Cecil Taylor in Berlin '88

G. Fritze Margull (1989)

Improvised music II/1988

I
Berlin (West), Juni/Juli'88, "Kongresshalle" - ein Veranstaltungsort abseits gelegen, am Rande des Tiergartens. Dicht dahinter die Spree, kanalisiert, glatter Lauf. Abgenutztes Postkartenmotiv - in den fünfziger Jahren erbaut, eingestürzt, wieder aufgebaut: misslungene Baukunst. Vor zwanzig Jahren etwa, auch Austragungsort der "Berliner Jazztage", meist für ,low acts'. Seit der Zeit, kaum ein Anlass dieses Betonrelikt zu betreten.

Der Vorbehalt sitzt tief. Schlechte Säle und misslungene Veranstaltungen bringen sich in Erinnerung. Kein gutes Vorzeichen. Vor dem Haupteingang eine rechteckig gefasste Wasserfläche. Im Gebäude selbst, geht es zunächst einige Stufen hinauf, dann zwei, drei Schritte weiter, dieselbe Anzahl von Stufen wieder hinab. Misslungene Illusion - wäre da nicht doch überraschend, ein großer, weiter Raum - in dämmrig grauem Licht - der, in seiner Stille, Tiefe, den Eindruck eines Schiffsbauches vermittelt. Kühl, sachlich.
Im vorderen Teil ein, die ganze Breite einnehmendes Podest (grau). Darauf, der einzig harte Akzent im Raum: ein schwarzer, im Licht glänzender Flügel. Eine optisch-ästhetische Anordnung, wie die Tuschskizze eines Stieres vor dem Kampf.

II
Gedämpfte Akustik. Oder ist es die Spannung, die verhindert, dass Zuhörer laut werden?
In jedes Konzert kommen mehr und mehr und andere. Es spricht sich herum. Einige sind von weit her, haben Tausende von Flugkilometern zurückgelegt, um dabei zu sein.
Man kennt sich bald. Die gleiche Erwartung und leichte Erregung vor Beginn. Austausch über das letzte, vorletzte Konzert und das davor. Musik die nachklingt, die noch immer präsent ist, bevor sie erneut überlagert wird, eingestochen in Kopf und Bauch und dorthin, wo Musik ihre Wirkung hat; weshalb wir alle immer wieder hingehen.

III
Cecil Taylor - seit einem Vierteljahrhundert wieder und wieder gehört und gesehen. An unterschiedlichen Orten - allein und mit anderen Musikern (oft mit Jimmy Lyons). Musiker, die allesamt wie Verschwörer auftreten und immer wissen, was getan werden muss, um dir, dem Zuhörer, beizubringen, dass hier kein leichtes Davonkommen ist. Dass es jetzt etwas zu "knacken" gibt, das nur für dich wichtig ist, ohne dir zu verraten, wie du dahinter kommst.
So zwei bis vier Stunden geben sie dir die Chance, lassen dich dann ausgelaugt in deinem Sessel/Stuhl/am Boden zurück - und sind so rasch wieder weg, wie der Eindruck eines Traumes, mit dem man noch einige Tage einhergeht, bis, irgendwann, ein Anlass das Versenkte wieder präsent macht...

Juni/Juli 1988: Abende gab es, an denen die Töne nicht verlöschen wollten. Stunden voller Imagination, bei höchster Aktivierung aller Sinne. Man nimmt teil an der permanenten Fortschreibung eines Werkes, das in Gänze Cecil Taylor gehört und unbeschadet aller Einflüsse, völlig singulär ist; an einer Musik, die nicht bequem zu verstehen ist. Musik, die außerhalb dessen steht, was man täglich hört und die anderen Ohren gilt, die in dir einen Ort erreicht, wo die reine Phantasie herrscht, ungetrübt von Gewesenem.
Nichtbeschreibbare Schönheit. Konzert für Konzert in immer neuen dynamischen Gebilden definiert und entworfen. Einerseits völlig offene Spielform, wie in sich geschlossene Komposition. Alles ist gleichzeitig, horizontaler wie vertikaler Verlauf, Mikro- und Makrostruktur. Oszillierende Erscheinungsbilder zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr. Vibrationen des Entstehens - Vergehens in schnellstem Rhythmus.
Und ständig präsent: Im kleinsten Augenblick, dem flüchtigst angeschlagenen Ton von einer Intensität, die alles fordert, alles erreichen will, alles enthält und - nach der Zukunft hin offen ist. Ständig hinzukommende Töne gliedern sich ein in ein Bezugssystem, das sich selbst unentwegt verändert.

IV
Zwölf öffentliche Konzerte, zehn Probetage mit dem ,European Orchestra', Leitung einer Piano Master Class und eines Ensemble-Workshops; ein Arbeitspensum für mehr als nur vier Wochen. Keine Veranstaltung, die gleich und nicht doch von höchster Qualität war. In jeder stellte Cecil Taylor sein Werk zur Überprüfung. Er öffnete es für die Partner, bezog sie ein und forderte sie auf, ihre Musik und ihr Können hinzu zugeben. Eine Forderung, die bei der Vertracktheit seines musikalischen Systems und der physischen Anforderung das Höchstmögliche von den Musikern verlangte.

Jede der Begegnungen, immer spannend, voller Erlebnisse des Augenblicks, des Austausches. Trommelsprache und Saitenton. Holz und Metall. Körpersprache, schamanisches Ritual. Ein Klangraum voller Vibrationen.

Elf Bläser, Vibraphon, Cello, doppelt besetzter Bass, Piano, Schlagzeug: Siebzehn Individualisten bildeten einen Klangkörper (als Big Band deklariert), der, gleich nach den ersten Takten mit enormen Drive abhob, um nach einer langen/viel zu kurzen Stunde hart, aber gelungen, auf dem Bühnenboden wieder aufzusetzen.

V
Erleichterung, Gelöstheit und das Gefühl, jener/jeder Abend möge kein Ende haben. Morgen noch einmal. Erneute Begegnung ... Verlängerung im "Abraxas": Soul-, Funk-, Jazz-Disco, täglich geöffnet von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens. Vorbei. Zu Ende. Selbst der letzte Schluss fand sein Ende.

Was bleibt?

Langer, langer Nachklang, kein flüchtiger Traum mehr, der einen Anlass benötigt. Eingefangene Stunden, gelebt und erlebt. Wiederkehrende Erinnerungen/Eindrücke beim Nachhören der Musik. Also doch nicht vorbei.

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