FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 1989-2004

FMP CD 120

Volker Spicker

 

Wenn Musik so sehr bewegt, dass sich, hin- und hergeworfen, die eigene Orientierung zu Gunsten der dargebotenen scheinbar auflöst angesichts der Fülle von Wahrhaftigkeit und Mannigfaltigkeit, von Energie und Kommunikation, dann erlebt man einen Prozess, der die Potenz hat, einen selbst zu verändern. Das Konzert des Cecil Taylor Ensembles beim 29. Total Music Meeting der Free Music Production im Podewil in Berlin war so ein seltener Höhepunkt und mit dieser Aufnahme ist er wieder durchlebbar.

Cecil Taylor ist der bedeutendste Free Jazz-Pianist aller Zeiten, Erfinder einer völlig neuen Art des Klavierspiels und des Improvisierens. Er beeinflusste Generationen von Jazzmusikern weltweit, seine Solo- und Ensembleimprovisationen haben längst Musikgeschichte geschrieben. Mit der Free Music Production in Berlin verbindet Taylor schon lange eine Freundschaft. Die FMP-Produktionen haben seinen Weltruhm mitbegründet und gefestigt. Immer wieder kam er nach Berlin um beim “Total Music Meeting” in verschiedensten Konstellationen zu spielen. 1996 war es wieder soweit.

An jenem Novemberabend betrat das Cecil Taylor Ensemble sich langsam entwickelnd, leise vokalisierend, tanzend und gestikulierend die Bühne und ebenso verschwand es wieder. Opernhaft, denn die Charaktere auf der Bühne waren nicht nur Interpreten, nicht nur Musiker, sondern sich als spielende ganze Menschen darstellende Individuen eines Kollektivs. Taylor, der sich in seinen Performances schon länger vom Klavierspielen allein hin zum Pianisten-Dichter, -Mimen, ­-Tänzer und -Schamanen entwickelte, führte als starkes kreatives Zentrum auch sein Ensemble dorthin. Ouvertüre, Intermezzo und Epilog wurden so zu ganzheitlichen Ein- und Ausschwingphasen, die wie bei einer Meditation ihr Ziel erreichten. Einfühlsam nahm das Ensemble Besitz von Raum und Publikum, schärfte das Bewusstsein eingangs mit kleinen Impulsen, die die Aufmerksamkeit schon vielseitig lenkten, mit ihrer kommunikativen Energie innige Verbundenheit demonstrierten und das Ensemble als musikalisches und soziales Kollektiv präsentierten. Eine herzliche Einladung, einzusteigen und mitzureisen in neue Dimensionen.

Was folgte, war der totale Prozess. Total vereinnahmend, total transparent, total komplex und total frei. Er war so total, wie Musik, wie Prozesse, wie das Leben sein kann oder könnte oder immer ist. Einmal losgelassen fand man sich in so dichter, so vielseitiger wie schlüssiger Kommunikation wieder, dass sie das Bewusstsein vollkommen erfüllte. Aber nicht für einmal, nicht für einen Augenblick oder Höhe-Punkt sondern auf Dauer, während des gesamten Prozesses. So gefesselt von vielfältigen Impressionen erlebten wir eine dramatische Reise durch uns selbst, erfuhren, wie das eigene Leben sein kann oder könnte oder immer ist, denn jetzt machte sich Überwältigung breit, erfüllte uns die Musik ganz. Das Cecil Taylor Ensemble übernahm das Steuer und speiste uns mit schier unendlich variabler Energie. Es befreite uns. Die Präsenz des Ensembles war ergreifend. Ein Rausch, eine Ekstase, singulär in der Welt der Musik. Dieses Konzert reorganisierte das eigene Bewusstsein, führte in ungewohnte Gefilde, nahm überraschende Wendungen, konzentrierte sich dabei auf das Wesentliche, das Lebende, führte vor, was es bedeutet, frei und kreativ zu sein, zu leben. Die Musik spiegelte geradezu die unendlichen, sich gleichzeitig in und um uns abspielenden Prozesse, die das Leben sind und weckte dafür die Sensibilität und Aufmerksamkeit.

Voraussetzung ist, bereit zu sein loszulassen von Erwartung, Gewohntem, sich hinzugeben. Denn so eindrucksvoll die Erfahrung eines Konzertes mit dem Cecil Taylor Ensemble ist, so erschütternd kann es für Hörer sein, die unvorbereitet zum ersten Mal so in eine neue Dimension katapultiert werden. Sogar Die Zeit bemerkte in einer Rezension dieses Konzertes, dass sich hier die “Grenzen des musikalisch Erträglichen” fänden. Vielleicht finden sich hier die Grenzen des Erträglichen, weil nämlich so kompromisslos dargestellt wird, wie frei Menschen sein können und dürfen und wie fruchtbar die Freiheit für alle ist. Wie inspirierend und lustvoll das Spiel miteinander ist, wie energiegeladen und friedlich, wie spannungsvoll Wandlungen sind, wie rasant, anders, als man denkt. Wie die Beziehungen untereinander gesponnen werden, was nötig ist als Rahmen oder Form für gemeinsames kreatives Schaffen. Eine so beeindruckende Alternative ist wenig erträglich für die konformistische Gesellschaft, die ganz anders funktioniert, für die Erwartung des Gewöhnlichen. Das musikalisch Erträgliche jedoch findet seine Grenzen nicht hier, sondern doch im Gegenteil dort, wo Kompromisse, Kommerz, Gefälligkeit und Eingängigkeit total regieren, im Populären und im Konservativen, die eben keine ernstzunehmenden Alternativen mehr anbieten, sondern im Rahmen dessen bleiben, was sie hervorgebracht hat.

Das Cecil Taylor Ensemble bietet solchen Halt nicht. Dafür den mitreißenden Strom maßloser Lebens-Energie. Die authentische Wahrheit großer Musik. Zweifellos noch immer so revolutionär wie modern, lebendige Musikgeschichte, die mit dieser Aufnahme ihre würdige Fortschreibung erlebt. Sie wird im Werk von Cecil Taylor die Sensibilisierung für so einzigartige, selten intensive musikalische Erfahrungen befördern. Es war ein unglaublich bewegender Prozess. Ich bin noch anders dabei gewesen

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