Cecil Taylor in Berlin '88

Ekkehard Jost

INSTANT COMPOSING ALS KÖRPERSPRACHE*

*Den Titel meines Beitrages habe ich aus einem Interview
mit Cecil Taylor im Wire Magazine 46/47
vom Dezember 1987 herausdestilliert

Ein Versuch, sich mit der Musik Cecil Taylors der letzten zwanzig Jahre auseinanderzusetzen

Den Faden wieder aufnehmen...

Ende der 60er Jahre, während der Arbeit an meinem Buch über den Free Jazz, begann ich zum ersten Mal schriftlich über die Musik Cecil Taylors nachzudenken, versuchte Kategorien zu finden, die über eine bloß impressionistische Schilderung seiner damals wie heute als sperrig und aufregend zugleich empfundenen Spielpraxis hinausgingen.

Inzwischen hatte ich mehrfach Gelegenheit, Cecil Taylor live zu erleben - nach einer Aufführung seiner "Rat's Mass" in New Yorks "La Mama Annex", als ich versuchte, mit ihm über seine Musik zu sprechen, er aber nur über black dance reden wollte, wovon ich nichts verstand. Dann Konzerte und Festivalauftritte - an so unterschiedlichen Plätzen wie in der Berliner Philharmonie, auf dem grünen Rasen von Moers und im Chicagoer "Jazz Showcase", wo - am Abend zuvor - der Clubmanager Joe Segal für den Auftritt Taylors auf eine bemerkenswert bornierte Weise geworben hatte: wer sehen wolle, wie ein schöner Steinway zertrümmert werden würde, solle auf alle Fälle mal hereinschauen.

Den Faden wieder aufnehmen...

Das ambivalente Verhältnis, das ich von Anfang an zur Musik Cecil Taylors hatte, habe ich bis heute bewahrt. Eine schlechte Voraussetzung zum Verfassen eines Albentextes, dem man doch gewöhnlich die bedingungslose Apologie einer Laudatio abverlangt? Sei's drum: In der Konfrontation mit Taylors Musik gibt es fast immer ein Einerseits und ein Andererseits. Aber Ambivalenz hat jedenfalls nichts mit Gleichgültigkeit zu tun.

Den Faden wieder aufnehmen...

Hielten Conquistador und Unit Structures, was sie vor 20 Jahren versprachen? Den Aufbruch in eine Form des Free Jazz, in welchem "Spontaneität und Konstruktivität keine Gegensätze sein müssen" und dessen "Freiheit nicht einen völligen Verzicht auf jede musikalische Organisation impliziert, sondern vor allem die Möglichkeit, aus einem ... grenzenlosen Material bewusst zu wählen und gleichzeitig dieses Material so zu strukturieren, dass das Endergebnis mehr ist als ein Psychogramm der beteiligten Musiker, dass es gleichermaßen Emotion und Intellekt, Energie und Form enthalten kann." 1)

- So sah ich das damals vor rund 20 Jahren. Inzwischen dürfte klar geworden sein: Cecil Taylor ist sich und seinem musikalischen Weg treu geblieben - in einem Maße wie kaum ein anderer seiner einstigen Mitstreiter in jener Oktoberrevolution des Jazz. Da gab es keine Exkursionen in die gewinnträchtigen Rock/Funk/Punk-ldiome; kein back to the roots einer viel beschworenen Tradition, die doch vielfach nichts anderes als musikalische Regression bedeutete; keine Elektrifizierung und Digitalisierung des Klangapparats und keine malerischen Exotismen. Was sich gründlich geändert hat, ist Taylors musikalische Aufführungspraxis; sie ist theatralischer geworden, von Gesang und Tanz begleitet. Aber auch dies bedeutet keinen grundsätzlichen Wandel, denn Tanz und Theater besaßen für Taylor seit eh und je eine große Anziehungskraft. Ihre Einbeziehung in seine Auftritte ist - so gesehen - nichts anderes als eine vergleichsweise späte Überwindung der restriktiven Konventionen des Konzertrituals (Auftreten-Hinsetzen-Spielen-Aufstehen-Verbeugen-Abtreten).

Biographisches

Bis weit in die 60er Jahre hinein ist Cecil Taylors Biographie bestimmt durch existentielle Bedrohungen. Engagements sind rar und verlaufen nur selten unter akzeptablen Bedingungen. Hin und wieder gibt es Möglichkeiten zu Schallplattenaufnahmen, aber auch diese sind kaum dazu geeignet, das Überleben zu sichern. "Ich musste den Fortschritt eines arbeitenden Jazzmusikers simulieren. Ich musste den Zustand der Entwicklung selbst schaffen - oder vielmehr: dieser Zustand wurde durch die Art und Weise geschaffen, in der ich lebte", sagte Taylor 1965 in einem Interview mit Nat Hentoff. 2) Erst zu Anfang der 70er Jahre beginnt sich die Situation allmählich zu bessern. Im Februar 1970 übernimmt Taylor eine Dozentenstelle an der University of Wisconsin, wo er Workshops leitet und Kurse über "Black Music From 1920 to 1970" durchführt. Die Jahre 1972-73 verbringt er gemeinsam mit Jimmy Lyons und Andrew Cyrille als "Artists in Residence" am Antioch College; 1973 erhält er von der Guggenheim Foundation ein Stipendium und 1977 wird er am Bostoner New England Conservatory, wo er einstmals studiert hatte, zum Ehrendoktor ernannt. Zur wichtigsten Existenzgrundlage entwickeln sich während dieser Zeit seine Europatourneen. Taylor: "Mitte der 70er Jahre spielten wir 10 oder 12 Konzerte pro Tour, und bei keinem waren weniger als zweitausend Leute da. Und dann kommen wir zurück (in die USA) und lesen in den Branchenblättern, dass irgendein großer Mann aus dem Business behauptet: ,Diese Art von Musik können wir im Fernsehen nicht präsentieren, weil das Publikum sie nicht akzeptieren wird'." 3) Noch 1984 erklärt Taylor: "Nachdem wir im März in Europa all diese Konzerte gespielt hatten, war es ziemlich schwer für uns, nach New York zurückzukehren, denn da gab es nichts für uns, absolut nichts. Ich kann nicht einmal sagen, warum das so war. Jedenfalls ist es schon seltsam, denn die Amerikaner sind doch meistens davon überzeugt, dass sie den Europäern über den Kopf gewachsen seien." 4)

Cecil Taylor spielt in Europa - als Solist oder mit seiner Unit - auf allen bedeutenden Festivals und auch die meisten seiner Schallplatten werden in Europa aufgenommen - für französische, Schweizer oder westdeutsche Labels wie Shandar, Hat Hut, MPS und Enja.

Parallel zum wachsenden internationalen Renommee und ökonomischen Erfolg vollzieht sich eine Expansion in Taylors künstlerischer Perspektive. Seit eh und je interessiert er sich für das Ballett, nunmehr beginnt er, mit Tänzern zusammenzuarbeiten, erhält Aufträge von Alvin Aileys Harlem Dance Company und von Mikhall Baryshnikov. In Japan lässt er sich vom Kabuki-Theater beeindrucken, einer auf das 16. Jahrhundert zurückgehenden gesamtkünstlerischen Verbindung von Drama, Poesie, Tanz und Musik und übernimmt Gesten und Klänge in seine sich zunehmend mit ritualistischen Zügen versehende Aufführungspraxis.

Neben seiner Arbeit als Solist und mit der Unit kommt es zu Aufsehen erregenden musikalischen Begegnungen: 1976 trifft er im österreichischen Moosham auf den Pianisten Friedrich Gulda (LP Nachricht vom Lande); 1977 bestreitet er in der New Yorker Carnegie Hall gemeinsam mit der Pianistin Mary Lou Williams ein von musikalischen Missverständnissen bestimmtes Duo-Konzert, dessen Ertrag unter dem irreführenden Titel Embraced als Doppel-LP veröffentlicht wird. Wesentlich ergiebiger gerät demgegenüber dann 1979 ein Zusammentreffen mit Max Roach, das eine interaktionsstarke, von rhythmischer und klanglicher Vielfalt geprägte Musik hervorbringt (LP Historic Concerts).

Alljährlich stattfindende Konzerttourneen, die Präsenz auf zahllosen Festivals, Kompositionsaufträge, Einladungen zur Leitung von Workshops oder Orchesterprojekten und eine Reihe erfolgreicher Schallplatteneinspielungen - all dies bringt es mit sich, dass sich die internationale Anerkennung Cecil Taylors als eine der bedeutendsten kreativen Antriebskräfte des zeitgenössischen Jazz im Laufe der Jahre auch in ein halbwegs akzeptables Maß an ökonomischer Sicherheit umzusetzen beginnt. Sichtbarster Ausdruck davon ist ein brownstone-Haus in Brooklyn, das sich Taylor, nachdem er die vergangenen zwei Jahrzehnte in Manhattans Lower Eastside gelebt hatte, zu Anfang der 80er Jahre zulegt und in dem er seither wohnt und arbeitet.

Als Gudrun Endress ihn 1984 fragt, ob er seinen Lebensunterhalt immer durch seine Musik verdient habe, antwortet er: "Es ging immer irgendwie. Die Frage ist die: In wie vielen Häusern kannst du gleichzeitig leben? Wie viele Autos kannst du gleichzeitig fahren? Und in wie vielen Swimming-Pools kannst du gleichzeitig baden? Auf der anderen Seite lese ich gleichzeitig in zehn verschiedenen Büchern... Ich möchte noch einmal betonen: Ich empfinde jetzt sehr viel mehr Freude denn je zuvor. Ich freue mich vor allem beim Spielen und dabei ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich mir sage: Mein Gott, vor zehn Jahren hättest du so nicht spielen können. " 5)

Solo

Die Superlative, mit denen Cecil Taylor von der Jazzpublizistik seit Jahren bedacht wird, laufen immer wieder auf die gleichen Klischees hinaus: der perkussivste aller Pianisten (spielt mit Max Roach, dem melodischsten aller Schlagzeuger), der intensivste, orchestralste, radikalste, experimentierfreudigste, kompromissloseste und so weiter und so fort... Einiges davon mag stimmen, manches ist schlicht unzutreffend oder irreführend, weniges hilfreich.

Die häufig geäußerte Behauptung beispielsweise, dass Taylor der perkussivste Jazzpianist aller Zeiten sei 6), ignoriert nicht nur die extrem perkussiven Spielweisen von stilistisch so weit auseinander liegenden Pianisten wie Morton, Monk oder Silver, sie erweckt zudem den Eindruck, als sei das perkussive Element in Taylors Spiel zugleich das zentrale; dies aber ist keineswegs der Fall. Auch die Feststellung, Taylors pianistischer Ansatz käme am "reinsten" in seinen Solo-Einspielungen zum Ausdruck, führt ins Abseits: tatsächlich folgt Taylors Soloarbeit anderen Gesetzmäßigkeiten als seine Arbeit im Ensemble und weist infolgedessen auch andere Konturen auf. Im Prinzip stehen seine Aktivitäten als Solist und als Mitspieler und Leiter seiner diversen Units gleichberechtigt nebeneinander, durchdringen sich zwar gegenseitig, repräsentieren jedoch zugleich zwei deutlich voneinander unterscheidbare Sphären seines musikalischen Schaffens. Nicht zuletzt aus diesem Grunde scheint es geboten, sich ihnen jeweils in einem gesonderten Abschnitt zu nähern.

Acht LPs, aufgenommen zwischen 1968 und 1986, dokumentieren bislang die Soloarbeit Cecil Taylors; ein weiterer solistischer Alleingang nimmt eine komplette Seite einer Unit-LP (Spring..) ein. Im einzelnen handelt es sich dabei um die folgenden Einspielungen: Praxis (Italien 7/1968), Indent (Yellow Springs 3/1973), Solos (Tokyo 5/1973), Spring of 2 blue Js (New York 11/1973), Silent Tongues (Montreux 7/1974), Air Above Mountains (Österreich 8/1976), Fly Fly Fly (Villingen 9/1980, diese LP stand mir für meine Arbeit leider nicht zur Verfügung), Garden (Basel 11/1981) und For Olim (Berlin 4/1986). - Sämtliche Aufnahmen entstanden live bei Konzerten und Festivalauftritten; Schallplattenstudios werden von Cecil Taylor, so scheint es, bewusst gemieden.

Technik

Das sich dem unvorbereiteten Hörer, sobald er den ersten Schock überwunden hat, am ehesten erschließende Merkmal des Taylorschen Klavierspiels besteht ohne Frage in seiner atemberaubenden Virtuosität. Lange bevor man sich in die strukturellen Besonderheiten, die rhythmischen und tonalen Zusammenhänge und formalen Abläufe seiner Musik hineinzuhören beginnt, dominiert der Eindruck einer aufs äußerste gesteigerten manuellen Artistik und technischen Kompetenz. So richtig dieser Eindruck ist, so erschöpft sich Taylors pianistische Technik jedoch keineswegs in der fürs erste auf so frappierende Weise nachgewiesenen Fähigkeit, schnell zu spielen. Zumindest gleichrangig neben der aberwitzigen Rasanz, mit der Taylor seine Motivverschränkungen und Clusterkaskaden zum Erklingen bringt, ist die Klarheit, mit der er dies tut. Nicht etwa fegt da einer wie im Delirium über die Tasten, mit getretenem Pedal die Konturen verhüllend; vielmehr ist es gerade die Verbindung von Geschwindigkeit, Ereignisdichte und präziser Artikulation eines jeden einzelnen Klangereignisses, was Taylors Virtuosität weit über ein bloßes technisches Blendwerk hinaus erhebt. Diese Art von Präzision bedeutet für Taylor offenbar mehr als nur einen beiläufigen Aspekt instrumentaler Technik, sie ist Bestandteil seines ästhetischen Programms. "Zu allererst geht es mir um klangliche Klarheit, um die Präzision des Anschlags... Als ich zum Beispiel Bach spielte, mit acht oder neun Jahren, wurde mir klar, dass jeder einzelne Ton einen Kontinent darstellt, eine Welt für sich, die es verdient, als solche behandelt zu werden. Wenn ich heute meine technischen Übungen mache, wird jeder Ton einzeln angeschlagen, und zwar so, dass man es auch hört; mit der vollen Kraft und Amplitude des jeweils erhobenen und auf die Taste auftreffenden Fingers. Und das will ich hören - im uneingeschränktesten Sinne." 7)

Neben dem Insistieren auf artikulatorischer Klarheit, wie sie bereits in seinen frühen Einspielungen hörbar wird, entwickelt Taylor im Laufe der Jahre eine äußerst differenzierte Anschlagstechnik, bei der es nicht mehr nur um die deutliche Hervorbringung eines jeden einzelnen Tones, Akkordes oder Clusters geht, sondern um die kontrollierte Beeinflussung des Klanges, der Ein- und Ausschwingvorgänge und der instrumentenspezifischen Resonanzen. Im Gegensatz zu anderen, der Jazzavantgarde zugerechneten Pianisten verzichtet Taylor dabei weitgehend auf das Spiel im Flügelinneren; auch von einer Präparation des Instrumentes sieht er ab. Stattdessen bringt er das von ihm ansonsten verständlicherweise verpönte Pedal ins Spiel - sparsam und zielgerichtet. Anhand der LP Garden ist dies gut nachzuvollziehen, wenn er mittels gedrücktem rechten Pedals diffuse Klangmassen produziert - als Kontrastfolie zur klaren Linearität der folgenden Struktureinheit; oder in For Olim, wo dem planvollen Einsatz der drei Pedale des großen "Bösendorfer" eine wichtige Funktion der Klangfärbung und Artikulation zukommt. Ansonsten aber resultieren die von Taylor mit großer Raffinesse erzielten klangfarblichen und artikulatorischen Nuancen eben doch primär aus seiner Anschlagstechnik, d.h. aus der je spezifischen Art und Weise, wie seine Finger auf die Tasten treffen, aus der Zeitkurve des investierten Kraftaufwandes, dem Verhältnis von Spannung und Entspannung, kurz: dem totalen, an der Produktion des Klanges beteiligten Bewegungsvorgang, der bekanntlich nicht nur Finger, Handgelenke und Arme, sondern virtuell den ganzen Körper einschließt.

Die präzise Artikulation eines jeden musikalischen Ereignisses, mit der eine vorherrschende Tendenz zum Staccatospiel verbunden ist, mag einiges zu Taylors Image als "perkussivster" aller Jazzpianisten beigetragen haben. Man könnte ihn freilich deswegen auch - mit gleicher Berechtigung und ähnlicher Bedeutungsarmut - als den pianistischsten Pianisten bezeichnen. Es gibt allerdings eine Dimension seines Spiels, die primär perkussiv und von klassischer Pianistik meilenweit entfernt ist. Ich meine seine Clustertechnik, die vom vehementen Einsatz der Handflächen, Ellenbogen und Unterarme bis hin zu einer äußerst virtuos gehandhabten "Trommeltechnik" reicht, bei welcher Taylor mit starr ausgestreckten Fingern in einer immens schnellen, alternierenden und zumeist eng geführten Bewegung beider Hände über die Tastatur jagt und damit mehr oder minder breite Clusterbänder höchster Dichte entstehen lässt. Perkussiv ist diese Art der Klangproduktion ohne Frage, und zwar mit einem Grad der Perfektion, die manch einen Meistertrommler vor Neid erblassen lassen könnte. Dennoch ist auch hier Perkussion vor allem Mittel zu einem perkussionsunüblichen Zweck, dient weniger der Produktion von Rhythmen als vielmehr der von fließend bewegtem Klang.

Die zentrale Bedeutung, die Cecil Taylor dem sound, der Klarheit des Anschlages und damit den Bedingungen der Klangproduktion beimisst, bestimmt sein Verhältnis zu den Instrumenten, mit denen er arbeitet, bzw. zu arbeiten gezwungen ist. Natürlich spielt jeder Pianist am liebsten auf einem guten Instrument. Für Taylor aber ist die Art und die Qualität seines Instrumentes essentiell. Das Instrument ist Bestandteil seiner Technik und bildet - wie diese - eine Grundlage seiner musikalischen Aussage. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Taylor - wie auf der Jazzszene üblich - mit dem vorlieb zu nehmen, was auf der Bühne stand. Man muss nicht einmal auf die alten Live-Mitschnitte aus dem Kopenhagener "Cafe Montmartre" von 1962 zurückgreifen, um zu verstehen, wie sehr ein Kneipenklavier die musikalische Ausdrucksskala in Mitleidenschaft zu ziehen vermag. Noch bei der in Italien aufgenommenen Solo-LP Praxis ist leicht nachzuvollziehen, welchen Schaden Taylors Musik unter dem Einfluss eines unangemessenen Instrumentes nehmen kann. Erst seit Mitte der 70er Jahre und vorzugsweise bei seinen Auftritten in Europa ist Taylor - als Konsequenz wachsenden Ruhmes auf der internationalen Jazzszene - in die Lage versetzt, auf dem Flügel seiner Wahl zu spielen (ein Privileg, das im traditionellen Konzertbetrieb jedem halbwegs renommierten Pianisten zugestanden wird). Taylors bevorzugtes Klavier ist der große Bösendorfer Flügel "lmperial". Und dies ist keineswegs eine Marotte. Das Instrument ist sehr obertonreich, dennoch klar. Es verfügt über ein um 9 Tasten erweitertes Bassregister bis zum Subcontra-C herunter, das von Taylor äußerst effektiv eingesetzt wird (gut nachzuvollziehen in For Olim). Und es bringt aufgrund seiner vergleichsweise schwergängigen Mechanik dem Spieler einen Widerstand entgegen, den Taylor schätzt: "Wenn du darauf nicht vorbereitet bist, macht er dich fertig." 8)

Gestaltungsmittel

Instrumentale Technik, für sich genommen, ist leer. Sie gewinnt Substanz immer nur als Mittel zum Zweck - sich musikalisch auszudrücken, Ideen (eigene oder fremde) über die Rampe zu bringen, im freien Zusammenspiel miteinander zu kommunizieren... Musik zu machen.

Gelegentlich hat es den Anschein, als verstellte die enorme technische Brillanz Cecil Taylors den Zugang zu seiner Musik. Er spielt virtuos, schnell, präzise, mit einem immensen Kraftaufwand und einem atemberaubenden Durchhaltevermögen - was aber spielt er eigentlich?

Cecil Taylors Musik ist sich über die Jahrzehnte hinweg ziemlich treu geblieben, und unterlag doch mancherlei Wandel. Rhythmik, Tonalität, die Gestaltung des musikalischen Materials, die Organisation formaler Prozesse - Startpunkte für eine Auseinandersetzung mit Taylors Musik, zunächst seiner Solomusik. Taylors Klaviermusik ist rhythmisch und tonal frei. Das besagt vorerst wenig, denn sie ist zugleich rhythmisch und tonal gestaltet. Als die wesentliche rhythmische Komponente in der Musik Cecil Taylors hatte ich in meiner Arbeit von 1975 die Energie identifiziert, ein in seinem metaphorischen Gehalt nicht unproblematischer Begriff, der jedenfalls nichts mit der Höhe des Schallpegels zu tun hat, sondern vielmehr eine Variable der Zeit ist und im Sinne von kinetischer Energie zu verstehen ist: "Sie schafft Bewegung oder resultiert aus der Bewegung, wobei der Schallpegel nur eine der Veränderlichen ist, auf keinen Fall aber eine Konstante." 9) Das Moment der rhythmischen Energie spielt auch in Taylors Solomusik der 70er und 80er Jahre eine zentrale Rolle, wenngleich auf eine andere Weise als in seiner Arbeit mit der Unit - einst und jetzt. Denn während die Unit in der Regel mit einem Schlagzeuger arbeitet, der für einen mehr oder minder regelmäßigen Puls sorgt, dem auch Taylor sich nicht entziehen kann, spielen pulsierende Rhythmen in seiner Soloarbeit eine völlig untergeordnete Rolle. Hier gilt nicht - wie in der Unit - die Metapher eines "Hürdenläufers, dem man die Hürden etwas unregelmäßig verstellt hat." 10) Hier hat man - wenn man ein Bild braucht - eher an einen Sprinter zu denken, der in einem auf völlig unvorhersagbare Weise wechselnden Tempo vorankommt, zögert, stehen bleibt, wieder lossprintet und so weiter. Es gibt in dieser Musik äußerst dichte und dabei flächenhafte Strukturen, in denen jede Gliederung der Zeit aufgehoben zu sein scheint, aber es gibt so gut wie keine kontinuierliche Motorik, die einfach abschnurrt. Regelmäßige Impulsketten sind, wenn sie einmal auftreten, stets durch unregelmäßige Akzentuierungen (z. B. Clusterblöcke im tiefen Register) durchbrochen und in ihrem Gleichmaß gefährdet. Die das Ganze vorantreibende kinetische Energie resultiert vor allem aus der zeitlichen Konstellation der Akzente, d. h. aus der Verschränkung von Zeit und Intensität.

Die Tonalität der Klaviermusik Taylors seit Ende der 60er Jahre zeichnet sich durch eine zunehmende Variabilität aus. Beschränkt sich die tonale Substanz von Einspielungen wie Unit Structures oder Conquistador (beide 1966) noch auf ein Kreisen um tonale Zentren mit vergleichsweise geringer Gravitationskraft, so weisen die Soloaufnahmen tonale Bezüge aller Art auf - vom streng atonalen Clusterspiel über die erweiterte Tonalität motivischer Zellkerne bis hin zu funktionsharmonischen Strukturen, wie sie in der Sturm-und-Drang-Epoche der 60er Jahre in Taylors Musik noch unvorstellbar gewesen waren. Bei der Arbeit mit tonalen Zentren (nicht zu verwechseln mit Tonarten) zeigt Taylor eine deutliche Präferenz für die "bläserfeindlichen" Bezugspunkte A, E, H und Fis.

"Changes" im traditionellen Sinne, d.h. funktionsharmonisch bestimmte Akkordfortschreitungen, gibt es in Taylors Klavierspiel erst relativ spät, und zwar im Zusammenhang mit einigen balladesken, lyrischen Stücken, die dem jahrelang propagierten Image Taylors als "wildem Mann" gründlich widersprechen. Ein erstes Beispiel für diese lyrischen Balladen findet sich in der ausgedehnten Solo-Einleitung zu Spring of 2 Blue Js, aufgenommen in der New Yorker Town Hall im November 1973. Weitere Beispiele gibt es unter dem Titel After All auf der LP Silent Tongues (1974) und Pemmican auf Garden (1981). Allen drei Stücken gemeinsam ist, dass sie von einer chromatisch abfallenden Bassstimme ausgehen (in Spring und Pemmican von H und in After All von E) und dass dieser Bassstimme funktionsharmonisch bestimmbare Akkorde überlagert sind; in Pemmican beispielsweise die Sequenz Hm-F#-Am-G#dim-G-G#-A usw. Das Verfahren ist nicht gerade originell, sondern seit Chopins E-moll-Prélude fester Bestandteil romantischer Klaviermusik und in der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts zum sentimentalistischen Klischee verkommen. Warum greift Cecil Taylor ausgerechnet auf dieses abgegriffene Stilmittel zurück und was macht er damit? Für Motivforschung bietet sich in der Jazzliteratur kein Ansatz. Die Frage nach dem Warum bleibt offen. Womöglich erledigt sie sich durch die Frage nach dem Wie. Denn wenngleich diese chromatischen Passagen einen unüberhörbar romantischen Gestus besitzen, fehlt ihnen doch jeder Zug zum Banalen, Gefühlsduseligen. Das historisch belastete Harmoniemodell veranlasst Taylor nicht etwa, einen draufzusetzen und die dem Material zugewachsene Tendenz zum Rührseligen aufzugreifen oder gar zu steigern. Vielmehr nimmt er es als matière pure und transformiert es in ein authentisches Stück Taylor-Musik, indem er das harmonische Gerüst und die ihm überlagerte sangliche Melodik durch Tonalität sprengende Bassinterventionen, Arpeggien und Cluster durchsetzt. Diese chromatischen Rubato-Balladen sind simultan "in & out", und das macht einen Großteil ihrer Spannung aus. - Mag sein, dass Taylor die Nähe zu Chopin im Laufe der Zeit zu scheuen begann: In For Olim (1986) findet sich in dem Titel "Mirror und Water Gazing" ein neuer Balladen-Typus. Auch dieser lässt implizite Changes erkennbar werden, liegt in der hochgradigen Verschmelzung von Komposition und Improvisation und vermöge einer ungeheuer differenzierten Anschlagstechnik jedoch wesentlich näher an Taylors "alltäglicher" musikalischen Sprache als die Balladen des Chopin-Syndroms, die eher die Grenzbereiche dieser Sprache zu markieren scheinen.

Das Repertoire der "alltäglichen" Stilmittel Taylors ist groß und doch spezifisch. Nach wie vor spielen Cluster in allen nur möglichen Varianten eine wichtige, wenngleich längst nicht mehr zentrale Rolle:

- kurze, breitbändige Cluster-Akzente, mit den Unterarmen, Ellenbogen oder Handflächen produziert,

- schmalbändige Bewegungscluster, mit zwei, drei oder vier Fingern in rasender Geschwindigkeit gehämmert, so dass aufgrund der äußerst hohen Ereignisdichte fließende (oder fliegende) Klangbänder ohne melodische Konsistenz entstehen,

- statische Cluster, meist gewaltige Klangmassen, die mit Hilfe des Pedals am Klingen gehalten werden und die erst relativ spät (ab Mitte der 80er Jahre) in Taylors Gestaltungsmittel Eingang finden,

- Cluster-Tremoli, die häufig als Mittel der Interpunktion bzw. der formalen Gliederung, quasi deklamatorisch, eingesetzt werden; die sagen: jetzt kommt etwas Neues, oder jetzt geht's zurück zum...

Insgesamt gesehen ist festzustellen, dass die Verwendung von Clustertechniken in Taylors Soloarbeit (im Gegensatz zu seiner Arbeit mit der Unit) eine rückläufige Tendenz aufweist. Während noch die LP Praxis (1968) im wesentlichen Clustermusik beinhaltet, weist bereits Indent (1973) eine weitaus größere Variationsbreite der Gestaltungsmittel auf. In den Solo-Einspielungen der folgenden Jahre reduziert sich der Einsatz von Clustertechniken zunehmend, konzentriert sich dabei immer mehr auf die Bewegungscluster, die im formalen Ablauf der Stücke häufig den Abschnitt "Area" bestimmen (siehe später).

Ein weiteres hervorstechendes stilistisches Charakteristikum der Klaviermusik Taylors sind kurze, im Staccato auftrumpfende Bassgänge, die mitunter ein tonales Zentrum markieren oder zumindest andeuten und die sich häufig um kleine Sekunden gruppieren (in Air Above Mountains) beispielsweise b-h-ges-f oder h-c-a-as). Derartige Bassfiguren wirken oft als Motivkerne bzw. als Auslöser motivischer Arbeit. Chromatische Bassgänge setzt Taylor hingegen zumeist als Kontraststruktur gegen Bewegungscluster in den höheren Lagen.

Eine wichtige stilbildende Funktion besitzen auch die in nahezu jeder Einspielung auftauchenden zweigliedrigen Akkordrückungen - entweder parallel geführt oder, wenn sie beidhändig gespielt werden, in Gegenbewegung, wie es das folgende Schema zu veranschaulichen versucht.

Solche Akkordrückungen, die übrigens so gut wie immer nach unten weisen, werden oft durch aufsteigende Bassgänge angesteuert oder münden in eine abfallende Bassfigur - eine Konstellation, der innerhalb dieser ansonsten zumeist auf Hochspannung befindlichen Klaviermusik eine gewisse Entspannungsfunktion zukommt.

Ab Garden (1981 ) bringt Taylor eine neuartige und sehr eigenständige Variante eines Klavierstils ins Spiel, der in der traditionellen Jazzpraxis als "locked hands style" durch die Pianisten Milt Buckner und George Shearing bekannt gemacht wurde und der im wesentlichen darin besteht, dass beide Hände synchron die Melodie (eines Themas oder einer Improvisation) akkordisch unterlegen; eine Praxis, die offenbar dem Saxophonsatz der Bigbands nachempfunden wurde. Cecil Taylor löst dieses Verfahren aus seinem akkordischen Rahmen und nimmt ihm gleichzeitig das entspannt Swingende, das seine Urheber gewöhnlich damit verbanden. Was bleibt, ist die Synchronisierung der Bewegungen beider Hände: extrem schnelle Bewegungen, parallel oder gegenläufig, aus denen kurze, mitunter kürzelhafte Phrasen von nur 1-2 Sekunden Dauer resultieren, Phrasen, die ein hohes Maß an motivischer Konzentration und rhythmischer Prägnanz aufweisen und einen immensen drive produzieren.

Übergeordnete Gestaltungsmittel, die Taylor weitgehend unabhängig vom jeweils verwendeten Material einsetzt, sind Sequenzierungen, call-and-response-Formeln, Schichtungen und motivische Fortspinnungen.

Sequenzierungen, d.h. auf- oder absteigende Wiederholungen von Tonfolgen auf verschiedenen Tonstufen, sind ein in der musikalischen Komposition ebenso wie in der Improvisation allgemein angewandtes Satzelement. Bei Cecil Taylor werden sie spätestens ab Indent (1973) zum zentralen Gestaltungsprinzip. Das gleiche gilt für die antiphonale Praxis: call-and-response-Formeln finden sich in all seinen Einspielungen in großer Fülle und in jeder nur denkbaren Konstellation. Besonders häufig sind - wie schon erwähnt - stakkatierte Bassgänge oder auch Akkordrückungen einerseits und Bewegungscluster andererseits zueinander in ein Ruf-Antwort-Verhältnis gesetzt; aber es gibt zahllose weitere Kombinationen unterschiedlicher Materialelemente zu antiphonalen Strukturen.

Eng verwandt mit derartigen call-and-response-Formeln, gewissermaßen die zeitliche Zusammenziehung von "Ruf" und "Antwort", sind Schichtungen divergierender Materialebenen, ein Verfahren, das Taylor weitaus seltener, dann aber auf sehr beeindruckende Weise einsetzt. Ein charakteristisches Beispiel ist auf der LP For Olim in Living zu hören: sehr präzise artikulierte, chromatische Bassgänge in der linken Hand werden von "rauschenden" Glissandi in der rechten überlagert.

Ein für das Verständnis der Taylorschen Klaviermusik wesentliches Gestaltungsprinzip besteht ohne Frage in seiner motivischen Arbeit. Taylors Improvisationsweise hat im Allgemeinen nichts mit dem in der romantischen Musik beheimateten "Phantasieren" zu tun, nichts mit einem bewusstlos gefühlvollen Ausströmen, aber auch nichts mit einem draufgängerischen, lediglich emotionsgeladenen Powerplay.

Taylors Improvisationsweise beruht - was man angesichts der gesteigerten Energetik vielleicht zunächst einmal nicht bemerkt - zum überwiegenden Teil auf einem sehr präzisen und dabei offenbar äußerst schnellen strukturellen Denken und einem spontan im Akt des Spielens sich umsetzenden Konstruktivismus. Hörbarsten Ausdruck findet dieser in einer spezifischen Art der motivischen Fortspinnung, wie sie bereits in Taylors Musik der 60er Jahre angelegt ist. Anders als bei Ornette Coleman, dessen motivischen Kettenassoziationen 11) etwas freizügig Fließendes innewohnt, besitzt Taylors motivische Arbeit eine deutliche Tendenz zur Systematik. Taylor assoziiert nicht so einfach vor sich hin, sondern variiert: ein Motiv, ein Gedanke, eine Struktur, eine Bewegungsart wird exponiert, durch Wiederholung stabilisiert, variierend weitergeführt, zu Ende gebracht und durch ein anderes Motiv, eine andere Struktur oder Bewegungsart abgelöst. Worauf - mit verändertem Ausgangsmaterial - das Ganze von vorn beginnen kann. Die motivischen Auslöser für derartige Entwicklungsprozesse können sehr unterschiedlich sein. Es kann sich dabei um einen einzigen, Kleinformatigen Motivkern handeln, um eine Zelle, die sich ausdehnt, verdichtet, spaltet; ebenso können die oben erwähnten Akkordrückungen den Startpunkt für systematische Umformulierungen bilden. Oder aber - was am häufigsten passiert - eine call-and-response-Struktur fungiert als Basismaterial, wobei dann im weiteren Gang der Handlung die beiden Strukturelemente variierend aufeinander bezogen werden, beispielsweise nach dem folgenden Schema:

a-b-a'-b-a"-b-a"-b'-a-b'-a'-b"-c-c'-c-c" usw.

Das hier skizzierte Prinzip der motivischen Arbeit geht offenbar zurück auf ein von Taylor im Zusammenhang mit seinen Unit Structures (1966) für den Form-Abschnitt "Plain" entwickeltes Verfahren. Dort werden "prädeterminierte Strukturen nebeneinander gestellt, miteinander gekoppelt und im improvisatorischen Prozess verformt; neue melodische und rhythmische Patterns entstehen aus vorgegebenen." 12) Oder mit den Worten Cecil Taylors: "lnhalt, Qualität und Veränderung wachsen mit der gefundenen Richtung."

Die für die Ensemble-Arbeit in Unit Structures entworfenen Modelle formaler Organisation finden noch in anderer Hinsicht in Taylors Solomusik ihren Niederschlag, nämlich im Zusammenhang mit der Großform, d.h. mit der formalen Gestaltung ausgedehnter Spielprozesse. Allerdings ist dies nicht immer der Fall: die Mehrzahl insbesondere der früheren Solo-Einspielungen Taylors wirken eher formlos. Es handelt sich dabei um rein assoziativ ablaufende, fließende Spielprozesse mit durchweg hoher Ereignisdichte, insgesamt flächenhaft und ohne erkennbare Gliederung oder zielgerichtete Entwicklung. Beispielhaft für diese Form der "Formlosigkeit" sind die LPs Praxis (1968) und - über weite Strecken - Silent Tongues (1974). Damit kein Missverständnis entsteht: diese Einspielungen weisen zum Teil eine sehr ausgeprägte innere, mikrostrukturelle Differenziertheit auf und wirken dennoch - als Makrostruktur - flächenhaft und uniform. Als Bild mag das Reibeisen dienlich sein: es ist fein gefächert und dennoch flächenhaft.

Groß angelegt formale Prozesse nach dem Modell der Unit Structures realisiert Taylor ansatzweise in Spring of 2 Blue Js, ausgeprägter in Indent. Sehr klar kommt dabei insbesondere das in Unit Structures praktizierte Gliederungsprinzip in Plain und Area zum Tragen: Plain, der Abschnitt, in dem er "prädeterminierte Strukturen nebeneinander stellt, miteinander koppelt und im improvisatorischen Prozess verformt", und Area, wo "lntuition und gegebenes Material verschmelzen" und "aus einer unbekannten Totalität durch die Improvisation (die bewusste Manipulation des Materials) ein Ganzes geformt wird." 13) In Indent (A-Seite) konkretisiert sich dieses Verfahren so: in Plain (ca. 7'00") werden verschiedene Struktureinheiten nacheinander variierend abgehandelt, worauf sich sodann in Area eine großflächige Struktur hoher Ereignisdichte entfaltet, bestehend aus Bewegungsclustern, die sporadisch durch stakkatierte Bassgänge durchsetzt werden.

Zwischen den Extremwerten eines weitgehend flächenhaften, ungegliederten Spielprozesses wie in Praxis und einer eindeutig identifizierbaren formalen Anlage wie in Indent gibt es in Taylors Soloarbeit zahlreiche Zwischenstufen. Das gängigste übergreifende Prinzip ist dabei das der Reihung, der durch den Ideenfluss Taylors bestimmten, assoziativen Aneinanderfügung mehr oder minder kontrastierender und mehr oder minder ausgedehnter Struktureinheiten nach dem Schema ABCDE... Wiederholungen sind in diesem Kontext verpönt. Andererseits gibt es aber auch keinerlei weitreichend Ziel gerichtete Dramaturgie, es werden keine Höhepunkte angesteuert und keine übergreifenden Zusammenhänge gestiftet: die Musik will nicht irgendwo hin, sondern sie ist da - in jedem Zeitpunkt ihres Erklingens.

Die aus Cecil Taylors Soloarbeit hervorgegangenen Einspielungen zwischen 1968 und 1986 bilden keine stilistische Einheit, sondern repräsentieren einen Entwicklungsprozess; zwar keinen linearen, bei dem ohne Umwege das eine immer schön aus dem anderen folgt, aber doch einen Prozess, der in seiner inneren Konsistenz nachvollziehbar ist, denn er resultiert offenkundig aus Arbeit und Erfahrung. Die folgende kurze Skizzierung der (mir zur Verfügung stehenden) acht Soloeinspielungen Taylors sei bitte nicht als eine up-tempo-Rezension missverstanden: es geht lediglich darum, die für den angesprochenen Entwicklungsprozess relevanten Charakteristika der einzelnen Einspielungen in Stichworten umrisshaft darzustellen.

Praxis

-Clusterbetont, atonal, durchgehend hohe Ereignisdichte bei wechselnden strukturellen Details, formal fließend, insgesamt flächenhaft, hoher Energiepegel.

Indent

-Größere Materialvielfalt und strukturelle Differenziertheit, mehr "ausgespielte" Linearität als Cluster, systematisch durchgeführtes Variationsprinzip, deutliche formale Gliederung.

Solos

-Konzeptionen ähnlich wie Indent, relativ viel tonales Material.

Spring of 2 Blue Js

-Erstmals "chromatische" Ballade im romantischen Gestus (Chopin-Syndrom), stärker differenzierte Anschlagstechnik, zur Farbgebung eingesetzte Pedalarbeit.

Silent Tongues

-Überwiegend tour de force mit immens hoher Ereignisdichte, Ausnahme: After All (= chromatische Ballade).

Air Above Mountains

-Deutliche Gegenüberstellung von Plain (motivische Arbeit) und Area (flächenhaft, Bewegungscluster). Der letztere Aspekt dominiert zeitlich und eindrucksmäßig.

Garden

-Strukturell in sich geschlossene Passagen sind ausgedehnter als sonst, Material wird sehr sorgfältig und vergleichsweise entspannt (allmählich) entwickelt, Anteil der Bewegungscluster-Formationen geringer. Insgesamt deutliche Tendenzen zur Ökonomie der Mittel; dem unvorbereiteten Hören leichter zugänglich, obwohl nicht weniger komplex als vorher.

For Olim

-Deutliche Steigerung der strukturellen und klanglichen Vielfalt. Erstmals häufiger punktuelle Strukturen, Arbeit mit der Klangfarbe spielt eine wesentliche Rolle. Die als "Stücke" ausgewiesenen Partien bilden eigenständige musikalische Charaktere. Die Bedeutung der Clustertechniken ist weiter zurückgedrängt; Bewegungscluster werden eher selektiv und gewissermaßen programmatisch eingesetzt: so zum Beispiel in For the Rabbit. Mit Mirror and Water Gazing und The Question kommt ein neuer Balladen-Typus ins Spiel. Insgesamt gesehen scheint mir mit dieser Einspielung ein neues Stadium in Taylors Soloarbeit erreicht zu sein.

Die Unit

Cecil Taylor nennt die von ihm geleiteten Gruppen bekanntlich Unit, ein programmatischer Name, dem gerecht zu werden in der von sozialen Unsicherheiten bedrängten Welt des Jazz nicht immer ganz leicht sein dürfte.

Die Unit erfuhr über die Jahre hinweg eine Reihe von besetzungsmäßigen Veränderungen, die auch in der Musik der Gruppe ihre Spuren hinterließen. Dennoch ist es - mindestens bis in die späten 70er Jahre hinein - legitim, von einem spezifischen Gruppenkonzept zu sprechen, das zwar in seiner Umsetzung von Fall zu Fall variierte, das aber dennoch deutlich eigenständige Züge aufwies.

Langjähriges Mitglied der Unit war der am 19. Mai 1986 im Alter von nur 53 Jahren verstorbene Altsaxophonist Jimmy Lyons - nicht nur herausragender Solist, sondern über die Jahre des Hungers wie die des wachsenden Erfolges hinweg zugleich Cecil Taylors engster Vertrauter. "Jede Musik, die ich in Zukunft schreiben werde, wird Jimmy Lyons gewidmet sein", sagte Taylor 1988 in einem Interview. Und weiter: "Er war in vieler Hinsicht mein Beschützer und zugleich der zuverlässigste und hingebungsvollste Musiker, mit dem ich je zusammengearbeitet habe." 14)

Lyons' Stilistik beschrieb ich im Zusammenhang mit der LP Unit Structures so: "Lyons nimmt innerhalb des Free Jazz insofern eine Außenseiterposition ein, als seine Spielweise in der Regel wie eine gelungene Transformation der musikalischen Sprache Charlie Parkers in einen neuen Kontext anmutet. Ohne auf die Freiheiten zu verzichten, welche die Musik Taylors ihm bietet, besitzt Lyons jene rhythmische und melodische Kontinuität der Linienführung, wie sie für die Musiker des Bebop typisch war." 15) Diese Charakterisierung gilt im Prinzip über die 60er Jahre hinaus, bedarf jedoch einer wichtigen Ergänzung insofern, als Lyons im Zuge einer zunehmenden Intensivierung des Energiepotentials und des emotionalen Klimas der Unit-Musik in wachsendem Maße auch zu den Stilmitteln des energy play tendierte: Schreiklänge im höchsten Register, a-melodische Klangbänder, Multiphonics.. So war es nicht zuletzt diese Verfügbarkeit über beide Spielprinzipien, diese Fähigkeit zum gezielten, kontextabhängigen Einsatz einer linear-melodischen ebenso wie einer klanglich-energetischen Improvisationsweise, die Lyons zum idealen Partner Taylors machten. Wobei hinzuzufügen ist, dass selbst im heftigsten Powerplay sich Lyons auch mit seiner klaren Linearität auf erstaunliche Weise durchzusetzen vermochte.

Andere Bläser, mit denen Cecil Taylor seit den späten 60er Jahren zusammenarbeitete, erscheinen in ihren (auf Schallplatten dokumentierten) Beiträgen im Vergleich zu Jimmy Lyons seltsam blass. Sam Rivers, den Taylor 1969 für eine Europatournee in die Unit holte, spielt in dem im französischen St. Paul de Vence auf drei LPs aufgezeichneten Konzert meist unter seinem Niveau, beschränkt sich über lange Strecken auf ein für ihn ganz untypisches energy play und hat offenbar Schwierigkeiten, mit dem thematischen Material der Unit zurechtzukommen. Auch der Tenorist David Ware (geb. 1949), der 1976-77 in der Unit arbeitete und auf der in Ljubljana eingespielten LP Dark to Themselves zu hören ist, verlässt sich dort recht einseitig auf die Ästhetik des Schreis und des overblowing und erfüllt damit eine ähnliche (und möglicherweise von Taylor intendierte) Funktion wie vor ihm Sam Rivers.

Eine seltsame Sonderstellung nimmt der Trompeter Raphé Malik im Kontext der Unit ein. Malik hatte Taylor am Antioch College kennen gelernt, als er dort Literaturwissenschaft studierte. Er schloss sich dem von Taylor geleiteten Workshop-Ensemble an, arbeitete sporadisch in Gruppen von Jimmy Lyons und wurde 1976 Mitglied der Unit, blieb es bis 1978 und spielte während dieser Zeit immerhin sieben LPs ein, darunter den 1978 in der Stuttgarter Liederhalle aufgenommenen 3 LP-Set One too many sailty swift and not goodbye. Malik erweist sich in diesen Einspielungen als ein recht schwacher Improvisator, der allerdings das thematische Material der Unit sehr genau kennt und so seine technischen und musikalischen Defizite durch die Zuverlässigkeit kompensiert, mit der er den Weg durch das motivische Labyrinth der Taylor'schen Struktureinheiten Kataloge weist. Maliks improvisatorische Beiträge hingegen sind geprägt durch einen unflexiblen, blechernen Sound und durch kurze signalartige Phrasenpartikel, die erkennbar werden lassen, dass ihm der lange Atem nicht nur im technischen Sinne, sondern auch hinsichtlich seines Ideenflusses fehlt.

Die schwierige Rolle eines "Nachfolgers" von Jimmy Lyons übernahm 1987 der Altsaxophonist und Flötist Carlos Ward, ein erfahrener Free Jazz-Mann, der jahrelang zur festen Gruppe von Abdullah Ibrahim gehörte und u.a. mit Musikern wie Karl Berger, Don Cherry, John Coltrane, Sunny Murray und Carla Bley zusammenarbeitete. Wie Lyons ist auch Ward ein in erster Linie "linearer" Spieler, dessen Stärke in einer melodisch klaren, motivischen Improvisation liegt. Gleichzeitig aber spielt er "tonaler" als Lyons, lässt in seinen riff-artigen Motivrepetitionen und Variationen mitunter modale Bezüge, tonartliche Bindungen (g-moll) oder Blues-Charaktere erkennbar werden. Dass es ihm nicht immer leicht fällt, sich im Powerplay der neuen Unit Gehör zu verschaffen, liegt wohl weniger an ihm selbst als an der nicht unproblematischen Kommunikationsstruktur der Gruppe (dazu später mehr).

Nicht nachvollziehen kann ich - offen gestanden - die Motive, die Cecil Taylor 1975 zur Aufnahme des ägyptischen Violinisten Ramsey Ameen in die Unit veranlassten. Vergleichsweise unerheblich ist dabei, dass die Violine aufgrund ihrer akustischen Voraussetzungen (Ameen verschmäht - nach eigenen Aussagen - die "modischen elektrischen Pick-Ups") im Rahmen der hochenergetischen Musik der Unit sich von vornherein in einer äußerst schwierigen Situation befindet. Ratlos lassen mich die musikalischen Qualitäten Ameens. Von einem Musik liebenden Vater zum Violinspiel animiert, von seinem Instrumentallehrer wegen seiner Vorliebe zum Jazz gescholten und durch das Vorbild Ornette Colemans auf den Weg zum Free Jazz gebracht, lässt Ameen in seiner Improvisationsweise doch so ziemlich alles missen, was ihr in der hochkarätigen musikalischen Gesellschaft der Unit eigentlich abverlangt werden müsste: sichere Intonation, rhythmisches Feuer, klangliche Vielfalt, Durchsetzungsvermögen, Ideen...

Der jazzhistorische Status des Violinisten Leroy Jenkins, der im Zusammenhang mit einer Europatournee der Unit im Herbst 1987 den Platz Ameens einnahm, ist weitgehend unumstritten. Seine Rolle innerhalb der Musik der Unit ist darum nicht weniger fragwürdig.

Auch die Funktion des Kontrabasses in der Unit ist problematisch. Dies liegt nicht allein an dem alle Register umspannenden Klavierspiel Cecil Taylors, das die Mitwirkung eines Bassisten bisweilen überflüssig zu machen scheint, sondern vor allem an der Tatsache, dass Taylor gewöhnlich mit extrem "dynamischen" Schlagzeugern zusammenarbeitet. Dass die Unit daher in manchen Phasen ihrer Entwicklung und folglich auch auf einer Reihe von Schallplatteneinspielungen auf die Mitwirkung eines Bassisten verzichtet, ist insofern nur konsequent. Die Bassisten, die sich der Herausforderung der hohen Energiepegel und der ausgedehnten Spielprozesse der Unit stellten, sind durchweg starke, Energie geladene "Arbeiter": Alan Silva in den späten 60er Jahren, Sirone (Norris Jones) während der 70er und William Parker seit den frühen 80ern; Bassisten, denen es - zumindest in ihrer Zusammenarbeit mit Taylor - nicht um die Hervorbringung sensibler klanglicher Konfigurationen oder schnellfingriger Läufe im oberen Register geht, sondern um die Produktion einer stabilen und zugleich vorantreibenden rhythmischen Grundstruktur. Auf welch überzeugende und - hinsichtlich des physischen Einsatzes - kaum nachvollziehbare Weise dies insbesondere Sirone gelingt, mag man sich einmal am Beispiel des zweistündigen Spielprozesses von One too many... vergegenwärtigen, eines Marathon-Sets, der selbst einen so schlagkräftigen Drummer wie Ronald Shannon Jackson wiederholt auf der Strecke bleiben lässt.

Die Zusammenarbeit Cecil Taylors mit seinen Schlagzeugern gehört innerhalb der Kommunikationsstruktur der Unit zu den sensibelsten Funktionskriterien. Da genügt es nicht, dass ein Schlagzeuger "die Post gut abgehen lässt" und für ausreichend drive und rhythmische Energie sorgt. Die spezifische Rhythmik Taylors und ihr perkussiver Charakter verlangt nach einer ständigen Bereitschaft zur Interaktion und gleichzeitig nach einer gewissen Leichtigkeit, die dem tänzerischen Gestus der Taylor'schen Spielweise gerecht wird. Nur zwei Schlagzeuger entsprachen - nach meiner Einschätzung - uneingeschränkt diesen Anforderungen: Sunny Murray, der in den Jahren 1959-64 mit Taylor zusammenarbeitete, und Andrew Cyrille, der von 1964-1975 in der Unit mitwirkte und nicht nur aufgrund dieser langen Zeitspanne einen ähnlichen hohen Status innerhalb der Gruppe besaß wie Jimmy Lyons. Sowohl Sunny Murray als auch Andrew Cyrille sind außerordentlich "melodische" Schlagzeuger, die ihr Instrument zum Singen bringen und deren Spielweise bei aller Kraft und Dynamik eine große Beweglichkeit und Leichtigkeit innewohnt, die sich mit Taylors Rhythmik auf hervorragende Weise mischt.

Unter den Nachfolgern Cyrilles kam dieser Stilistik Mark Edwards am nächsten, der 1976 mit der Unit arbeitete und auf der LP Dark to Themselves zu hören ist; am weitesten davon entfernt ist Ronald Shannon Jackson, Mitglied der Unit von 1978-79. Jackson setzt der Musik Taylors ein Rock inspiriertes Spielkonzept entgegen, das er im Rahmen von Ornette Colemans elektrischer Band Prime Time entwickelt hatte und das sich in mehrfacher Hinsicht querstellt zu der von seinen Vorgängern in der Unit vertretenen Richtung. Jacksons Spielweise auf seinem, der Klangästhetik des Rock entsprechend, relativ hell und knallig gestimmten Schlagzeug wirkt schwerer und - in Relation zum Klavierspiel Taylors - weniger integrativ als vielmehr oppositionell. So kann es beispielsweise geschehen, dass er in einen rhythmisch freien, gleichsam "fliegenden" Spielverlauf durch metronisch regelmäßig gedonnerte Snare- und Bass-Drum-Akzente interveniert, dass er Funk-Rhythmen zu installieren versucht, während sich gerade eine gewaltige kinetische Steigerung anbahnt, dass er die aus der Schlagzeugartistik des Jazzrock bekannten "Über-alle-Tom-toms-Wirbel" ins Spiel bringt, wo sich im gleichen Moment sehr sensible, punktuelle Strukturen zu entfalten beginnen. Man kann wohl voraussetzen, dass Cecil Taylor diese kontroverse Spielhaltung Shannon Jacksons im Sinne einer bewusst eingeführten Kontrastschicht im Rahmen einer veränderten Gruppenkonzeption positiv bewertete. Festzustellen ist, dass er selbst auf Jacksons brachiale Interventionen so gut wie nie eingeht und dass auf diese Weise das Ganze mitunter wie eine vorsätzlich verweigerte Kommunikation wirkt. In eine ähnliche Richtung weist ein anderes Phänomen, das besonders eindringlich in dem bereits erwähnten, zweistündigen Stuttgarter Konzert von 1978 (One too many...) zum Vorschein tritt: hier steigt Jackson auf gänzlich unvorhersehbare Weise ständig aus dem Spielprozess aus und wieder ein, ohne dass dafür plausible musikalische Gründe hörbar würden und - was noch irritierender wirkt - ohne dass sich aus Jacksons Aus- und Einsteigen für die Aktionen der anderen Mitspieler irgendwelche Konsequenzen ergäben.

Wesentlich stärker in die Musik der Unit integriert erscheint die Stilistik Rashid Bakrs, mit dem Taylor von 1981-84 zusammenarbeitet. Bakr agiert soundmäßig eher zurückhaltend, tendiert in tempofreien Passagen (wie in Calling it the 8th, Seite 2) zu einer teils kolorierenden, teils dialogisierenden Spielweise, ist aber durchaus auch zu Energie geladenem, vorantreibendem Powerplay in der Lage (Calling it the 9th).

Thurman Barker, der bislang letzte in der Reihe der Unit-Schlagzeuger, kommt aus dem Kreis der Chicagoer Musikerinitiative AACM, wo er u.a. mit Anthony Braxton, Joseph Jarman und Muhal Richard Abrams zusammenarbeitete. Seine Arbeit mit der Unit ist dokumentiert auf zwei LPs, die während einer Europatournee im November 1987 entstanden: Live in Bologna und Live in Vienna. Barker ist ein vielseitiger und sehr klangsensibler Musiker, nicht in erster Linie ein vehementer Energieproduzent, sondern vielmehr ein kooperativer, kommentierender Mitspieler mit einer deutlichen Tendenz zum (impliziten) time-Spiel.

Die dominierende Rolle innerhalb der Unit spielt ohne Frage Cecil Taylor, nicht nur als ,bandleader', der für das thematische Material und die konzeptionelle Ausrichtung verantwortlich zeichnet, sondern vor allem auch, was seine Präsenz innerhalb der Spielprozesse betrifft. Taylor spielt fast immer und bestimmt damit das musikalische Geschehen in einem Maße wie kein anderes Gruppenmitglied. Dabei ist es keineswegs richtig, das er - wie bisweilen zu lesen ist - im Rahmen der Unit genauso spielt wie als Solist. Natürlich gibt es zwischen beiden Bereichen eine Menge Übereinstimmungen, insbesondere dann, wenn er im Rahmen der Unit als Solist in den Vordergrund tritt. Auf der anderen Seite aber gibt es durchaus signifikante Unterschiede zwischen Solo- und Ensemblearbeit. Der wichtigste besteht im Rhythmischen: Sind seine solistischen Alleingänge zumeist rhythmisch frei, im tempo rubato, von zahlreichen Fermaten durchsetzt und im wesentlichen ohne time-Bezug, so wird seine Spielweise in der Gruppe, zumal in den Area-Komplexen, fast immer durch einen Puls bestimmt, und zwar selbst dann, wenn der pulsgenerierende Schlagzeuger einmal aussetzt. Zudem ist Taylors Klavierspiel im Rahmen der Gruppe im Großen und Ganzen weniger tonal. Besonders wenn er nicht als Solist agiert, sondern "begleitet" (was natürlich ein falscher Begriff ist), clustert er wesentlich mehr als in seiner Soloarbeit, spielt also vor allem klang- und Rhythmus zentriert und weniger motivisch. Unterschiede gibt es schließlich auch in der Dynamik, die in seinen Soloeinspielungen ungeheuer differenziert zwischen pianissimo und fortissimo variiert, während sie in der Unit zum überwiegenden Teil auf höchste Intensität gepolt ist.

Die Art und Weise, wie Taylor seine Mitspieler auf dem Klavier "begleitet", ist ihm schon in den 60er Jahren von der Jazzkritik zum Vorwurf gemacht worden. Whitney Balliett, der im übrigen der Musik Taylors von Anfang an sehr positiv gegenüberstand, fragte sich, warum Taylor überhaupt mit irgendwelchen anderen Musikern zusammenspiele, denn seine Begleitung sei in der Regel nichts als eine Fortsetzung seiner Soli. 16) Daran ist zweifellos etwas Wahres: denn wenngleich die tonale und motivische Substanz seiner Soli sehr häufig anders sein mag als die seiner Begleitarbeit, so besitzen beide doch zumeist die gleiche hohe Ereignisdichte. Nun "begleitet" Taylor ja bekanntlich nicht im herkömmlichen Sinne. Er agiert nicht im Hintergrund und liefert den im Vordergrund improvisierenden Bläsern oder Violinisten einen rhythmisch-harmonischen Teppich, von dem sie abheben können. Vielmehr befindet er sich mit seinen Mitspielern in permanentem Dialog, versorgt sie mit kinetischer Energie, treibt sie voran. Dass dabei ein weniger starker Improvisator gelegentlich vom Untergang bedroht sein mag, ist nicht von der Hand zu weisen.

11 Schallplatten (einige davon als Doppel- oder Dreifach-LPs) hat die Cecil Taylor Unit in den vergangenen 20 Jahren aufgenommen - nicht gerade viel für eine Gruppe dieses internationalen Renommees. Außer zweien entstanden all diese Einspielungen live bei Auftritten in den USA (2) und in Europa (7), reflektieren also gewissermaßen den Arbeitsalltag der Gruppe on the road. Die beiden Studioeinspielungen The World of Cecil Taylor und 3 Phasis wurden für die Prestige beladene Serie "Recorded Anthology of American Music" produziert, einer umfangreichen Schallplattendokumentation, die zwischen neuenglischen Hymnen und frühem Blues und Musik von Cowell, Ives und Cage so ziemlich alles einschließt, was der (nord)-amerikanische Kontinent jemals an musikalischen Verlautbarungen hervorgebracht hat, und die von der Rockefeller Foundation finanziert wird. Auf welche Weise diese noble Umgebung ihre Spuren in der Musik der Unit hinterlassen hat, wird zu zeigen sein.

Stilmittel

Ebenso wie Cecil Taylors solistischen Einspielungen gibt es auch in jenen der Unit einerseits einige stilistische Konstanten und andererseits einige situationell oder entwicklungsmäßig bedingte Veränderungen. Zu den konstanten Stil Merkmalen der Unit gehört erstens eine spezifische Art der thematischen Arbeit und der formalen Organisation und zweitens die Konzentration auf eine bestimmte Tonalität und auf eine bestimmte Pulsfrequenz.

Erstens. Der thematische und formale Bezugsrahmen der Unit funktioniert im Wesentlichen nach Unit Structure-Modell:

Der Anacrusis, zumeist in Form einer kurzen Klaviereinleitung mit den für Taylor typischen Bassformeln, folgt der Abschnitt Plain, in dem das thematisch-motivische Material ausgebreitet wird. Gewöhnlich geschieht dies im Unisono zweier Bläser, wobei der Grad der "Einstimmigkeit" starken Schwankungen unterliegen kann. So sind beispielsweise die thematisch gebundenen Partien in der 1968er Besetzung mit Sam Rivers eher als Heterophon zu bezeichnen, insofern als hier die Darstellung des thematischen Materials durch Alt- und Tenorsaxophon nur selten synchron ist. Schwer zu sagen, ob dies als ein bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel oder nur als eine, durch Rivers' geringe Vertrautheit mit dem Material bedingte, Ungenauigkeit aufzufassen ist.

Das thematische Material der Unit besteht - wie schon in Unit Structures - zumeist aus kurzen melodischen Phrasen in gleichmäßig gespielten Achteln oder Vierteln, also von geringer rhythmischer Strukturierung. Diese Phrasen sind häufig zweigliedrig (durch Wiederholung oder Sequenzierung) und lassen eindeutig tonale Bezüge erkennbar werden. Bei dem im folgenden dargestellten Themenfragment aus The World of C. T. handelt es sich beispielsweise um A-moll.

Charakteristisch für die Arbeit der Unit ist, dass dieses thematische oder motivische Material niemals für sich steht, wie beispielsweise die Themen im Bebop oder bei Ornette Coleman, sondern dass es improvisatorisch durchsetzt oder aufgebrochen wird. Im allgemeinen geschieht dies so, dass Cecil Taylor die von den Bläsern im Unisono gespielten Motive am Klavier improvisierend kommentiert; oft hat man den Eindruck, dass er direkt gegen sie anspielt und auf diese Weise zwei kontrastierende Schichten schafft, die einander zu einem heterogenen Ganzen durchdringen. Nicht selten wird die Einheit des thematischen Materials allerdings auch schon dadurch aufgehoben, dass die Bläser zwischen den kompositorisch fixierten Partien zu improvisatorischen Exkursionen aufbrechen, so dass eine Art von kleingliedriger Reihungsform entsteht, wie sie ähnlich in den Soloimprovisationen Cecil Taylors anzutreffen ist.

Zweitens. Konstante Stil Merkmale Tonalität und Tempo... Es wirkt irgendwie ein bisschen ernüchternd: Wenn man sich - entgegen allen vernünftigen Hörgewohnheiten - die Einspielungen der Unit gewissermaßen in einem Rutsch und dazu noch analytisch durchhört, stellt man u.a. zweierlei fest. Zum einen: Fast das gesamte thematisch-motivische Material, aber auch auf weite Strecken die "backings" Cecil Taylors und folglich auch die solistischen Beiträge der anderen Mitspieler kreisen quintenzirkelmäßig um das tonale Zentrum H, sind also E-H-F#-zentriert, wobei insbesondere im thematischen Material darüber hinaus modale oder Tonartencharaktere (zumeist Moll) hörbar werden. - Zum anderen: Wann immer die Rubato-Phase der Plain verlassen wird und sich die für die Area typische Pulsrhythmik zu etablieren beginnt, wird sich mit hoher Sicherheit eine Pulsfrequenz von = 350 einstellen, mit gelegentlichen Abweichungen von 320-390. Mit anderen Worten, die Musik der Unit ist - von einem bestimmten Stadium des Spielprozesses an - fast unweigerlich sehr schnell und zudem ziemlich konstant schnell.

Tonales Standard-Zentrum H und eine Pulsfrequenz von = 350. Woher rührt diese Einförmigkeit? Einige Spekulationen seien gestattet. Das permanente Kreisen um das Zentrum H mit deutlicher Tendenz zum H-moll habe ich bereits im Zusammenhang mit Taylors Soloarbeit festgestellt. Es handelt sich dabei also fraglos um ein individuelles Spiel- bzw. Kompositionsprinzip Cecil Taylors, das hier auf die Musik der Unit übertragen wird. Aber ist diese E-H-F#-Zentrierung nur reflektiert oder unbewusst? Dient sie dazu, den Bb-Tonarten-gewohnten Bläsern ihre unter den Fingern liegenden Klischees auszutreiben? Oder resultiert sie nur aus einer Gewohnheit?

Die Feststellung, dass das Herz der Unit fast durchgehend mit einer Frequenz von etwa 350 Schlägen pro Minute klopft, hat mich - offen gestanden - sehr irritiert. Habe ich so etwas nicht schon einmal irgendwo gelesen - oder sogar geschrieben? "Dies aber bedeutet, dass ein ,Takt' von vier Vierteln in etwa der menschlichen Pulsfrequenz entspricht; und es bedeutet ferner, dass die Art von Free Jazz, von der hier die Rede ist, vielleicht in einem viel stärkeren Maße Körper gebunden ist, als man sich das gemeinhin vorstellt." 17) - Wenn das stimmt, was ich 1978 über die "Euro-Time" schrieb, dann ist der New Yorker Herzschlag offenbar wesentlich schneller als der Berliner oder Wuppertaler. Aber handelt es sich tatsächlich um eine physiologisch bedingte Konstante, die die Unit besinnungslos musikalisch umsetzt? Oder um ein musikalisches Gestaltungsprinzip, hinter dem eine Intention steht?

Entwicklungstendenzen

Es ist sicher nicht unproblematisch, einen zwanzigjährigen musikalischen Entwicklungsprozess auf der Basis von 11 Schallplatteneinspielungen rekonstruieren zu wollen, zumal dann, wenn diese Einspielungen sehr ungleichmäßig über die Jahre verteilt sind und einige mehrjährige Lücken bestehen - Zeiten der Inaktivität oder Zeiten der Arbeit, die nicht dokumentiert ist. Sei es wie es ist: Veränderungen in den Ausdrucksmitteln und im Ensemblestil der Unit sind ohne Frage konstatierbar, wenngleich nicht gerade im Sinne einer folgerichtig verlaufenden stilistischen Entwicklung, sondern eher in Form eines Pendelns zwischen verschiedenen expressiven und konstruktiven Konstellationen.

Der ursprünglich unter dem Titel Nuits de la Fondation Maeght von Shandar und später als The Great Concert von Prestige herausgebrachte Konzertmitschnitt aus St. Paul de Vence vom Juli 1969 enthält eine außerordentlich Energie geladene Ensemblemusik, die in ihrer gleich bleibend hohen Klang- und Ereignisdichte (Pulsfrequenz bei 380!) flächenhaft und wenig strukturiert wirkt. Sam Rivers hat es in diesem Kontext schwer, sich gegenüber den vehementen Aktionen Taylors und Cyrilles durchzusetzen; Jimmy Lyons hingegen lässt sich dadurch zu einem ausgedehnten Solo von großer melodischer Klarheit und rhythmischer Intensität inspirieren, das meines Erachtens einen Höhepunkt des Konzertes bildet. - Cecil Taylor stimmt übrigens in dieser Einspielung erstmalig einen seiner "lndianergesänge" an, wie sie sich viel später dann in den 80er Jahren zum Eröffnungsritual der Unit entwickeln.

Differenzierter in der strukturellen Anlage und zugleich besser durch hörbar als der französische Konzertmitschnitt wirkt die vier Jahre später entstandene LP Spring of 2 Blue Js. (Die A-Seite der Platte enthält - wie vorher beschrieben - ein Klaviersolo). Taylor spielt hier im Quartett mit Lyons, Sirone und Cyrille. Die Musik lässt auch im aufs höchste gesteigerten Powerplay eine sehr intensive rhythmische Interaktion erkennbar werden. Besonders beeindruckend ist einerseits ein über rund 10 Minuten hinweg aufgebautes emotionales Crescendo, das den Eindruck erweckt, es ginge später höher, schneller, lauter (was objektiv nicht der Fall ist), und andererseits ein leider nur recht kurzes Bass-Schlagzeug-Duo (Taylor setzt hier aus!), das vergleichsweise entspannt klingt und damit einen deutlichen Kontrast zu der ansonsten herrschenden Hochspannung setzt. Wie die meisten "Stücke" der Unit enthält auch Spring.. einen Schluss, der im Grunde keiner ist: es läppert sich völlig unspektakulär aus.

Dark to Themselves, aufgenommen im Juni 1976 in Ljubljana, entspricht von seiner formalen Anlage her Spring... und gewinnt seine Eigenständigkeit vor allem im Klanglichen durch die veränderte Besetzung: Erstmalig sind Raphé Malik und David Ware dabei und an die Stelle von Andrew Cyrille tritt Mark Edwards, sehr sensibel agierend mit einem ausgeprägten Sinn für dynamische Abstufungen. Eindeutig herausragender Solist ist wiederum Jimmy Lyons, der hier viel mit motivischen Kettenassoziationen arbeitet und dabei immer wieder auf das thematische Material zurückgreift.

Die drei vorgenannten Einspielungen folgen alle dem Unit Structure-Modell: Die Plain-Abschnitte dauern im allgemeinen zwischen fünf und sieben Minuten, um dann in die Area genannten Formkomplexe überzugehen, in denen jeweils ein improvisierender Solist im Vordergrund steht. Eine gewichtige Ausnahme gegenüber diesem Organisationsprinzip bilden die beiden im April 1978 für die "Anthology of Americen Music" auf World Records eingespielten LPs Cecil Taylor und 3 Phasis. Hier ist praktisch der gesamte Spielprozess mit thematischem Material durchwuchert, bildet also gewissermaßen eine einzige groß angelegte Plain. Die beiden Bläser, Raphé Malik und Jimmy Lyons, geraten dabei über weite Strecken in die Rolle bloßer Lieferanten thematischen Materials, das sie aus einem wahrhaft riesigen Motivkatalog entnehmen und in einigermaßen regelmäßigen Abständen in die Trlo-lmprovisationen von Taylor, Sirone und Jackson interpolieren. Dem kompositorischen Gerüst wächst damit eine Bedeutung zu, wie sie in keiner anderen Einspielung der Unit zu finden ist. Die Tatsache, dass es sich hierbei um die einzigen Schallplatten der Unit handelt, die im Studio entstanden, dürfte hierbei gewiss eine Rolle gespielt haben, aber wohl auch der Umstand, dass der kulturpolitische Stellenwert dieser Anthologie den Komponisten Taylor in ganz besonderem Maße forderte.

Was allerdings Gary Giddins dazu verleitete, diese Einspielungen gleichrangig an die Seite der legendären Blue Note-LPs von 1966, Conquistador und Unit Structures, zu stellen 18), vermag ich - offen gestanden - nicht nachzuvollziehen. Ganz abgesehen davon, dass die solistischen Beiträge und vor allem auch die rhythmische Substanz der beiden Blue Notes wesentlich überzeugender wirkten, wiesen sie auch in ihrer konzeptionellen Ausrichtung und ihrer formalen Anlage ein weitaus höheres Maß an innerer Konsistenz und Stimmigkeit auf. Die New World-Produktionen erscheinen demgegenüber streckenweise ziemlich konfus.

Im gleichen Jahr wie die Aufnahmen zur Anthology, während einer Europatournee der Unit, entstanden an zwei aufeinander folgenden Tagen (bzw. Nächten) im Juni zwei Live-Mitschnitte von Konzerten in Kirchzarten im Schwarzwald und in der Liederhalle in Stuttgart. Die Unterschiede zwischen beiden können größer kaum sein, was - nebenbei gesagt - eine wichtige Erkenntnis über die konzeptionellen Grundlagen der Spielpraxis der Unit vermittelt, die sich offenbar von einem Abend zum anderen radikal ändern können. Live in the Black Forest ist ein nach dem Unit Structure-Modell aufgebauter Set mit relativ kurz phasigen Entwicklungsprozessen und einer vergleichsweise großen Vielfalt an unterschiedlichen Gestaltungs- und Ausdrucksmitteln. Bei ihrem Auftritt in der Stuttgarter Liederhalle verzichtet die Unit auf die strukturelle Aufbauphase der Plain. Statt dessen werden in den rund zweistündigen Spielprozess zwei liedhafte Rubato-Balladen in Moll eingeführt und improvisatorisch verarbeitet. Im übrigen zeichnet sich diese Einspielung nicht nur durch ihre zeitlichen Dimensionen aus, sondern auch durch ein eklatantes Ungleichgewicht der Kräfte: Cecil Taylor spielt in diesen zwei Stunden immer, Jimmy Lyons kommt ganze 18 Minuten zum Zuge, Raphé Malik ist nur 8 Minuten im Einsatz. (Was macht er den Rest der Zeit?) Mag eine solche Kalkulation auch klein kariert anmuten, so sagt sie doch ohne Frage einiges über die Rollenstruktur in der Gruppe aus. Diese ist - vorsichtig ausgedrückt - nicht allzu gut ausbalanciert.

Von größerer innerer Geschlossenheit als die vorausgegangenen Einspielungen der Unit sind die beiden folgenden: It is in the Brewing Luminous, aufgenommen im Februar 1980 während eines mehrtägigen Engagements im New Yorker Club "Fat Tuesday", und Calling it the 8th, ein Live-Mitschnitt von den Freiburger Jazztagen im November 1981. Brewing Luminous ist weitgehend a-thematisch (lediglich Spuren des Unit Structure-Modells werden hörbar) und profitiert von einer hochkarätigen, quasi "retrospektiven" Besetzung: Alan Silva am Kontrabass plus Sunny Murray und Jerome Cooper an zwei Schlagzeugen. Die nahe liegende Befürchtung, die Mitwirkung zweier Schlagzeuger würde automatisch zu einer überhöhten Dichte und damit zu einem Mangel an rhythmischer Prägnanz führen, erweist sich als unbegründet. Murray und Cooper interagieren äußerst präzise, die gesamte rhythmische Grundierung wirkt sehr klar und - bei einer deutlich niedrigeren Pulsfrequenz als sonst - auf eine freejazzspezifische Weise swingend.

Ein besonders beeindruckender Spielprozess ist auf Seite C der Doppel-LP festgehalten. In einer sich über rund 12 Minuten ausdehnenden Steigerungsanlage überlagern einander vier divergierende musikalische Schichten zu einem vorantreibenden Ganzen: Die Grundierung und gleichzeitig das Maximum an drive liefern die beiden Schlagzeuger mit shuffleartigen Achteltriolen bei einem Tempo von = 170, durchsetzt durch off-beat eingehämmerte Trommelakzente; Alan Silva schafft con arco eine Farbschicht im tiefen Register, Ramsey Ameen kontrastiert dazu mit schnellen Tonrepetitionen und Phrasenpartikeln im Diskant, und Taylor "bindet" das Ganze durch alle Register umspannende Bewegungscluster. Ein überaus gelungenes Stück time-verankerter Klang/Energie-Musik!

Die LP Calling it the 8th dokumentiert die Arbeit einer aufs Quartettformat reduzierten Unit - wie ich finde, einer der besten, die es seit den 60er Jahren gab. Jimmy Lyons, Cecil Taylor, William Parker und Rashid Bakr spielen hier eine interaktionsstarke Musik, pendelnd zwischen Energetik und Ruhe, dichten Hochgeschwindigkeitspassagen und melodisch weit ausholenden Hymnen.

In den beiden Live-Mitschnitten aus Bologna und Wien vom 3. und 7. November 1987 ist das Unit Structure-Modell endgültig zu den Akten gelegt. Es wird von A bis Z frei gespielt: totale Improvisation, nicht aber totale Kommunikation. Während Cecil Taylor, scheinbar relativ unberührt von seiner musikalischen Umgebung, sich weitgehend auf ein äußerst intensives und dichtes energy play konzentriert, können die Beiträge von Carlos Ward und Leroy Jenkins nur schwer Fuß fassen, wirken zum Teil episodisch. Eine neue Farbe kommt durch Thurman Barkers Marimbaphon ins Spiel, pentatonisch mit einem leicht exotischen Flair, das durch Carlos Ward an der Flöte aufgegriffen wird.

Komponist Cecil Taylor?

In seinem Covertext zu der amerikanischen Ausgabe des St. Paul de Vence-Konzerts behauptet Gary Giddins: "lm wesentlichen ist Cecil Taylor Komponist."

In einem Interview mit Meinrad Buholzer im Jahr 1984 sagt Cecil Taylor: "An Kompositionen habe ich kein Interesse, ebenso wenig an Disziplin, an diesem ganzen akademischen Kram, bei dem alles determiniert ist. Das sind alles Gefängniszellen." 19)

Den Teilnehmern eines Orchester-Workshops im kanadischen Banff erklärt Cecil Taylor 1985: "Sich hinzusetzen und ein Stück Musik aufzuschreiben, und dann von den Musikern zu verlangen, dass sie diese Musik aufführen, unter der gleichen dirigentischen Bevormundung, wie sie Händel seinen Musikern gegenüber an den Tag legte - das scheint mir ein sehr fragwürdiges Konzept zu sein." 20)

In einem Gespräch mit Kenny Mathieson sagt Taylor 1987: "Ich glaube, Komposition - in Anführungszeichen - ist in erster Linie ein archivarischer Alptraum. Denn sie hat überhaupt nichts - oder nur sehr wenig - mit der Geisteshaltung heute lebender, kreativer Musiker zu tun... Wir haben bereits vor langer Zeit erkannt, dass die Musik nicht in den Noten existiert. Sie existiert in unserem Inneren, in unserem Körper, oder - vielleicht ein wenig sentimentaler - in unserem Herz. Und sicherlich in unserem Kopf. Die Noten sind nichts als Zeichen, Kommuniques, die zur Hervorbringung von Musik dienen." 21)

Komponist Cecil Taylor?

Dass die Unit mit kompositorisch vorgegebenem Material arbeitet, steht außer Frage. Insbesondere die im Unit-Structure-Modell so genannten Plain-Abschnitte basieren in wesentlichen Teilen auf dem von Taylor komponierten Motiv-Material. Doch auch andere Formen kompositorischer Arbeit finden in der Musik Taylors ihren Niederschlag: beispielsweise die "chromatischen Balladen" in seinen Soloeinspielungen oder die im tempo rubato gespielten liedartigen Themen in einigen Einspielungen der Unit. Aus der Perspektive zeitgenössischer Kompositionspraxis (im Jazz ebenso wie in der artifiziellen Neuen Musik) entspricht Taylors Kompositionsweise weder im Ansatz noch in ihren Resultaten dem aktuellen Stand der Entwicklung. Sie ist gleichsam archaisch, rudimentär: Einstimmig gespielte, floskelhaft knappe Motivketten, "Lieder" mit funktionsharmonischen Bezügen über längst verbrauchte (chromatische) Bassformeln, relativ eng umgrenzter tonaler Bezugsrahmen, kaum übergreifende formale Zusammenhänge..In der Tat eine außerordentlich reduzierte Form kompositorischer Praxis.

Aber die Perspektive ist falsch und Gary Giddins hat unrecht. Denn Cecil Taylor ist eben nicht "im wesentlichen Komponist", und schon gar nicht einer, dessen Arbeit an jener von Anthony Braxton oder Barry Guy bzw. von Pierre Boulez oder György Ligeti gemessen werden müsste. Taylor ist in erster Linie Improvisator, und die Unit ist keine Gruppe von ausführenden Interpreten, sondern ein Improvisationsensemble. Insofern versorgt Taylor seine Mitspieler (oder sich selbst) nicht mit Kompositionen, im herkömmlichen Sinne von ein für allemal fertigen Strukturgebilden, sondern er versorgt sie (und sich) mit "bearbeitbarem" Material, gibt keine Anweisungen, sondern macht Angebote. Zurückgreifend auf die orale Tradition afro-amerikanischer Musik macht er diese Angebote gewöhnlich nicht schriftlich, sondern mündlich. Mit anderen Worten: er singt (oder spielt) seinen Musikern einzelne Phrasen vor oder er nennt ihnen die Tonbuchstaben in die Richtung der Intervallfortschreitungen, die später - zusammen genommen - das thematische Material eines Stückes konstituieren.

Das Verfahren ist - wie gesagt - nicht neu, sondern tief in der volksmusikalischen Tradition verankert. Und auch im Jazz hat es seine Vorläufer - beispielsweise bei Charles Mingus. Cecil Taylor: "Ich fand heraus, dass man mehr von den Musikern bekommt, wenn sie die Stücke nach dem Gehör lernen, wenn sie die changes hören müssen, anstatt sie einfach von den Noten abzulesen. Und das hat wiederum etwas mit der Jazztradition zu tun, damit, wie die Jungs in New Orleans um die Jahrhundertwende ihre Stücke machten. Das ist unser Ding, und nicht Komposition." 22) Taylor sagte dies Mitte der 60er Jahre, als Komposition in seiner Musik noch eine vergleichsweise große Rolle spielte.

Taylor hören

"Die Intensität der Darbietungen Taylors wirkt strapaziös, einschüchternd - mitunter beängstigend", schreibt Mark Miller1986 in den Banff-Letters. 23) - Im Down Beat bemerkt Kevin Whitehead 1987: "Das Problem mit Cecil Taylor besteht nicht darin, dass es schwer fällt ihm zuzuhören, sondern darin, dass die Leute es überhaupt schwer finden zuzuhören. Man kann aber seiner Musik nicht mit halbem Ohr folgen, sie fordert Aufmerksamkeit, denn er setzt seine eigenen Regeln. 24)

Dass Cecil Taylors Musik an seine Zuhörer Ansprüche stellt, die weit über die Gewohnheiten alltäglicher Jazzrezeption hinausgehen, lässt sich in jedem seiner Konzerte beobachten: da gibt es kein entspanntes Fußwippen und Fingerschnipsen, kein friedliches Zurücklehnen in den Sitz, mit geschlossenen Augen und einem versonnenen Lächeln auf den Lippen. Cecil Taylors Musik nimmt einen mit. Seine über Stunden sich ausdehnenden, Energie geladenen Spielprozesse übertragen auf den Hörer, sobald er sich wirklich auf sie einlässt, eine psychische Hochspannung, die sich in physische Erschöpfung umsetzt. "Fix und fertig" zu sein nach einem seiner Konzerte, ist insofern durchaus kein pathologisches Symptom, sondern Resultat adäquater Taylor-Rezeption.

Dabei ist - trotz alledem - das physische Moment natürlich nicht das zentrale, denn schließlich handelt es sich nicht um Sport, sondern um Musik, und wohlgemerkt um solche mit einem künstlerischen Anspruch. "Geht es bei Ihrer Musik ums Verstehen oder ums Fühlen?" wird Taylor gefragt, und er antwortet scheinbar mehrdeutig: "Nun, ums Verstehen. Wenn der Hörer im reinen mit seiner Empfindungswelt ist, dann ist das Verstehen inbegriffen. Ich meine, dass die Emotionen den Intellekt informieren - und nicht umgekehrt." 25) Dass eine ausschließlich analytische Annäherung an Taylors Musik misslingen muss, steht außer Frage. Würde man sich die Mühe machen, seine sämtlichen Schallplatteneinspielungen in Notentexte zu übersetzen und sie bis ins letzte Detail auf ihre strukturellen Feinheiten hin zu untersuchen, man würde zwar vieles erfahren, wohl aber kaum zum Wesentlichen, zur Essenz vordringen. Dennoch ist der oft zu hörende Einwand, an dieser Musik gäbe es prinzipiell nichts zu verstehen, man müsse sich ihr nur ganz hingeben, um sie angemessen zu erleben, völlig unhaltbar. Wenn mir jemand im Dunkeln aufs Auge haut, sehe ich Licht; aber ich würde doch trotzdem ganz gerne wissen, wer mir da aufs Auge haut und warum. Cecil Taylor ist ein intellektueller Musiker. Sich beim Hören seiner Musik zu fragen, wie er dieses oder jenes macht und warum, ist deshalb keineswegs abwegig, sondern sinnvoller Bestandteil ihrer Rezeption. Die Befürchtung, die hinter dieser Musik stehenden Konstruktionsprinzipien seien viel zu komplex, als dass sie sich dem Hören erschließen könnten, ist dabei weitgehend unbegründet. Die Konstruktionsprinzipien sind sogar, wie in diesem Text hoffentlich gezeigt werden konnte, eher einfach. Kevin Whitehead brachte dies in seiner Rezension von For Olim sehr prägnant auf den Nenner: "Er beginnt häufig mit einem winzigen Kern musikalischer Information, expandiert und transformiert ihn, destilliert daraus einen neuen Kern und lässt den Prozess aufs neue beginnen. Es ist wirklich ein einfacher Prozess - Thema und Variation, call-and-response. Und wenn man sich erst einmal darauf eingestellt hat, so zu hören, läuft das wie von selbst." 26)

Ganz sicher läuft es nicht immer so einfach, aber im Prinzip liegt hier einer der Schlüssel für einen "verstehenden" Zugang vor allem zu Taylors Solomusik: Variation, antiphonale Motivgruppierungen, assoziative Fortspinnungen... Verdunkelt wird diese Klarheit allerdings durch den hohen Dichtegrad der Taylor'schen Spielprozesse und durch die immense Geschwindigkeit, mit der sie ablaufen. Taylor arbeitet mit Elementen aus einem gigantischen Baukastensystem, die er immer wieder zu immer neuen Kombinationen zusammenfügt. Wenn man dies mitunter nicht erkennt bzw. erkennen kann, so liegt das nicht zuletzt an der ungeheuer dichten Binnenstruktur dieser Elemente. Taylor ist ein Systematiker, der seine Systeme hinter Geschwindigkeit verbirgt.

Ein anderer Aspekt, der das "Verstehen" von Taylors Musik behindert, ist vor dem Hintergrund von Hörgewohnheiten zu sehen, wie sie sich insbesondere im Zusammenhang mit der Rezeption der europäischen artifiziellen Musik herausgebildet haben, wie sie aber auch im Jazz bisweilen eine wichtige Rolle spielen. Der Hörer "klassischer" Musik (und ich meine den Zuhörer und nicht den Konsumenten) ist es gewöhnt, dass ihm auf musikalische Weise eine Geschichte erzählt wird, dass eine Folge von deutlich voneinander unterscheidbaren musikalischen Ereignissen abläuft, die in bestimmten Beziehungen zueinander stehen, die unter Umständen größere Zusammenhänge erkennbar werden lassen, die auf Vorangegangenes zurückverweisen oder später Eintretendes ankündigen, die eine Steigerungsanlage oder einen Ziel gerichteten Entwicklungsprozess beinhalten. Cecil Taylors Musik ist in diesem Sinne nicht erzählend, zumindest jene nicht, die sich außerhalb der Plain-Abschnitte mit ihren mannigfachen thematischen Einsprengseln abspielt. Die Area genannten Spielprozesse - solistisch ebenso wie in der Unit - sind gewöhnlich von einer so hohen Energie- und Ereignisdichte, dass die Musik flächenhaft wirkt. Eine stürmisch bewegte Klangfläche aber erzählt keine Geschichte, stiftet keine formalen Beziehungen, verweist weder auf Vergangenheit noch auf Zukunft, sondern ist Gegenwart: ein Bewegungszustand, in den man sich als Hörer quasi hineinwirft, dem man sich aussetzt, von dem man fortgerissen wird, ohne sich Gedanken über das Woher oder Wohin zu machen. Ein solches Hörverhalten hat, ebenso wie der es auslösende Spielprozess, ritualistische Züge. Wer da "verstehen" will, so wie er eine Beethoven-Sonate oder einen balladenhaften Diskurs Ben Websters über die Liebe versteht, wird mit seinen Erwartungen hoffnungslos auf der Strecke bleiben, sich möglicherweise zu langweilen beginnen, denn die bunte Fülle von Klangereignissen pro Zeiteinheit wird sich ihm unversehens in ein monochromes Grau verwandeln. Wenn freilich, wie Cecil Taylor fordert, die Emotionen den Intellekt richtig informieren, kann dies kaum passieren.

Anmerkungen

  1. Ekkehard Jost: Free Jazz, Mainz 1975, 96.
  2. Nat Hentoff: The persistant challenge of Cecil Taylor, in: Down Beat 25.2.1965.
  3. Kevin Lynch: Cecil Taylor and the poetics of living, in: Down Beat 11/1986, 24.
  4. Meinrad Buholzer: Cecil Taylor (Interview), in: Cadence 12/1984, 5.
  5. Gudrun Endress: Cecil Taylor. Spielen, als ob es das letzte Mal wäre (Interview), in: Jazz Podium 10/1984, 8.
  6. Lee Jeske: Percussive pianist meets melodic drummer, in: Down Beat, 4/1980, 17.
  7. Kenny Mathieson: Striking the note, in: The Wire 46/47 (Dez.1987).
  8. Zit. nach R. S. (Ramsey Ameen): Covertext zu New World Records NW 201.
  9. E. Jost: Free Jazz, Mainz 1975, 80
  10. Ebda.84.
  11. Ebda.57.
  12. Ebda.89.
  13. Ebda.87.
  14. Zit. nach Spencer A. Richards: Covertext zu ,Live in Vienna', Leo Records LR 408/409.
  15. E.Jost, Free Jazz, 90.
  16. Whitney Balliett: Such sweet thunder, London 1968, 236.
  17. Ekkehard Jost: Europäische Jazzavantgarde - Emanzipation wohin? in: For Example. Workshop Freie Musik 1969-1978, Berlin 1978, 58.
  18. Zit. nach J.W., in: Jazzthetik 1/1988, 55.
  19. Meinrad Buholzer: Cecil Taylor, in: Cadence 12/1984, 9.
  20. Zit. nach Mark Miller: Cecil Taylor. Musician, poet, dancer, in Coda 220 (Juni 1988), 5.
  21. Zit. nach Mathieson, in: The Wire 46/47, 59.
  22. A. B. Spellman: Four lives in the bebop business, London 1967, 70.
  23. Zit. nach M. Miller, a. a. O.
  24. Kevin Whitehead: For Olim (Rezension), in: Down Beat 11/1987, 30.
  25. Zit. nach G. Endress, a. a. O., 7.
  26. K. Whitehead, a. a. O.

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