FMP-RECORDS (SAJ-Numbers) 1974 - 1991

SAJ-24

Hellmut Kotschenreuther

 

Spontaneität, Kreativität und Phantasie können nicht geplant, nicht dekretiert werden. Aber es ist möglich, einige Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie, sofern sie wenigstens keimhaft existieren, sich relativ ungestört entfalten können. Eben diese versuchten die Westberliner "Free Music Production" und der "Deutsche Akademische Austauschdienst" (DAAD), als sie im Frühherbst 1978 zwanzig Jazzmusiker aus Berlin, der Bundesrepublik, Belgien und Dänemark Gelegenheit gaben, in einem elftägigen Workshop unter der Leitung des einschlägig erfahrenen Saxophonisten John Tchicai mit neuen, respektive im Jazz noch wenig erprobten Klängen und Strukturen zu experimentieren, sozusagen in einem Freiraum, der abgeschirmt war gegen Zwänge und Verlockungen des kommerziellen Musikmachens.

Die musikalischen Ergebnisse der Workshop-Arbeit wurden vom 1. bis 3. September 1978 im "Café EinStein" vorgeführt, sie erwiesen sich, so der Berliner "Tagesspiegel", als "zum Teil schlechthin faszinierend": Newport und Donaueschingen, die Berliner Jazztage und Darmstadt waren in ihnen gewissermaßen zusammengeschaut, zusammengefühlt, zusammenkomponiert und -improvisiert. Das dreitägige Programm brachte an seinen Höhepunkten Kompositionen und Improvisationen, die das Vokabular der jüngsten Kunstmusik mit derselben inspirierten Unbefangenheit nutzten wie die neuen Ausdrucksmittel des konsolidierten Free Jazz, hohe Orchester-Cluster beispielsweise aus den Klang-welten Pendereckis und Ligetis, weitgespannte choralähnliche Bläser-Bögen von schier Bruckner-scher Gewalt, Instrumentaldialoge von bizarrer Expressivität, Einstürze und Zusammenbrüche des Sounds, die durchaus an gewisse katastrophische Verfinsterungen bei Gustav Mahler erinnerten und doch in keinem Augenblick ihre Herkunft vom Jazz verleugneten.

Eine Schallplatte, auf der nur ein Bruchteil von rund sieben Stunden Musik konserviert zu werden vermag, kann natürlich auch nur einen Bruchteil dessen vermitteln, was das Publikum der drei Konzerte als "schockartige Erweiterung der Ausdrucksgrenzen des Jazz" reflektierte. Gleichwohl dürfte dieser Bruchteil zum Interessantesten gehören, was in den letzten Jahren im Jazz an Mitschnit-ten produziert worden ist. Er umfasst - teils komplett, teils auch nur im Ausschnitt - u.a. Tchicais "Kirke Varløse" und "Who is who" mit seinen rhythmischen Komplikationen im Fünfviertelmetrum und seinen heftig skandierten Klangzerstäubungen, Georg Gräwes "New Movements" mit ihrem chaotisch brodelnden Beginn und ihren dialogischen Bläser-Bizarrerien, das Fragment eines scharf akzen-tuierenden Geschwindigkeitmarsches von Ludolf Kuchenbuch, Friedemann Graefs Komposition "Surface", die nach verclustertem Beginn in Ligeti-Nähe allerlei Bedrohliches aus dem Bereich zwischen Alptraum und Science Fiction assoziiert, schließlich Hans Schneiders "Resultat, ein bis zur Hysterie sich erregendes Gebilde aus dissonanten, von schrillen Orchestereinwürfen skandierten Klavierfigurationen, Schlagzeug-Attacken und Bläser-Verknotungen, dessen Hektik schließlich in Intensität umschlägt; mit einem Wort: selbst noch der Ausschnitt aus der Konzert-Trilogie bietet ein breites Spektrum jener Möglichkeiten, die dem schöpferischen Musiker zu Gebote stehen, seit die avantgardistische Kunstmusik und der avancierte Jazz sich aneinander reiben und ineinander changieren auf dem Weg zu einer Musik, die selbstbewusst genug ist, die kategorialen Unterscheidungen zwischen der sogenannten E- und der sogenannten U-Musik souverän zu ignorieren.

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