FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 111

Bert Noglik

 

Stark und sensibel, ausgereift und noch immer im Fluß, eigenwillig und doch kaum mehr gewöhnungsbedürftig, in sich schlüssig. So weit mein Kurz-Notat nach neuerlichem Hören der nun als CD vorliegenden Aufnahmen. Mit zeitlichem Abstand wird bewußt, welchen Grad von Gültigkeit Klangdokumente wie diese besitzen. Konzertmitschnitte, die Momentaufnahmen eines musikalischen Langzeitkontinuums festhalten und dennoch Musikentwicklung geradezu exemplarisch dokumentieren. Zwei Konzerte von Hunderten, die das Duo gegeben hat. Konzerte, die der Natur der Improvisation entsprechend, immer wieder anders ausfallen.
Musik, die als Prozeß angelegt ist, nicht in der Form eines Werkes gerinnen will und dennoch auch im Ausschnitt zu überzeugen weiß.

Obwohl bei musikalischer Improvisation hin und wieder Zufälle eine Rolle spielen, machen diese Aufnahmen mit Alexander von Schlippenbach und Sven Ake Johansson erlebbar, wie beide diesen Prozeß steuern, wie konsequent sie bestimmte musikalische Materialien auswählen und andere ausklammern, mit welcher Präzision sie miteinander zu kommunizieren vermögen. „Instant composing“ erscheint noch immer die beste Begriffsprägung dafür, weil sie beides, das Moment des Spontanen und die Intention des Strukturierens in sich vereint.

Alexander von Schlippenbach und Sven-Åke Johansson spielen permanent dialogisch und agieren oft simultan solistisch. Das setzt viel Sensibilität, kompatible Klangvorstellungen und gemeinsame Spielerfahrungen voraus. In groß angelegten Spannungsbögen, Verdichtungen und Entflechtungen des Geschehens gelingen ihnen - sowohl in der parallelen Bewegung als auch in der Kontradiktion - sehr genaue Entsprechungen. Die perkussiven Aspekte im Spiel des Pianisten und die Klang orientierten Aktionen des Schlagzeugers machen die Korrespondenzen besonders deutlich. Entscheidend bleibt gewiß die im Jazz fundierte und zugleich über diesen hinausweisende Musizierhaltung.

Von einem starken, auch physisch erlebbaren Drive beflügelt, erzeugt das Duo in der Überlagerung von rhythmischen Regel- und Unregelmäßigkeiten eine faszinierende Dynamik. Dabei abstrahieren Schlippenbach und Johansson sowohl vom Idiom des Jazz als auch von der europäischen Klaviertradition bzw. der Neuen Musik. Und doch scheint all dies im positiven Sinne aufgehoben und mitzuschwingen. Was unterschwellig, auf der Ebene eines musikalischen Subtextes mitläuft, kommt stellenweise überraschend an die Oberfläche. Da bricht aus der abstrakten Klangsprache ein Walzer hervor, europäische Populärmusik, die in die kantigen Wendungen des Jazz-Außenseiters Thelonious Monk umkippt, um schließlich zerpflückt, verfremdet und neu zusammengesetzt = komponiert zu werden. Wann zuvor gab es eine so merkwürdige Version von „Round Midnight“ zu hören?

Wenn Sven-Åke Johansson das Akkordeon einsetzt, verstärkt sich der eigenartige Zustand des Flirrens. Bereiche wie Jazz, innovative Klangproduktion, Kunst- und Volksmusik verlieren ihre konturierte Gestalt, entgrenzen sich, fließen ineinander über. Johanssons Gesangsimprovisationen schließlich verrücken all das ins Skurrile, mitunter auch Surreale. Im Assoziationsfeld des von Arnold Schönberg intendierten Sprechgesanges und der Welt der amerikanischen Standards funkelt uns Sonderbares entgegen. Diesen Weg fortschreitend, gestalteten Sven-Åke Johansson und Alexander von Schlippenbach später regelrechte Liederzyklen wie „Idyllen und Katastrophen“, so der recht treffende Titel einer Produktion und eines Programmes. Bei den Aufnahmen von 1976 und 1977 geht es vor allem um die instrumentale Interaktion. Und doch leuchtet mittendrin etwas anderes auf, den Gesamteindruck verstärkend, daß all das nicht mehr in den herkömmlichen Koordinatensystemen unterzubringen ist, daß es um neue Klang- und Erlebniswelten geht. Um musikalische Interaktionen, die wohl vom Jazz ausgehen, aber doch auch Wege zu einer neuen Musik weisen.

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