FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 108

Steve Lake

 

Over, but not gone in the air

Im September 1990 veranstaltete FMP im Berliner Bechstein-Saal ein Mini-Festival unter dem teutonisch klingenden Titel "Total Taylor Total". Damit wurde eine Präsentation der Arbeit des großen Pianisten fortgesetzt, die mit der '86er-Ausgabe des Workshop Freie Musik begonnen hatte (eine Kostprobe davon gibt es auf dem von Jost Gebers aufgenommenen, aber auf Soul Note veröffentlichten Album "Olu Iwa"), mit der Konzertreihe "Cecil Taylor in Berlin '88" und der weltweit beklatschten 11-CD-Box einen jähen Höhepunkt erreichte und mit dem "Third Step" Total Music Meeting 1989 (in der Hauptsache ein Forum für das "Feel Trio" aus Taylor/William Parker/Tony Oxley) etwas bescheidener ausklang. Die Zielsetzung des "Total Taylor"-Projekts – dessen Name sofort die Art von Fragen aufwirft, die man sich auch bei "The Complete Braxton" oder "The Major Works of John Coltrane" stellt – bestand darin, "zu versuchen, die unterschiedlichen Aspekte von Cecil Taylors Schaffen an drei Konzertabenden zu präsentieren".

Der Auftritt des hier dokumentierten Quartetts, das Cecil Taylor mit Evan Parker, Barry Guy und Tony Oxley zusammenbrachte – allesamt Virtuosen der "ersten Generation" englischer Free Music – bildete den mittleren Teil des Programms. Eingerahmt wurde er durch einen Abend mit Solo-Performances und Poesie, der bereits auf dem faszinierenden Album "Double Holy House" dokumentiert ist, und dem Konzert eines Workshop-Ensembles, bei dem die drei Engländer ebenfalls dabei waren und das Taylor-Forscher vielleicht einmal als bedeutsam einstufen werden, weil es die Zusammenarbeit mit dem finnischen Sopransaxophonisten Harri Sjöström zementierte, Taylors vielleicht wichtigster – sicher aber beständigster – musikalischer Partnerschaft in den 90er Jahren.

"First" und "Last" heißen die Stücke auf dem sparsam betitelten "Nailed". Keine Spur diesmal von der Liebe zur Sprachschöpfung, die Titel wie "One Too Many, Salty, Swift And Not Goodbye", "It Is In The Brewing Luminous" oder "Air Above Mountains (Buildings Within)" hervorbrachte. Nun, dies war tatsächlich das erste und letzte Mal, daß dieses Quartett zusammenspielte, und eine Wiederholung ist aus verschiedenen – vorrangig nichtmusikalischen – Gründen sehr unwahrscheinlich. Was "Nailed" betrifft, so hat dieser Begriff tausend Bedeutungsschattierungen – auch ein paar eher unfeine. Am besten nehmen wir an, er bezieht sich auf die Rigorosität, mit der die Protagonisten dafür sorgen, dass im mächtigen Sturm dieser Musik keine losen Enden zu flattern beginnen – Nagelt die Schotten dicht! – und hoffen, dass Cecil sich nicht etwa ans Kreuz britischer Improvisation geschlagen fühlt, als unschuldiges Opfer ewiger Schismen und Animositäten. Starke Musik weckt nun mal starke Gefühle, das gilt sogar in England, wo man sonst nur im äußersten Notfall über Gefühle spricht. Taylors Bandkollegen an diesem Abend hatten nicht viel füreinander übrig, und das großartige musikalische Erlebnis, das wir ihnen verdanken, markiert gleichzeitig ein wahrscheinlich unwiderrufliches Ende. Aus Respekt vor dem Bandleader wurde in Berlin ein kurzer Waffenstillstand geschlossen, obwohl man inmitten der rasenden Phrasen vielleicht noch etwas von der schwelenden Feindseligkeit spüren kann. Trotzdem spielen alle vier Musiker mit charakteristischem Einfallsreichtum, und auf "Last" scheinen sie sich sogar über alle Grenzen des normalerweise Möglichen hinwegzusetzen.

"Um mit Cecil Taylor zu spielen", erzählte Tony Oxley der Neuen Zeitschrift für Musik vor ein paar Jahren, "braucht man das Stehvermögen eines Athleten und die schöpferische Kraft eines Gottes." Was den ersten Teil betraf, so der Schlagzeuger weiter, konnte die Performance nach eingehender Vorbereitung – Konzentration auf richtiges Atmen, zum Beispiel – eine eigene Dynamik entwickeln, vorausgesetzt, man hatte seine Technik im Griff.

Diese Vorbereitung geht jedoch über physische und technische Voraussetzungen hinaus. Ebenso wichtig ist ein gemeinsames musikalisches Ziel. Im Begleittext zu einem früheren FMP-Album, "The Tree of Life", spricht Joseph Chonto, Taylors ehemaliger "Manager" (die Anführungszeichen stammen von ihm), über die "Europäisierung" von Cecil Taylors Musik seit Mitte der 80er Jahre und verweist in diesem Zusammenhang auf den steigenden Anteil nichtamerikanischer Musiker in Taylors Bands. Diese etwas vereinfachende Analyse berücksichtigt nicht, in welch hohem Maße viele europäische Instrumentalisten jahrzehntelang von den musikalischen Strömungen beeinflusst wurden, die Cecil Taylor in Bewegung setzte.

Hätte Barry Guy zum Beispiel das London Jazz Composers Orchestra gegründet, ohne 1968 Michael Mantlers Komposition "Communications #11" gehört zu haben, in dem der mächtige Klang des Taylorschen Pianos jeden Winkel ausfüllt? Die Dialektik von "Form" und "Freiheit", die in diesem frühen Beispiel für Taylors Einfluss auf die Musik eines "Europäers" entwickelt wird, war für ihn eine wichtige Inspiration.

Tony Oxley dachte bereits darüber nach, wie er mit Cecil Taylor spielen würde, lange bevor der Hauch einer Chance dazu bestand. Die meisten von Taylors Schlagzeugern seien zu konventionell in der Wahl ihres Materials, pflegte Oxley in den 70er Jahren anzuführen. Um Cecils Klangströme zu kanalisieren, brauche es etwas anderes als die Snares, Ride-Becken und zirpenden Hi-Hats des Bebop. Andere Oberflächen, andere Klangfarben, Fell, Holz, Plastik, Metall. Vor allem Metall. Oxleys Entwicklung zu einem "improvisierenden Varèse oder Partch" (Chonto) ist sicherlich auch auf intensive Beschäftigung mit den Anforderungen und dem Potential des Taylorschen Idioms zurückzuführen.

Bei Evan Parker ist der Einfluss noch deutlicher erkennbar. Als 19jähriger Botanik-Student sah Parker 1962 während eines Urlaubs in New York einen Auftritt des Taylor-Trios mit Jimmy Lyons und Sunny Murray in Greenwich Village, der ihn, wie er es ausdrückt, "für den Rest seines Lebens prägte". Der Sound und die Intensität von Taylors Musik folgten ihm, als die erste Welle englischer Free Improviser die Wagenburg im Little Theatre Club zu belagern begann. Was in den Jahren danach an Improvisation aus London zu hören war, unterschied sich von anderen europäischen Free-Jazz-Richtungen durch strenge Detailgenauigkeit. So waren die Engländer beispielsweise weit entfernt vom dicken Pinselstrich eines Peter Brötzmann oder den kecken Karikaturen der holländischen Musik jener Zeit. Das konzentrierte Zuhören selbst dort, wo es sehr schnell wurde, das die englische Improvisation in den 60er Jahren kennzeichnete, war zumindest teilweise Resultat der Konfrontation mit den blitzschnellen Reflexen Taylors und Jimmy Lyons', die gemeinsam das Konzept der Improvisation in eine neue Dimension geführt hatten (so sehr, dass viele "Jazz"-Freunde immer noch große Mühe haben, hinterherzukommen). Sicherlich spielten viele andere Einflüsse ebenfalls eine Rolle, aber Taylors Sessions im "Cafe Montmartre" gehörten damals zu den am sorgfältigsten studierten Aufnahmen überhaupt. Taylors Vulkan-Eruptionen und Lyons' Marathon-Gebläse standen überwältigend im Vordergrund, doch die Präzision ihres Zusammenspiels war nicht weniger erstaunlich. (Hiroshi Satoh, der das Skalpell-und-Pinzette-Foto zu dem japanischen "Akisakila"-Album lieferte, wird das auch verstanden haben...)

1970 wurde Evan Parker Mitglied im Alexander von Schlippenbach Trio. Das Vorbild für diese Gruppe? Eben jene Taylor/Lyons/Murray-Formation. Schlippenbachs Trio fand sehr früh zu einer eigenen Stimme und hat seinen Sound über die Jahre kontinuierlich weiterentwickelt – einen dunkleren, kargeren Sound. Trockener vielleicht, weniger hingebungsvoll und weniger geneigt, sich vom Hier und Jetzt zu entfernen. Doch der Einfluss ist unverkennbar, und es kann kein Zufall sein, daß sich heute – diese Zeilen wurden im Sommer 1999 geschrieben – das Schlippenbach Trio und Taylors Quintett mit Paul Lovens einen für gewöhnlich ziemlich ungewöhnlichen Percussionisten teilen. Was wohl nicht anders kommen konnte.

Evan Parker und Cecil Taylor haben beide eine Vorliebe für "feste" Gruppen im Gegensatz zu "spontanen" Ensembles. Bei Taylor wirkt es mitunter fast so, als sei die Gruppe eine Art Familienersatz. Auf dieses spannungsgeladene Berliner Quartett trifft das nicht zu, aber auch seine Entstehung war kein Zufall. Tony Oxley spielte damals schon zwei Jahre mit Taylor (seit den "In Berlin '88"-Sessions) und hatte damit etwa die Hälfte seiner Amtszeit hinter sich, während Evan Parker sich unbewusst schon fast drei Jahrzehnte auf diesen Gig vorbereitet hatte – in Konzerten und Aufnahmen mit Taylor und Tristan Honsinger (man höre "The Hearth") und 1988 in Taylors European Orchestra (siehe "Alms/Tiergarten (Spree)").

Barry Guy und Taylor hatten vor den Workshop-Proben in Berlin noch nicht zusammen gespielt, doch dass der Pianist durchaus beeindruckt war, beweist sein berühmt gewordener Ausspruch "Wäre ich Bassist, würde ich so spielen wie du". Für einen Improvisator ist das gleichbedeutend mit einem Ritterschlag. Cecil Taylor und Barry Guy haben nicht nur unbändige Dynamik und Energie, grenzenlose Ausdauer und Begeisterungsfähigkeit gemeinsam, sondern als Improvisatoren mit einem verblüffenden Instinkt für Architektur – man beachte ihren wundervollen Dialog zu Beginn von "Last" – auch ein Interesse an Iannis Xenakis, dem griechischen Komponisten, dessen Musik auf erfrischende Weise elementar, ursprünglich und gleichzeitig so modern wie nur irgendwas ist. Xenakis, der einmal sagte: "Das Ziel besteht darin, den Klang selbst zum Leben zu erwecken. Wir ändern das Timbre, ändern die Dynamik. Auf diese Weise liegt das Innenleben des Klangs nicht nur im allgemeinen Aufbau der Komposition, des Gedankens, sondern auch in den kleinsten Details." Große Musiker kommen häufig von unterschiedlichen philosophischen Standpunkten aus zu übereinstimmenden Erkenntnissen.

Die drei Engländer können natürlich auf eine ganze Menge gemeinsamer Geschichte zurückblicken. Guy und Parker spielten erstmals 1967 im Spontaneous Music Ensemble zusammen und waren Ende der 60er Jahre beide Mitglied in der Gruppe von Tony Oxley. Oxley und Guy trugen in den 70er Jahren gemeinsam dazu bei, Howard Rileys Trio zu einem der interessantesten britischen Ensembles jener Zeit zu machen, wie "Synopsis", "Flight" und andere Aufnahmen beweisen. Evan Parker ist Mitglied der ersten Stunde in Barry Guys London Jazz Composers Orchestra, während Guy weiterhin sowohl in Parkers Trio als auch in dessen Electro-Acoustic Ensemble spielt. Oxley und Guy waren in den 90ern zusammen an Konzerten und Aunfahmen mit dem Komponisten Bill Dixon beteiligt, der wiederum, ein halbes Leben ist das her, auf "Conquistador" für Cecil Taylor Trompete spielte.

Wie Xenakis besitzt auch Taylors Kunst gewisse Eigenschaften, die sich nur schwer dokumentieren lassen. Oder, um es anders auszudrücken, bei ihnen erscheint es besonders willkürlich, ihre Arbeit nur anhand von Alben zu bewerten. Und doch, auch wenn wir zugestehen müssen, dass beide viel größer sind als Aufnahmen jemals beweisen können, müssen wir dankbar sein für das, was bleibt. Die schiere, physische Präsenz des Klangs, die in der Dauer verborgene Kraft, das quasi-hypnotische Element, die rituellen oder theatralischen Bestandteile – das meiste davon ist durch Mikrofone nicht einzufangen. Doch im Ausgleich ermöglichen uns Platten, zu Details zurückzukehren, die zu fein sind, um in dem Sekundenbruchteil ihrer Entstehung registriert zu werden. Ein Taylor-Konzert kann ein durchgehender Adrenalinstoß sein, so elektrisierend wie eine Bootsfahrt über Stromschnellen und brodelnde Katarakte, bei der sich der Zuhörer mitunter, mit gesträubten Haaren, von einem Ende der Bahn zur anderen geschleudert fühlt. Aufnahmen erlauben uns, solche Reisen noch einmal zu unternehmen – und dabei auch die atemberaubende Landschaft zu genießen.

Obwohl es mittlerweile selbstverständlich scheint, dass eine Taylor-Performance mit Stille kurzen Prozess macht und vereinzelte balladeske Augenblicke äußerst kurzlebig sind, hat die Geschichte gezeigt, dass es viele Arten gibt, mit diesem meisterhaften Musiker zusammenzuspielen, der ohnehin ein zu begnadeter Leader ist, um die Bedingungen zu diktieren. In den letzten anderthalb Jahrzehnten schien das Ziel immer in einer gegenseitigen Durchdringung von Intensitäten zu liegen, einer Art fröhlich-verwegenem Kontrapunkt der Geschwindigkeiten, Klangmassen, Ideen und Persönlichkeiten. "Du kannst die Musik nicht vom Menschen trennen", sagte Taylor einmal vor langer Zeit im Gespräch mit A.B. Spellman, und er scheint es zu genießen, eine farbenfrohe Schar um sich zu versammeln. In seiner aktuellen Gruppe (derzeit noch nicht dokumentiert, obwohl sie ebenfalls eine 11-CD-Box wert wäre) entringt sich Teppo Hauta-Aho ein paar gute, feierliche Bassnoten, während Harri Sjöströms Soprano falkengleich hoch über den von Tristan Honsingers Cello errichteten Titanbrücken fliegt, unter denen Paul Lovens' Trommeln und Becken rastlose Wellen schlagen. Unter Taylors großzügiger Führung und mit zunehmender Vertrautheit erfinden sie eine neue musikalische Sprache, und jeder von ihnen klingt in diesem Kontext verändert.

Das Ad-hoc- oder Semi-ad-hoc-Quartett, das auf "Nailed" zu hören ist, muss seine gemeinsame Sprache sofort finden – sie haben nur den einen Versuch. Die Furchtlosigkeit, mit der sich die Musiker in den Fluß der Klänge stürzen, ist erstaunlich, auch wenn man mittlerweile von diesen Spielern nicht weniger erwartet. Hier gibt es nicht einmal die Formalität vorbereitender Rituale, die Taylor mitunter instigiert, keine gemeinsamen Gesänge oder grafischen Fahrpläne, kein vorsichtiges Ausloten der Atmosphäre. Die Musiker wagen den Sprung ins Leere, ohne zu zögern, und werden davongetragen von der wirbelnden Strömung. Zuviel hinreißendes Detail, um es hier im Einzelnen aufzuführen.

Saxophonisten tragen in Cecil Taylors Musik seit Jimmy Lyons eine besonders schwere Verantwortung. Wo der verstorbene Altist die blitzschnellen Fragen, Einwürfe und Nebenbemerkungen des Pianisten aufnahm und mit wunderschön geformten Phrasen in einem Idiom beantwortete, das ihn wie den ultimativen Erben Charlie Parkers erscheinen ließ, schlägt der andere Parker die Brücke zum Ende des "Jazz" und dessen, was danach kam. Evan Parker spielt hier mit einem feinen Gefühl für Lyons' Errungenschaften und verfügt über das Gehör, um in jedem Moment gleichzeitig der großen Taylor/Lyons-Tradition zu folgen und dem Material seinen eigenen Stempel aufzudrücken. Das Herzstück von "Last" mit seinen Schwindel erregend verzahnten Linien und Polyrythmen, das eine außergewöhnliche Dynamik in dem Moment erreicht, als das durch Zirkuläratmung beflügelte Sopran auf die unvergleichliche Technik eines hemmungslosen Cecil Taylor trifft, verziert und untermalt von Guy und Oxley, muss als eine der wunderbarsten Episoden gelten, die je auf einem FMP-Album festgehalten wurden. Unmöglich zu sagen, wer da auf den schimmernden Flanken von wessen Vortex kritzelt (um Wyndham Lewis zu paraphrasieren).

Vorbei, aber nicht vergangen. Seien wir froh, dass die Bänder rollten an jenem Abend im Bechstein-Saal.

Übersetzung: Caroline Lake

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