FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 116

Steve Lake

 

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Dass freie Improvisation ein universelles Genre ist, mag heute allgemein feststehen, doch dieses Aufnahmen können wirklich nur von Bewohnern der wind- und regengepeitschten britischen Inseln stammen – jenen geheimnisvollen Landen inmitten der Nordsee, in denen Exzentriker und Genies seit jeher gut gedeihen. Die Musik auf “Hit And Run”, wurzelnd in spezifisch britischen Traditionen, weckt in der schottisch-englischen Seele des Verfassers an Heimweh grenzende Gefühle und – vor allem, wenn Paul Dunmall den Dudelsack spielt – eine atavistische Erkenntnis älterer Wahrheiten. Gleichzeitig ist dies eine sehr aktuelle Musik. Niemandem ist zum Beispiel bis heute gelungen, jenseits von John Butchers hypermoderner Klangsprache auf dem Saxophon noch etwas Neues zu entdecken. Vielleicht, weil es dort tatsächlich nichts mehr gibt. Butcher hat auf dem Fundament der so genannten ersten Generation britischer Improvisatoren auf sehr persönliche, poetische und überzeugende Weise weitergebaut. John Edwards, dessen Arbeit mit Eddie Prevosts “Touch”-Trio und Evan Parkers Quartett (dokumentiert auf der FMP-CD “London Air Lift”) zum Lebendigsten und Originellsten zählt, was die jüngere Improvisations-Geschichte in Sachen Bass zu bieten hat, harmonisiert gleichermaßen mit den doch sehr kontrastierenden Stilen von Dunmall und Butcher – die beide dennoch wichtige Vertreter eines einzigartigen, britischen Saxophon-Phänomens sind. Auf die Gefahr hin, chauvinistisch zu klingen: kein anderes Land hat eine derartige Fülle ganz und gar eigenständiger Saxophonisten hervorgebracht wie Groß­britannien, seit Evan Parker, Trevor Watts, John Surman, Mike Osborne, Alan Skidmore, Lou Gare und Lol Coxhill vor 35 Jahren fast gleichzeitig auf der Bildfläche erschienen.

Doch zurück zum Thema: Paul Dunmall hatte keine Ahnung, dass er mit John Edwards in Berlin eine Platte machen würde. Engagiert hatte man ihn für das Total Music Meeting zusammen mit seinem langjährigen Weggefährten Paul Rogers. Die beiden bilden ein wunderbares Duo, das unterschiedliche Folk-Musik mit freier Improvisation verbindet. Aber dann fiel Rogers wegen einer Gallensteinkolik aus, und Edwards, der eigentlich nur mit Butcher spielen sollte, fand sich plötzlich in zwei Formationen wieder. Das ist das Schöne am free playing – es lässt Auswege offen, so dass das Unerwartete, ja selbst das Ärgerliche, oft noch positiv genutzt werden kann.

Der Titel “Gaulstones” – ächzende Wortspiele sind auch eine britische Tradition, leider – spielt auf die Tatsache an, dass Rogers das Unglück in seiner Wahlheimat Frankreich ereilte; es waren also definitiv gallische Gallensteine, die ihn außer Gefecht setzten. Durch die Umstände und das Pech eines anderen Bassisten zusammengeworfen, machten Dunmall und Edwards das Beste daraus – und außergewöhnliche Musik dazu.

Weil Paul Dunmalls musikalische Prioritäten und Präferenzen mir persönlich nahe stehen, ist er in den letzten Jahren zu einem der Musiker geworden, die ich am liebsten höre, wenn auch meist aus geografischer Distanz und auf Platte, wobei das Spektrum vom London Jazz Composers Orchestra über Mujician, Danny Thompsons Whatever, Elton Deans Gruppen bis zu Duos mit Paul Rogers und der Sängerin Poly Bolton reicht. Dazu kommen noch Pauls eigene Bands. Dunmall hat die beiden wichtigsten Entwicklungen in der englischen Musik der letzten 50 Jahre – freie Improvisation und das Folk-Revival – mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und sie in seiner eigenen Musik zusammengeführt, was mit seiner Leidenschaft für den späten Coltrane zu tun hat (dessen musikalische Befreiung ja auch auf das Studium indischer Klassik und anderer Weltmusik-Traditionen zurückzuführen ist). Dunmall, der sogar mit Alice Coltrane gespielt hat, als er Anfang der 70er in Amerika lebte, und wahrscheinlich mehr Berechtigung hat, sich von Trane inspirieren zu lassen, als die meisten seiner Kollegen, vereint diese Elemente auf eine unschematische und immer organisch klingende Weise. Er lässt sich vom Instinkt leiten, während Butcher vielleicht eher ein Denker oder Konzeptualist ist (was nicht implizieren soll, dass eine der beiden Herangehensweisen besser oder schlechter ist als die andere).

Als ich Dunmall das erste Mal Dudelsack spielen hörte – auf dem Album “Colours Fulfilled” der Gruppe Mujician (mit Keith Tippett, Paul Rogers und Tony Levin) – liefen mir Schauer über den Rücken. Ein unglaublicher Sound – und einer, auf den ich irgendwie gewartet hatte. Wie bei dem letzten Teil eines Puzzles schienen auf einmal alle möglichen Querverbindungen sichtbar zu werden. Von Sekunde zu Sekunde ergaben sich neue Farben, die an die unterschiedlichsten Musikrichtungen erinnerten. Das gilt genauso für das lange Duett mit Edwards auf dieser CD. Assoziationen in Hülle und Fülle. Pibroch? Ayler? Die shehnai von Ustad Bismillah Khan? Die Sinustöne früher elektronischer Musik? Ein ganzer Regenbogen an Möglichkeiten scheint sich auszubreiten, wenn Dunmall die pipes spielt. Warum ist dieses Instrument in der Jazz-basierten Improvisation nur so gründlich ignoriert worden, seit Sonny Rollins Rufus Harley das eine oder andere Solo gestattete? Seine Kapazität für atonalen oder modalen freien Ausdruck wird hier auf überzeugende Weise demonstriert.

Dunmall arbeitet, wie ich inzwischen erfahren habe, an dieser Technik schon seit einem Jahrzehnt und begann das erste Mal in Danny Thompsons Folk/Jazz-Band Whatever neben dem Saxophon-Kollegen Tony Roberts (der auch eine Variante des Dudelsacks, die Northumberland Pipes spielt) zu experimentieren. Seitdem hat er einige Instrumente durchprobiert, zuerst den bulgarischen Dudelsack, dann die Northumberland Pipes und die Border Pipes, die man auf diesen Aufnahmen hört.

John Edwards findet vom ersten Augenblick an seinen Platz neben Dunmall. Er stellt den überblasenen Tönen des Dudelsacks seine rauen Ponticello-Harmonien gegenüber, erfindet eigene Bordun-Klänge oder unterlegt die Aktion mit taumelnden Rhythmen. Auch als Dunmall zu seinem wunderbar lyrischen Sopran wechselt, reagiert er sofort, mit gitarrenähnlichen Akkorden und blitzschnellen Runs. Ein außergewöhnlich einfallsreicher Bassist, der sich rasch durchgesetzt hat, wenn man bedenkt, dass er sein Instrument erst seit 1987 spielt. Zunächst segelte er im Windschatten des Punk-, Art- und Noise-Rock mit Bands wie den Pointy Birds, God, B-Shops for the Poor, den Honkies und anderen extravagant benannten Formationen. Der Schwerpunkt auf Soundstruktur und rohe Energie in diesem Bereich (im Gegensatz zu den “cleveren” Noten und Phrasierungen, auf die es im zeitgenössischen Jazz ankommt), müssen eine nützliche Vorbereitung für den Sprung in die freie Improvisation gewesen sein. Heute gehört Edwards zur ersten Garde der Sound-Maler.

Kaum jemand, der über John Butcher schreibt, versäumt es, Evan Parker als Bezugspunkt zu nennen, doch obwohl dessen Einfluss unbestreitbar ist, gibt es bei der Anwendung der “extended technique” wesentliche Unterschiede zwischen den beiden. Während Parker meist Sound auf Sound schichtet und so gut wie kein Interesse an Stille zeigt, scheint Butchers Musik immer in dem sie umgebenden Raum verankert zu sein: winzige Klangfragmente werden in den Äther gesandt, multiphonische Muster und ungewöhnliche Harmonien wechseln sich ab mit spannungsvollen Pausen, und aus den Momenten der Ruhe steigen Wolken zarter Obertöne auf und kehren in sie zurück wie fallender Regen. Da Butcher früher Physiker war (Spezialgebiet: Charm Quarks), wird ihm in der Jazzpresse gern das Attribut “Klangwissenschaftler” angeheftet, doch seinem Spiel fehlt alles Akademisch-Nüchterne. Es steckt voller Emotionen, und man spürt, dass auch Butcher gefühlsmäßigen Anteil an den Klängen nimmt, die er während des Spielens entdeckt. Es war dieses konzentrierte, angestaute Gefühl in seinem Sound, das John Stevens so gefiel und Butcher zu einer so wertvollen Stimme in der letzten Ausgabe des Spontaneous Music Ensembles machte.

Butcher und Edwards haben einige Kapitel gemeinsamer Geschichte geschrieben, unter anderem in einem Quartett mit dem Harfenisten Rhodri Davies und dem Schlagzeuger Martin und im Trio mit dem Keyboarder Pat Thomas. Die fast unheimliche Präzision der Duette, die hier unter dem Titel “Rhymes” versammelt sind, mag darauf zurückzuführen sein, dass sich diese Männer musikalisch sehr gut kennen, haben meiner Meinung nach aber auch etwas mit Butchers Gefühl für Form zu tun. Als einer der ersten free player betonte er: “Improvisation und Komposition sind keine sauber voneinander zu trennenden Tätigkeiten” (man lese seine Liner Notes zu “Thirteen Friendly Numbers” auf dem eigenen Label Acta). Dementsprechend führt und formt John Butcher kaum merklich jede Musik, an der er beteiligt ist, und kompo­niert spontan, aus dem Moment heraus. In seiner Arbeit ist konzentrierte Aufmerksamkeit wichtiger als unkritische Hingabe an den Fluss der Musik.

Hat es etwas zu bedeuten, dass sich die drei Musiker, die wir hier hören, nur in den letzten fünf Minuten zum Trio zusammenfinden? John Butcher und Paul Dunmall repräsentieren sehr gegensätzliche musikalische Konzepte. Butchers fast verbissene Konzentration auf das Detail weist ihm oft die Rolle des Miniaturisten zu (selbst die längere Improvisation Knotted” ist eigentlich eine Folge einzelner, in sich geschlossener Episoden). Er arbeitet häufig von innen nach außen; technische Überlegungen werden zum “Thema” der jeweiligen Improvisation. Dunmall geht sehr viel großzügiger mit seinen Sounds um – er trägt die Farben dick auf – und ist immer bereit, dorthin zu gehen, wohin ihn eine ordentliche Lunge (oder ein Sack) voll Luft führen mag. Das gilt vor allem im freien Bereich; wo es “straighter” zugeht, verlässt auch er sich eher auf solides Jazz-Handwerk. Paul Dunmalls Spiel ist immer noch deutlich im Jazz verwurzelt, während Butcher dieses Idiom praktisch aufgegeben, ja eigentlich, wenn man es streng definiert, nach seiner College-Zeit nie wirklich praktiziert hat. Butcher kam zur freien Improvisation in der Gruppe, als er sich durch Stockhausens offenere Partituren arbeitete, und seine umfangreiche Diskographie zeigt die ausschließliche und kompromisslose Festlegung auf freie Improvisation und neue Musik. Dunmall dagegen hat zusammen mit Johnny “Guitar” Watson dem Blues Reverenz erwiesen, Rock und Folk gespielt, und mit den Standards kennt er sich auch aus – ein kürzlich erschienenes Album trägt den Titel “Bebop Stardust”. Etwas haben die beiden Saxophonisten dann aber doch gemeinsam: Elektronik. Beide arbeiten an Projekten, bei denen es um Echtzeit-Soundprocessing geht.

“Hit And Run”, das Titelstück dieser CD, ist ein schwungvoller Ausputzer, genau die richtige Portion heilsamen Lärms, um dem Ganzen einen würdigen Abschluss zu geben. Der Name passt: sammeln, angreifen und dann nichts wie weg, scheint die Botschaft zu sein. Trotzdem sind die Duette mit ihren vielen Kontrasten und Gegenüberstellungen zweifellos das Fleisch in der Suppe. (Nach einem Konzert, bei dem er und Gary Peacock nicht ein einziges Mal gemeinsam auf der Bühne gestanden hatten, erklärte Paul Bley dem wutschnaubenden Veranstalter: “Im Vertrag stand nicht, dass wir zusammen spielen müssen.”) Butchers und Dunmalls Kunst lässt sich am besten einzeln genießen, während der unendlich vielseitige Bass von “Mittelsmann” John Edwards diesem Album den roten Faden liefert. Doch am Ende bleibt vor allem – und nicht zum ersten Mal – Bewunderung für die Vielfalt britischer Improvisation.

Übersetzung: Caroline Lake

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