FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 106

Markus Müller

 

ZeitRäume

Seit Beginn der 70er Jahre, und hier ist die Quellenlage nicht ganz eindeutig, spielt das Schlippenbach Trio in der Besetzung Alexander von Schlippenbach (Klavier), Evan Parker (Saxophone) und Paul Lovens (Schlagzeug, Perkussion und Singende Säge) zusammen. Unstrittig stammt die erste veröffentlichte Aufnahme des Trios, "Pakistani Pomade" (FMP 0110), aus dem November 1972. In der Folgezeit spielte das Trio immer wieder, zum Quartett erweitert, mit zwei Bassisten. So entstanden mit Peter Kowald "Three Nails Left" (FMP 0210, 1974/ 75) und "The Hidden Peak" (FMP 0410, 1977) und mit Alan Silva "Das Hohe Lied" (Po Torch PTR/JWD 16&17, 1981) und "Anticlockwise" (FMP 1020, 1982). Aus dem gleichen Jahr stammt auch das Doppelalbum "Detto Fra Di Noi" (Po Torch/JWD 10 +11, 1982), ein lupenreines Trio, in Pisa aufgenommen, das sich vom Geheimtipp zu einem Eckstein in der Trio-Rezeption entwickelt hat.

Bis dahin war das Trio nach Aussagen der Musiker selbst, ein wichtiges Projekt neben anderen. Alexander von Schlippenbach spielte (und spielt) seit 1976 im Duo mit Sven-Åke Johansson und leitete seit 1973 das Globe Unity Orchester, Evan Parker spielte seit 1966 in verschiedenen Gruppen mit Derek Bailey, seit 1970 im Duo mit Paul Lytton und neben zahllosen anderen Projekten seit 1972 mit dem London Jazz Composers' Orchestra. Paul Lovens spielte in den diversen VARIO-Formationen mit Günter Christmann und im Duo mit Paul Lytton, mit dem er seit 1976 auch ein eigenes Label, Po Torch, betrieb. Bis 1988 stand Lovens allerdings im Schlagschatten der Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit dem spiritus rector Schlippenbach und dem genialischen Saxophonisten Parker schenkte.

Das änderte sich erst 1988, dem Jahr, das heute als ein Schlüsselereignis nicht nur in der Rezeption von Paul Lovens, sondern auch in der Geschichte der Improvisierten (und besonders der europäischen Variante) Musik verstanden werden muss. 1988 gab Cecil Taylor elf Konzerte in Berlin, die von der FMP veranstaltet und mit einer mittlerweile legendären CD-Box dokumentiert wurden. Der bis dahin dauernde und heute als historisch zu betrachtende Authentizitätsstreit darüber, ob die europäische Improvisation nur ein Stiefkind der schwarzamerikanischen Mutter sei und jemals sich ein Recht auf gleichberechtigte Anerkennung erspielen könne, löste sich in Musik auf. Taylor spielte vom 17. Juni bis zum 17. Juli 1988 nicht nur ganz andere, er spielte auch die beste Musik seiner Laufbahn und er spielte sie mit Europäern und zwar dem Dream Team der europäischen Improvisation.

Die Taylor-Box machte Cecil Taylor zu einem Weltstar, der plötzlich auch von Mainstream-Medien gefeiert wurde. Und sie emanzipierte die Europäer, die zuvor allzu oft in einer seltsamen Spielart des Historizismus im Musikleben, auf ihre Herkunft reduziert wurden. Paul Lovens war einer der fünf Schlagzeuger, mit denen Taylor 1988 improvisierte und im Anschluss an dieses Konzert wurde Lovens in den 90ern von der Kritik und vom Publikum als DAS Musterbeispiel des differenzierenden, zuhörenden Schlagzeugers erkannt.

Erläuterungen zur Modernen Musik

Im Mai 1990 nahm das Schlippenbach Trio (zum ersten Mal seit 1972) eine Studioproduktion auf, die "Elf Bagatellen" (FMP CD 27). Die CD löste, ganz ähnlich wie das oben erwähnte Taylor-Fest, einen weiteren, vielleicht sogar noch wesentlicheren, Paradigmen-Wechsel in der improvisierten Musik aus.

Bis dahin galt, mehr oder weniger unausgesprochen, für die Improvisation das Diktum Derek Baileys, der 1976, anlässlich des ersten "Company"-Konzerte geschrieben hatte: "For some time it has seemed to me that the most interesting results in free improvisation come from semi-ad-hoc groupings of musicians ..." Das heißt, dass Bailey davon ausgeht, dass Musiker, die spontan und zum ersten Mal miteinander improvisieren, zu "besseren" Resultaten kommen (?) - Darüber hinaus hielt Bailey seit den frühen 70ern die Aufnahme, also das Einfrieren und die spätere Veröffentlichung des Prozesses Improvisation für uninteressant und von der Sache her für absurd. Damit aber etablierte er im besten Sinne fragwürdige Kriterien für die Authentizität und Originalität von Musik, die wie eine weitere, doppelt gefaltete Fortführung von Wagners hegelianischer Doktrin der "Zukunftsmusik" anmuten. Wagner war es, der den historizistischen Glauben an Fortschritt und Evolution, der das 19. Jahrhundert so intensiv beschäftigte, mit der Geniereligion der Romantiker vermählte und aus sich selbst; das Hauptbeispiel eines Genies machte, das von der Menge verhöhnt, aber von den Weisen angebetet wird.

Die "Elf Bagatellen" präsentierten im Gegensatz zu Baileys Grundüberlegungen ein Ensemble, das seit immerhin 18 Jahren miteinander vertraut war und das bei der Produktion der CD die Aufnahmetechnik und das Studio benutzte, um im besten Sinne neue Formate in die "deutsche" Spielart der Improvisation einzuführen. Die "Elf Bagatellen" spiegelten also den Augenblick im Sinne der dokumentarischen Eins-zu-Eins-Reproduktion, aber sie stellten ganz bewusst kurze Stücke vor. Im Gegensatz zu dem Vorwurf, dass Improvisation immer nur den ausgedehnten Spielverlauf, also 20-30-minütige Langstreckenrennen mit redundanten dynamischen Verläufen und ausgedehnten egozentrischen, selbst bespiegelnden Soli vorstellt, verwandelte das Trio den Augenblick in einen sehr präzisen, konzentrierten Moment. der für Uneingeweihte aus der Weit der Webernschen Bagatellen, komponiert, also vorab festgelegt sein musste. Die Schlüssigkeit und Stimmigkeit, die der organische Spiel-, Konzentrations-, Kräfte-, etc. -Fluss (dank an Paul Lovens, der mir hier ein Buch öffnete, das zu meinem Verständnis der Musik wesentlich beitrug) erreichte, einen Grad, wie er vorher bei improvisierter Musik unvorstellbar schien, bzw. in der Rezeption der Musik nicht wahrgenommen wurde.

Diese beiden Qualitäten, das der Kontinuität und das der Präzisionsmächtigkeit, veränderten alles und im besonderen die Rezeption von Improvisation "Plötzlich" wurde Kontinuität zu einem wichtigen Kriterium der Improvisation und das Schlippenbach Trio wurde aufgrund seiner Kontinuität von der Kritik zum wichtigsten Ensemble der Improvisation überhaupt erklärt. Die Präzision (in der Welt der Klassik oder der Popindustrie eine Selbstverständlichkeit) der "Bagatellen" wurde zu einem weiteren Beleg für die Extraklasse des Trios. Damit wurde auch der elitäre Elfenbeinturm der superauthentischen Originalität (und zwar gerade weil alles authentisch dokumentiert wurde) zu einer neuen Qualität gebracht. Die Musik war so angelegt, das die Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung sich erweiterten und zwar derart, dass es ganz einfach riesigen Spaß machen konnte, sie zu hören. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass erst die "Bagatellen" es möglich gemacht haben, Improvisation wirklich ohne jede Einschränkung zu erleben.

Schlippenbach, Parker, Lovens: Gödel, Escher, Bach: Ein Endloses Geflochtenes Band

Nach den "Bagatellen" kamen zwei weitere Live-Veröffentlichungen, "Physics" (FMP CD 50, 1991) und "50th Birthday Party" (es ist die Party zu Ehren Evan Parkers gewesen, Leo CD LR 212/213, 1994) - Heute ist das Schlippenbach Trio, nach 27 Jahren und (nur) fünf (!!!!!) CDs in "Originalbesetzung" die faszinierendste, überraschendste und großartigste Gruppe der improvisierten Musik. Das hat mit der bereits erwähnten Kontinuität zu tun; zumindest ist die Langlebigkeit dieser musikalisch-intersubjektiven Beziehungen die nahe liegende (und die einzige nicht meta-physische, die wir uns vorstellen können) Erklärung für die Dichte, die Offenheit, die Geschwindigkeit, die Selbstverständlichkeit, die Vielseitigkeit, die Schlüssigkeit und die Unverwechselbarkeit des Zusammenspiels der drei Kollegen. Sie haben über die Jahre eine Methodologie des Musikmachens entwickelt und ein Aspekt dieser Methodologie ist, dass sie nicht ständig zusammenspielen, also nicht täglich. Das Trio trifft sich in der Regel einmal im Jahr zu einer Tournee und dann ist man so geil darauf miteinander zu spielen, dass man sich auf den Grundlagen der enormen Vertrautheit neu erfindet, immer wieder.

Wenn man Complete Combustion hört, stellt man zunächst fest, dass man mehr Musik hört als je zuvor, obwohl oder gerade weil das Trio weniger spielt. Weniger spielt in dem Sinne, dass sich die musikalische Spannung in der Zeit vor allem aus dem Umstand ergibt, dass jeder der drei offenbar genau weiß, wann und was er nicht spielen soll. Complete Combustion macht die Stille zum vierten Ensemble-Mitglied und alle Spielen mit dieser Stille so konsequent, dass die drei Spieler, die ohnehin perfekte eigene Stimmen entwickelt haben (jeder, der einen der drei jemals gehört hat, würde ihn sofort wieder erkennen), die Vision des Kristallisationsprozesses, "... bei dem durch ständige Einschmelzung, Destillation, Raffinerie und Schliff, die angestrebte Härtung und Veredelung des Materials erreicht werden kann…" (Schlippenbach), soweit vorangetrieben haben, dass die Stille eine spezifische Stille wird. Das Schlippenbach Trio macht nicht nur seine, unverwechselbar eigene Musik, es hat auch seine eigene Stille. Und da dieses Ensemble das einzige ist, dass im Rahmen seiner Arbeit zu solcher Stille gekommen ist (die Kompositionen von Morton Feldman zeigen ähnliche Resultate auf der Grundlage ganz anderer Ausgangsbedingungen), ist man geneigt, sich wieder an die 27 Jahre zu erinnern, in denen das Trio Holz gehackt hat.

Der eine oder andere Hörer wird mit dem einen oder anderen Detail der Trio-Methodologie vertraut sein. Hier wird das Material dieser Methodologie neu entworfen. Das Konzert beginnt, wie viele Konzerte dieses Trios, mit Evan Parker, am gehauchten Tenorsaxophon. Verhalten. Flügeltropfen und abgedämpfte Trommeln entwerfen ein verhaltenes Drehmoment. Beschleunigen und verdichten Energie, das Trio nimmt Geschwindigkeit auf, um sogleich zu einem transparenten Duo zwischen Schlippenbach und Parker zu finden. Aus diesem entwickelt sich sofort wieder ein Trio in dem alle drei die Klangfarben energisch tupfen, beschleunigen und in ein Duo zwischen Parker und Lovens führen. Dem folgt ein erstes, ausdruckstarkes, leises Trio nach nur 15 Minuten hat man das Universum gehört Die Dynamik des Trios hat sich seit 1972 unglaublich nuanciert weiter entwickelt, laut und leise, verschiedene Tempi wechseln sich permanent ab, fließen organisch ineinander. Liegt es an mir oder liegt es an dem Trio, dass es so klingt, als seien die Lautstärke-Variationen, die Verdichtungen und Auflösungen, Ausdruck ein und derselben Energie?

Nach 30 Minuten wechselt Parker, nach einem Schlippenbach-Solo mit phantastischer Dämpfertechnik zum Sopran und die Band entwickelt eine fast 30minütige post-webernsche, japanische Meditation über die Leere, die Pause, die Stille zwischen Klängen, die sich wie Objekte im Raum zu einander arrangieren.

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