FMP/FREE MUSIC PRODUCTION - An Edition of Improvised Music 2010

FMP CD 147

Ulrich Kurth

 

Peter Kowald: Was da ist (live)

„Was da ist, das ist ja sehr viel, eigentlich fast alles. Ein großer Sack, aus dem ich ziehe, alles auf den Tisch: … wie Luft, Regen, Sonne, Kälte, Wärme … im Augen-Kontakt, nicht übersehbar, im Ohren-Kontakt, nicht überhörbar. Nicht alles im Blickwinkel der Ohren, auch Niemandsland der Wahrnehmung, schwarze Flecken, finstere Felder. Aber trotzdem ist da soviel … ich versuche zu begreifen, zu fassen, zu nutzen und zu lassen, nehme, was da ist.“

Peter Kowald über sein Solospiel auf der ersten CD unter dem Titel „Was da ist“ im Jahr 1994. Er nahm die 23 Stücke allein im Studio auf und nannte sie „Part 1“ bis „Part 23“. 2000 hingegen zog er eine konzertante Version vor, die beim TMMcompact entstand. Das Ergebnis waren 7 Stücke, die er lediglich von „A“ bis „G“ durchbuchstabierte, darüber drei einsilbige Wörter mit der vermutlichen Betonung auf dem zweiten. Betonungen auf dem ersten oder dritten Wort wären einengend, zielten sie doch auf die Eingrenzung einer streng definierten musikalischen Sprache oder ästhetischer Bestimmtheit. „Der große Sack“ jedoch ist ein Bild des freundlichen Staunens vor einem Kontrabass-Kosmos, den zu erkunden Neugierde und Behutsamkeit erfordert. Denn auch der Kontrabass kann eine Welt un-erhörter Klänge zwischen vertrauten Regionen und „schwarzen Löchern“ öffnen. Kowald war sein Leben lang ein bewusster Klangforscher, der seine Entdeckungen von musikalischen Strukturideen leiten ließ. Er unterschied zwischen horizontalem und vertikalem Fortgang, manifest im rhythmischen Geflecht: Die horizontale Musik (und das ist der weitaus größte Teil der existierenden Musik) besitzt ein kontinuierlich gegliedertes Strömen im Zeitverlauf, die vertikale postuliert demgegenüber diskontinuierliche Schichtungen bzw. Folgen von Klängen oder Tönen. Die Idee einer „vertikalen“ Musik beschäftigte auch die englischen Improvisatoren Derek Bailey und Tony Oxley, mit denen Kowald gearbeitet hat. Die beiden Modelle setzt er dramaturgisch ein, selten in reiner Form. Das vertikale Spiel verändert beim Zuhören die Wahrnehmung der Zeit und kann zu Empfindungen von gedehnter Zeit oder zur Komprimierung der Zeit auf den „Augenblick“ führen, der kein objektiv messbares Zeitmaß ist. Die Bewegungen in Kowalds Improvisationen spiegeln auch optische, literarische und akustische Erfahrungen eines aufmerksamen Beobachters, der häufig mit Tänzern, Malern und Literaten gearbeitet hat. Sie sind Sedimente philosophisch gefilterter Beobachtungen eines Reisenden. Dazu gehören auch die Schnitte und Überblendungen der Technik des (Trick)Films oder die verkürzte Sprache von Comics. Sie äußern sich auch in abrupten Veränderungen der Spiel-Energie.

Überblendungen und vertikale Schichtungen erscheinen bereits im ersten Stück, mit dem Kowald sein Konzert eröffnete. Es beginnt unscheinbar mit einem dreitönigen Motiv in gestrichenen Flageoletts. Die Bewegung assoziiert eine Choreographie in sehr kurzen, schnellen Teilen, Kowald repetiert und collagiert das Motiv, schichtet es vertikal mit zunehmender Intensität und Dichte. Die Passage endet in einem wirbelnden Klangfeld, das nach 2 min., 12 sec. abreißt. Er hält inne, knüpft an das Klangfeld an und führt es zu einem Ostinato in tiefster Lage. Seine Imagination schließt neben choreographischen Vorstellungen auch klangliche ein, und da ist es nur konsequent, wenn er jetzt auch seine Stimme mit einem Unterton einsetzt, erzeugt mit der Kehlkopf-Gesangstechnik. Es ist der dramaturgische Wendepunkt des Stücks. Er kontrastiert das E-Ostinato mit hohen gestrichenen Flageoletts, mit Geräuschanteilen des Bogenstrichs. Nach einem weiteren Klangwirbel beendet er das Stück mit einer Variation des Motivs vom Anfang in hart gestrichenen Quarten.

„Was da ist – Part A“ ist eine strukturierte Improvisation aus einem Guss, die von einem Motiv ausgehend einen Bogen spannt, der die innere Verbindung mit dem Motiv nie aufgibt. Kowald orientiert sich auch in den anderen 6 Stücken der CD an Parametern seiner musikalischen Sprache, deren Elemente er in einer eigenen Instrumentaltechnik entwickelt hat. Diese improvisatorische Konsequenz macht seinen Rang als stilbildenden Musiker aus und kennzeichnet die meisten seiner Aufnahmen, deren Magie aus dem strengen aber nicht angestrengten Handwerk erwächst. Was da ist.

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