FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 117

Peter Niklas Wilson

 

Disput am Nebentisch

Ich wüsste gern, worüber da an jenem Novemberabend post factum am Nachbartisch so engagiert debattiert wurde. Engagiert, kontrovers, ja sogar erregt, emotional. Spannung war eindeutig im Spiel. Spannung auf der Bühne wie abseits von ihr. Spannung entsteht zwangsläufig, wenn neun Musiker vor Publikum 68 Minuten lang eine so konsequent reduzierte, so konsequent sprach-lose, will sagen: auf rhetorische Figuren der europäischen oder afro-amerikanischen Musiktraditionen verzichtende Musik spielen. Eine Musik, zu deren zentralen Prämissen zählen: Transparenz und Sparsamkeit. Eine Vorliebe für delikate, filigrane Strukturen. Freiraum für die Stille. Die De-Vokalisierung des instrumentalen Spielideals zugunsten präzise modellierter Geräuschfiguren. Die Preisgabe überkommener Vorstellungen der Organisation von Mehrstimmigkeit (Homophonie, Polyphonie) für eine Logik der Klangtexturen, mal pointillistisch aufgefächert, mal flächig geschichtet. Eine Musik, die sich, bei aller Vorliebe fürs Pianissimo, für Grenzgänge am Rande der Stille, doch keineswegs in somnambuler Trägheit ergeht, sondern eine fast subkutane, aber höchst lebendige Mikro-Dynamik der blitzschnellen Ensemble-Reaktion in sich birgt. Eine Musik, die, bei aller Traditionsferne natürlich auch ihre eigenen Traditionsstränge hat. Solche, die beispielsweise von Anton Weberns Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 herführen. Von den Erfahrungen der bahnbrechenden Improvisationsensembles der sechziger Jahre, von AMM und der Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza. Nicht zu vergessen die eigene Tradition eines Ensembles, das – die äußerst magere Dokumentation auf Tonträgern lässt es allzu leicht vergessen – 1998 bereits auf eine 15-jährige Geschichte zurückblicken konnte.

Die ästhetischen Determinanten also waren an jenem Novemberabend bekannt, zumal einem Publikum ausgewiesener und anspruchsvoller Improvisations-Conoisseure und –Conoisseusen wie dem des Total Music Meeting, und doch war die Spannung beim Auftritt des King Übü Örchestrü mit Händen zu greifen. Vielleicht, weil solche Musik noch immer einen provokanten Gegenentwurf zur gestischen Energetik der meisten improvisierten Musik darstellt. Vielleicht, weil das Nonett diesmal noch sparsamer, noch näher am Zerbrechen des musikalischen Kontinuums, an der Nicht-mehr-Musik agierte als die zehnköpfige Vorgänger-Formation, die 1992 die CD „Binaurality“ (FMP CD 49) eingespielt hatte. Vielleicht, weil es unter den (ohnehin nicht allzu zahlreichen) größeren Ensembles der improvisierten Musik kaum welche gibt, die so konsequent dem Jetzt vertrauen wie das King Übü Örchestrü, die nicht doch die musikalische Gestaltung wenigstens ein Stück weit an graphische Partituren (wie das britische Chris Burn’s Ensemble), an explizite Spielregeln nach Art John Zorn’scher game pieces, an Handzeichen-Systeme à la Fred Frith oder Rova oder gar die dirigentische Hand eines Butch Morris delegieren.

Spannung wohl auch ob Wolfgang Fuchs‘ Vorliebe, eine allzu große ästhetische Homogenität des Ensembles (und damit eine allzu große Vorhersehbarkeit des musikalischen Resultats) durch auf den ersten Blick irritierende Besetzungs-Entscheidungen aufzubrechen: Was hat, so mochte man sich vor dem Konzert im Berliner Podewil fragen, ein in Improvisations-Zirkeln weitgehend unbekannter Musiker wie der Italiener Fernando Grillo, einer der beeindruckendsten Kontrabass-Virtuosen der Neuen Musik, in diesem Ensemble von hardcore-Improvisatoren zu suchen? Warum ausgerechnet der Marseiller Tischgitarren-Anarchist Jean-Marc Montera, ein – wie sein Duo-Auftritt mit Louis Sclavis am gleichen Abend belegte – eindeutig einem merklich expressionistischeren Spielideal als die anderen King Übü-Akteure zuneigender Improvisator? Solche gezielten, spannungs-steigernden Irritationen, so könnte man antworten, tragen dazu bei, die Musik des King Übü Örchestrü im Jetzt zu verankern, das klangliche Ergebnis offen zu halten, erlebnisoffen statt „ergebnisorientiert“, wie eine Zeitgeist-Vokabel penetrant einfordert. Improvisierte Musik, wie King Übü sie praktiziert, erwirtschaftet eben keine berechenbare akustische Rendite, kein Betriebs-Ergebnis nach dem Kriterium des maximalen shareholder value. Der Mehrwert der spielenden wie hörenden Teilnahme an dieser Musik ist anderer, schwerer quantifizierbarer Natur. „Wenn ich mich von vornherein nur am Ergebnis orientiere“, hat Übü-Spiritus rector Wolfgang Fuchs 1999 in einem Interview mit Martin Pfleiderer gesagt, „renne ich meiner eigenen Erwartungshaltung hinterher und verbaue mir einen möglichst direkten Zugang auf die Mitspieler hin.“

Und so gab es an jenem Novemberabend sicher genügend Erwartungen, die unerfüllt blieben. Man nehme nur das letzte, ausgedehnte (allzu ausgedehnte?) Stück. Mindestens dreimal, bei 11:30, bei 18:30 und bei 27:15, ist eine klassische Schlusssituation improvisierter Musik erreicht: ein „schöner“, „runder“ Schluss, wie man meinen könnte. Und jedes mal gibt es einen Musiker, der die Stille nach dem Diminuendo nicht als Schluss, sondern als fruchtbare Pause, als Nährboden für eine neue musikalische Situation begreift, möglicherweise zur heftigen Irritation seiner Partner. Vielleicht wurde auch darüber nach dem Konzert so engagiert debattiert, an jenem Nachbartisch im italienischen Lokal neben dem Podewil, wo die Musiker des King Übü Örchestrü saßen, tranken, und sich offenbar gar nicht einig waren, ob das, was sie da gerade gespielt hatten, denn nun „gelungen“ war. Ob man nicht früher hätte schließen sollen. Aber eigentlich war diese Debatte ja eigentlich bereits in Tönen ausgetragen worden, in einer klingenden Kollektiv-Reflexion über die Form, über das Formen von improvisierter Orchester-Musik.

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