Alptraum. Ich dachte, wenn wir schon frei genug sind, um uns diese blöden kleinen Melodien vom Hals zu schaffen, sollten wir sie doch nicht durch etwas ähnlich Blödes ersetzen. Das Ganze ist zu monomanischen Kriegsspielen entartet, und damit sollte irgendwann mal Schluss sein.“ Mal abgesehen davon, dass es so etwas wie formlose Musik nicht geben kann – selbst „Machine Gun“ besaß Form, wie rudimentär auch immer – kann sich die Kritik keinesfalls auf die aktuelle Gruppe beziehen. Hier gibt es viel kluge Interaktion, viel Licht und Schatten, viel Wissen um Klangprojektion und wie man eine kleine Geste ebenso wirkungsvoll gestalten kann wie eine große. Nicht zuletzt die transparente Aufnahmequalität macht das deutlich.

Alle vier Musiker spielen wunderbar. Besonders Brötzmanns Klarinette klang nie besser. Vielleicht hat Peters Duo-Arbeit mit Borah Bergmann in letzter Zeit, bei der sie besonders häufig zum Einsatz kam, zu der Sensibilität beigetragen, die auf diesen Berliner Bändern zutage tritt. Die Zartheit seines Spiels und die Tiefe des transportierten Gefühls sind außergewöhnlich. Das Ende von Part Two kann mit Fug und Recht als „exquisit“ bezeichnet werden, ein Adjektiv, das in Brötzmann-Besprechungen wohl nicht allzu oft auftauchen dürfte.

Hamid scheint beschlossen zu haben, seine andere Gruppe mit Peter, das Trio mit dem marokkanischen Guembri-Spieler Mahmoud Gania, sei ein geeigneterer Rahmen für seine virtuose Hand-Percussion, und beschränkt sich mittlerweile im Quartett auf das „normale“ Schlagzeug. Doch wie Ed Blackwell vor ihm versteht er es, sich technische Elemente aus den verschiedensten Trommelkulturen anzueignen und auf ganz natürliche und überzeugende Weise in die Improvisation zu integrieren. Mit „Fusion“ hat das nichts zu tun, vielmehr sucht Hamid in rastloser Forscherarbeit ständig nach neuen Verbindungen zu einem Dutzend Traditionen. Gleichzeitig pflegen er und William einen nie abreißenden, aufregenden Dialog. Ich weiß nicht, wo sonst man im heutigen „Jazz“ eine so lebendige, hellwache Interaktion finden könnte wie die des Gespanns Parker und Drake.

Jeder, der elektrische Trompete spielt, ist dazu verdammt, sich mit Miles vergleichen zu lassen, und Toshinori Kondo forderte derartige Vergleiche vor zehn Jahren mit seiner Popband IMA geradezu heraus: IMA wirkte wie eine etwas überkandidelte japanische Antwort auf das „Agartha“-Ensemble. Doch was er heute mit Brötzmann spielt, geht meilenweit über all das hinaus und ist hinreißend erfindungsreich. Kondos Einsatz elektronischer und digitaler Echo- und Hallgeräte schafft dringend benötigten Raum in dieser pulsierenden Improvisation und umspült den Sound der Gruppe wie kühlender Balsam. Aber verlass dich nicht darauf, sonst dreht er sich um und lässt schrille, weiß glühende Lärmkaskaden auf dich nieder regnen. Wenn er will, kann Kondo seine lines dichter mit Peters verweben als jeder andere Bläser der letzten dreißig Jahre: Blitzschnelle Reflexe, die sich ihre Ziele im Stream of Consciousness des Saxophons suchen, um auf vorbeihuschende Harmonien inmitten wirbelnder Multiphonie zu stoßen...

(Fortsetzung folgt)

Übersetzung: Caroline Lake

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