FMP S-SERIES (S-numbers) 1981-1991

FMP S-20/21

Konrad Heidkamp

 

Hinweis: Zum Frühstück ist diese Platte nicht zu hören, auch nicht während des Zeitungsblätterns und nicht nach der Arbeit zur Entspannung. Sie ist anstrengend und spröde, man müsste sich dazu hinsetzen, um sie wie ein Buch zu lesen. Ein Entschluss, der schwer fällt. Eine unzeitgemäße Musik.

Dreißig Schallplatten bekomme ich etwa im Monat zugeschickt. Von Konzernen, unabhängigen Labeln, der Underground-Szene. Auflegen und Abnehmen ist eins. Nicht, dass ich mich ärgere, es ist nur ein mechanischer Handgriff ohne Folgen. Wie das Wegstellen leerer Weinflaschen, das Einordnen des Geschirrs, jedes hat seinen Platz, Handgriffe, die die gewohnte Ordnung wiederherstellen. Die kleinen Teller links von den Kuchentellern, die Flaschen neben die Abfallplastiktüte – nie verwechsle ich die Orte. Zwischen den Tellern und den leeren Weinflaschen gibt es keine Beziehung. Sven-Åke Johanssons und Alexander von Schlippenbachs Musik verführt dazu, die Flaschen endlich einmal zwischen die Teller zu legen.

Die Handlung des Singspiels „…über Ursache und Wirkung der Meinungsverschiedenheiten beim Turmbau zu Babel“ wiederzuerzählen, erklärt nichts. Zu sehen ist ein musikalischer Raum, mit Personen, Geräten, Instrumenten, Stimmen, Geräuschen und Klängen. Die Personen warten auf den Baumeister, der nie kommt. Das Bauholz, die Ziegelsteine und die Mischmaschine werden vorgeführt, es geht um ein Frühstück, die Hitze, den Regen und die Sonne danach. Der Turmbau zu Babel wird nie in Angriff genommen, die „Ursachen und Wirkungen“ dafür sind ganz unten zu sehen.

Deutungen und Interpretation bleiben ein belangloses Spiel. Am Anfang des Stückes steigt eine Tänzerin die ‚Himmelsleiter’ auf die Bühnenerde herab. Eine Verkörperung des „Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren“? Wer ist der Baumeister? Warum kreist Jeremy mit den Ziegeln immer im Uhrsinn um den Sandhaufen? Fragen, die man stellen kann, aber nicht beantworten muss. „Das Ganze soll (nicht wie im Traum), sondern wie Akkorde wirken. Wie Musik. Es darf nie als Symbol, oder als Sinn, als Gedanke, sondern bloß als Spiel mit Erscheinungen von Farben und Tönen wirken“ schrieb Arnold Schönberg zu der Darstellung in seinem Drama „Die glückliche Hand“. In dieser Richtung liegt ‚Babel’ am Ende einer leeren Straße, die nach Schönberg nur wenige betreten haben. Auch in anderen Bausteinen ist die Nähe zu Schönberg zu spüren. Der Begriff des ‚szenischen Singspiels’, das kleine Kammerorchester mit sechs Solisten, dazu die Sprechstimmen mit ihrer Sprechmelodie, die nie zur „singenden“ Sprechweise wird. Ein konsequentes Konzept der theatralischen Unwirklichkeit, das bei Schlippenbach und Johansson musikalisch und visuell auf die ‚Poesie der Gegenstände’ ausgeweitet wird.

Auf der Platte ist vieles nur als Musik zu sehen, was auf der Bühne als Gegenstand zu hören ist. Das Knallen und Schließen der Tür des Bauwagens ersetzt das faszinierende Dasein des Bauwagens. Was passiert in diesen Bauwagen, die einen Ort erst zur Baustelle erklären? Die Baustelle ist offen, das Leben in den Bauwagen bleibt geheimnisvoll. Niemand, den ich kenne, war jemals im Inneren eines Bauwagens. Die Mischmaschine – als Zentrum, über dem die Harfe schwebt, dreht sie sich in der 4. Szene in einem drohenden Solo, am Ende der 8. Szene zu einem chaotischen Finale aller Instrumente, verharrt dann, während das offene, quietschende Sopranino in der Luft hängt. Die Schaufel – Johansson schiebt sie, den Boden entlang gleitend, in den Sandhaufen. Rhythmisches Schaben von Sandkörnern mit einem Wischen punktiert, wenn der Sand in die Mischmaschine fliegt. Schuhsohlen quietschen und knarren und geben durch Bewegung die Pausen und das Metrum der Arbeit vor.

Gegenstände des Alltags als Klangerzeuger zu verwenden, ist nicht neu, aber darum geht es nicht. Der Raum der Musik wird neu vermessen. Gewohnt ist man an eine Klangquelle, ob Lautsprecher oder Musiker, wobei der Raum nur dazu dient, die Quelle optimal zum Klingen zu bringen. Die gute, alte Akustik. Alles andere wird als Störung empfunden, das Husten, Räuspern, die Türen der Zuspätgekommenen. Die Schallplatte ist davon zu reinigen. Johansson und Schlippenbach verlegen die menschlichen Störungen in den Musikraum und das Husten und Lachen auf der Platte wird zur Begleitmusik der Bühnenspielszene. Die Arbeit des Zuhörers entspricht der Arbeit des Musikers.

Johansson, der schon 1979 ein Cottbuser Arbeiter-Kollektiv auf der Bühne ein Stahlgestell schweißen ließ, und mit einer Gruppe dazu improvisierte, setzt Töne und Klänge in den Raum, um Verbindungen herzustellen. Die Bassklarinette am Anfang nach der Harfeneinleitung klingt dabei wie eine Holzsäge, die Mischmaschine wie ein Schlagzeug, das Schlagzeug wie das Krachen und Schleifen von Arbeitsgeräten. Nicht der Aha-Effekt des ‚Wie’ ist wichtig, sondern das Verhältnis der Schwingungen im Kopf der Hör-Arbeiter. Die Gegenstände werden nicht vorgeführt, sie werden mit Sorgfalt und Liebe „begutachtet, gelobt, hingehalten und die Maße besungen“. Rote Rathenower Ziegelsteine tönen anders als gelbe Birkenwerdersche. Ein Brett mit den Maßen 5 mal 40 mal 4 kracht nur wie ein Brett, das 5 mal 40 mal 4 misst, keinen Ton abweichend. Die Kenntnis der Maße, die genaue Beschreibung des Feuchtigkeitsgrades des Lehmbodens, die Angabe der Temperatur, es sind die Voraussetzungen der Töne, über die Wirkungen sagen sie nichts aus. Die Poesie steckt im ROT, im GELB, in den Astlöchern der Bretter. Herrn Fahrenheit ist es so heiß wie Herrn Reaumur wie Herrn Celsius, auch wenn sie andere Maßstäbe anlegen: „heiß ist es immer noch hot- hot- hot, hot.“

„Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache.“ Der Baumeister hat sich anfangs in den Zollstock verwickelt, am Ende sind die Maßeinheiten geändert worden – der Turmbau zu Babel scheitert an der Verwirrung aller Maß-Stäbe. Schlippenbach und Johansson zerbrechen den Zollstock, setzen ihn neu zusammen und beobachten, was geschieht. Themen (Melodie 1-8) aus „Auf einem persischen Markt“ kleben fugenlos an freien Improvisationen, das Kunstlied neben dem Musical, das Rezitativ an der Harfenseligkeit. Shelley Hirsch schnattert, stottert, trällert sich von der Oper zum Chanson, in bekannten und fremden Zungen. Es sind keine Zitate, es sind Babeloge aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Technik verwandelt sich über den Anklang im Leben. Shelley Hirsch ist das virtuose, weibliche Gegenstück zu Johanssons männlicher Sachlyrik. Sie stöhnt lasziv in gurrendem Seufzen und höchsten Tönen – verhauchende Tonschwaden von fast unerträglicher Schönheit – und Johansson unterbricht die Stimmung mit seiner Feststellung: „Sexundsechzig Grad im Vorjahr…“ Sie singt sich durch ein Potpourri aus Regenliedern und er führt sie in den Bauwagen heim mit dem Satz „Aber jetzt reicht’s! Komm!“ Optische und musikalische Aktionen, die Humor möglich machen, aber nicht erzwingen, die in ihrer Offenheit frei bewohnbar bleiben. Auch bei geschlossener Tür.

Assoziativ und konstruiert tastet sich Johansson an den Wort- und Tonfolgen entlang, um das Gefühl einzukreisen, manchmal komisch, wie im Frühstückslied über Dikmilk und Orangenjuice, manchmal tiefsinnig hintergründig, wie im Lied auf die stumme Mischmaschine und den Sand gemäßigter Korngröße. Spanisch, Russisch, Kunstsprache – die babylonische Sprachverwirrung entspricht der Musikverwirrung.

Sprechen und Singen klettern über Musiktitel, Sprachfetzen und Wortanklänge, bis sie zwischen der sachlichen Beschreibung und der emotionalen Beliebigkeit in die Zone der poetischen Eindeutigkeit vorstoßen. Die Materie wird sinnlich, das Sinnliche konkret. Das Projekt des Turmbaus zu Babel findet sich auf den Kopf gestellt. Die Spitze des Turmes berührt den Himmel schon auf Erden, die musikalische Sprachverwirrung ist der einzige Weg, sich verständlich zu machen.

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