Cecil Taylor in Berlin '88

Bert Noglik (1989)

Ein Licht, im Freien entzündet

Cecil Taylor - both sides of the Wall

Die Klänge, der Körper, die Worte, die Sprachlosigkeit. Die Stimme hinter dem Vorhang. Rezitation. Beschwörung. Einstimmung auf das Ritual. Geschichten aus fernen Zeiten, wieder aufgenommen. Vokale Modulationen weit gespannter Erfahrungen. Nach einer Weile dann erscheint er, dem die belanglose Existenz nicht genug ist. Kommt mit rhythmisch versetzten Schritten, kleinen Sprüngen, fließenden Bewegungen. Schutzlos, wehrlos, mit einer leuchtenden Liebe zum Sein. Als ob er sich Jahre auf diesen Auftritt vorbereitet hätte, der doch nur ein Moment ist in der Folge gelebter, erlebter Augenblicke. Aus dem Tonfall des Gesangs und der Schrittfolge des Tanzes entwickelt er ein Motiv am Klavier, das ihn weiterführt hin zu komplexen, schwirrenden, vibrierenden Klängen, durchflutet von den Bewegungsenergien des lebenden Organismus. Eine Dynamik, die - einmal in Gang gebracht - ungeahnte Energien freisetzt. Kräfte jenseits rationaler Berechnung und Beherrschung, Kräfte aus dem Innersten, dem Verborgenen. Abgehoben von der Schwerkraft Zweck bestimmten Denkens und Tuns entfaltet er aus der Situation heraus Gebilde von struktureller Prägnanz. Unmittelbarkeit und Folgerichtigkeit. Das Eigenleben der Klänge. Das Leben als Verlaufsform. Die Leichtigkeit des Seins und die Logik der Sinne. Unglaublich, wie sanft sich seine Kraft stellenweise mitteilen kann und wie entschlossen selbst sein Lyrismus wirkt. Jenseits des Beschreibbaren: ein Zustand von Magie. Einer, der gekommen ist, uns mit auf die Reise zu nehmen - auf die Streifzüge durch die Überreste uralter Kulturen, die Dauerläufe über die Hochebenen, die Irrfahrten durch die betonierten Stadtlandschaften, die rastlosen Wanderungen zum Selbst. Mehr nicht als dies: eine ausgeleuchtete Bühne, eine Konzertflügel und einer, der auf diesem Flügel spielt. Mit einer solchen Besessenheit und Hingabe, dass sich die Erfahrung weit über das Musikalische zu öffnen vermag. Nach dem letzten Anschlag erscheint die Musik längst nicht verklungen zu sein. Die Klänge, einmal in die Welt gesetzt, wirken weiter. Über die Dauer des Konzertes und des Beifalls hinaus. Aber das wird man erst später spüren. Unmittelbar nach dem Konzert: Sprachlosigkeit. Bei ihm wie bei allen, die ihm gefolgt sind. Für diesen Moment hat man das Gefühl, es ist nichts mehr zu sagen. Zögerndes Erheben von den Plätzen in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin/DDR. Der Abend eines strahlenden, leuchtenden Tages im Juni.

Beim Nachtessen im kleinen Kreis ergibt sich die Möglichkeit zu einem thematisch weit verzweigten Gespräch mit Cecil Taylor. Gelöstheit, hin und wieder auch Heiterkeit. Taylor, von dem ich annahm, er müsse erschöpft sein, ist aufmerksam, wach, wissbegierig. Nein, als Anstrengung empfände er all dies nicht, eher als eine Art Privileg. Zunächst jedoch ist er es, der mir Fragen stellt. Erst allmählich, nachdem ich fühle, akzeptiert zu werden, wage ich Anstöße, Cecil Taylor über sich selbst sprechen zu lassen.

Mittags des folgenden Tages, vor der Abfahrt zur Probe, bedarf es gar keines Anlaufes. Zwischen Taxibestellung und leichter Mahlzeit kommt Taylor direkt zu einigen Essentials. "Ich bin sehr glücklich, weil ich die für mich beste, produktivste Weise gefunden habe, mit dem Zeitquotienten umzugehen. Das Leben besteht nun einmal aus Zeit. Und ich gehe damit auf meine Weise um. Das ist eine Wahl, die ich getroffen habe, und es macht mir Freude. Manchmal habe ich das Gefühl, dass viele Leute, die auch mit ihren Zeitquotienten umzugehen haben, die Verpflichtung sich selbst gegenüber aus dem Auge verlieren. Das führt dann oft dazu, dass sie mit der Art und Weise, wie sie ihr Leben verbringen, unzufrieden sind."

Cecil Taylor redet mit sanfter Stimme und eindringlichem Duktus, mitunter fast flüsternd. Dem Sinn seiner Worte melodiös Nachdruck verleidend. Oft führt der Fluss seiner Gedanken assoziativ in vorher ungeahnte Richtungen. Manchmal spricht er eine Überlegung nur zur Hälfte aus und folgert dann: you know... Ab und an kommentiert er mit Lachen, mit Lauten und Interjektionen: ah... nnnn... u-uuh...

Die Lebensgeschichte von Cecil Taylor kann man bereits in Musiklexika nachlesen. Was Mitte der fünfziger Jahre - damals in einer Gruppe mit dem Sopransaxophonisten Steve Lacy, Buell Neidlinger am Bass und Dennis Charles am Schlagzeug - als kühner Vorstoß begann, entfaltete sich zu einem Lebenswerk. "Die dreißig Jahre sind sehr schnell vergangen", sagt Cecil Taylor "Zugleich habe ich das Gefühl, vom Glück begünstigt, nämlich ich selbst zu sein." Über die langen, harten, schweren Jahre kein Beklagen. Nur der Nachsatz: "weil ich mich manchmal wundere, wie ich überleben konnte."

Lange und oft hat Cecil Taylor in seiner Genialität unerkannt unter den Zeitgenossen gelebt, zu niedrigen Arbeiten gezwungen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Frustrationen dann auch in den Dienstverhältnissen als Musiker: All die schlechten Klaviere, all die Kontroversen mit den Klubbesitzern, die den Getränkekonsum höher schätzten als die musikalische Botschaft, all die schlecht bezahlten Gigs, die schäbigen Plätze. Als Taylor 1957 mit seiner Gruppe ins "Five Spot" einzog, war der Boden noch mit Sägespänen ausgelegt. Und später gab es oft Zeiten, in denen sich Taylor, ohne Engagements, die Kommunikation mit einer Zuhörerschaft imaginieren musste, um durchzuhalten. Cecil Taylor hat all das gewiss nicht vergessen. Aber er betont die Freude über das musikalische Wachstum, nicht die Bitternis über die Bedingungen. "Es ist die Besessenheit von der Idee, man selbst zu sein. Die reine Existenz, als ob es keinen morgigen Tag gäbe. Das Absolute geben. Und das ist ein Statement in sich selbst. Wie das bewertet wird - ich meine, ob du heute besser oder schlechter gespielt hast -, das ist nicht so wichtig. Du spielst einfach so gut, wie du kannst. Wenn man diese Leidenschaft und diesen Glauben hat, ich denke, dann wird man besser. Das ist die optimale Weise, mein Leben zu gestalten. Es hat mit Besessenheit zu tun und mit Schönheit, mit der Übung der Sinne, mit Hingabe." Nachdem am Abend zuvor so viel von Einzelnem - von bestimmten Musikern, Komponisten, Choreographen, Autoren - die Rede war, bin ich von der unerwarteten Konfessionalität solcher Sätze überrascht. Taylor spricht über die Synthese von Idee und Emotion in Musik, Kunst, poetischem Ausdruck. Letzterer ist für ihn das Übergreifende, alles Durchdringende. "Ich glaube" sagt er, "dass der poetische Ausdruck (the poetic expression), die ursprüngliche natürliche Kraft (primary natural force) bildet. Und dass diese Kraft die Menschen, die damit umgehen, verständnisvoller, mitleidvoller, menschlicher werden lassen kann."

Auf die afroamerikanische Tradition und die Erweiterung dieser Tradition durch Assimilation von Elementen und Substanzen aus anderen Kulturen angesprochen, betont Cecil Taylor im Zusammenhang mit den afrikanisch-amerikanischen seine indianischen Roots. Sowohl die Großmutter väterlicher als auch die mütterlicher Seite war indianischer Herkunft. Seine Abstammung, sagt Taylor, bestimme seine Forschungen, befördere sein Verständnis, verstärke seine Dankbarkeit. Seine musikalische Verwurzelung im Jazz bekräftigend, preist Cecil Taylor Thelonious Monk und Billie Holiday: "Es ist diese besondere Schule menschlicher Expressivität, der ich mich verpflichtet fühle. Ich denke, dass Billie Holiday und Duke Ellington das gleiche Level erreichten." Und nach einer kleinen Pause fügt Cecil Taylor hinzu: "Billie Holiday war eine ganz außergewöhnliche Poetin. Ich sah sie das erste Mal, als ich zwölf Jahre alt war, und ich begriff, dass das mein Leben ändern würde. Als ich elf war, sah ich Maja Plissetzkaja. Und auch das war einfach phänomenal." Mit wenigen Worten umreißt Taylor seine fast gleichzeitige emotionale Erschütterung durch Jazz und klassisches Ballett - Ausdrucksweisen zweier Kulturkreise, wie man sie sich entfernter voneinander schwer vorstellen kann. Aber gerade das ist es ja - die Begrenztheit des Vorstellungsvermögens -, wogegen Taylor opponiert.

Sich des starken Einflusses nicht-europäischer Quellen auf seine Spielweise bewusst, hat Taylor den Radius seiner Musik weit über den Kreis seiner Herkunft ausgeweitet. Andererseits wurde improvisierte Musik, wie sie seit zwanzig Jahren etwa in Europa oder Japan entstanden ist, nachhaltig von Cecil Taylor und Musikern seines Umkreises beeinflusst. Imitationen haben sich im Laufe der Zeit von selbst erledigt. Indem improvisierende Musiker in verschiedenen Teilen der Welt Spielweisen entwickelt haben, die ihrer Mentalität, ihren Traditionen und ihrem Umfeld gemäß sind, ergeben sich auf neuer Stufe Korrespondenzen über die Kontinente hinweg. Dass Cecil Taylor heute beispielsweise mit Europäern gleichberechtigte Arbeitsprozesse eingeht, ist ein schönes Zeichen für die neu erwachsenen Chancen lebendigen Austauschs.

Call and Response. Bezugspunkte der Unterhaltung verknüpfen sich miteinander wie die Themen und Motive in Cecil Taylors Klavierspiel. Es gibt wiederkehrende, sich unterschwellig durchziehende Gedanken, darüber Sprünge und überraschende Wendungen. Mitten im Gespräch über die schwierigen Lebensbedingungen für einen Künstler wie ihn in New York hält Taylor inne, um etwas sehr Persönliches zu formulieren: "Wenn man ein oder zwei gute Freunde hat - das ist eine Menge, das Maximum dessen, was man erwarten kann. Alles übrige hat man selbst zu tun." Und dann kommt Cecil Taylor auf das Leben in New York, auf die Kinder der Stadt und - fast ein Leitmotiv in Interviews mit ihm - auf die Schönheit der Brücken zu sprechen. Ich habe Cecil Taylor nicht nach Jimmy Lyons gefragt, mit dem er seit Anfang der sechziger Jahre bis zu dessen Tod im Jahre 1986 zusammenarbeitete, und der ihm musikalisch und menschlich nahe stand wie nur wenige. Taylor selbst sagte, dass er darüber nicht sprechen wolle, nicht sprechen könne. Und gerade in diesem Satz lag die tiefste Wertschätzung.

Etwas geben, etwas abgeben, um die positiven Energien wachsen zu lassen und sich selbst nicht in Selbstgefälligkeit zu verlieren. Etwas tun, das schwerer wiegt als ein politisches Lippenbekenntnis. Cecil Taylor spricht über seine Sorge um die Kinder und Jugendlichen in den Ghettobezirken von New York- Bezirke, in denen die Gewalt zum Alltag gehört und die Schulen von der Polizei beherrscht werden. "Was kann man tun" fragt Cecil Taylor, "um diese Kinder mit etwas anderem bekannt zu machen? Ich habe eine Idee, will einen Vorschlag einreichen. Ich möchte in die Schulen gehen, dort Konzerte geben, Dichterlesungen und Theateraufführungen anregen." Dann beklagt Taylor den Druck der Massenmedien und die Vergeudung von Lebensenergie. "Das einzige, was ich tun kann, besteht darin, etwas anderes aufzuzeigen und zu sehen, ob es mir gelingt, die Aufmerksamkeit dieser jungen Leute zu gewinnen und ihnen eine Richtung zu zeigen. Es sind nur schmale Ränder, die uns verbleiben, um im Leben etwas tun zu können."

Cecil Taylor spricht konzentriert und wirkt trotzdem völlig entspannt. Er spürt mein Interesse, und er hat wohl auch meine Scheu bemerkt, den Recorder auszupacken und auf den Tisch zu stellen. Zögernd hat er diesen Moment mitverfolgt, dann das laufende Band akzeptiert wie die laufende Zeit. Als der Fruchtsalat aufgegessen ist, warten wir noch immer auf das Taxi. An diesem Punkt wird Taylor nervös. Es ist zwar noch ein ganzer, langer Nachmittag Zeit bis zum Konzert im Duo mit Günter Sommer. Doch Cecil Taylor will üben, besser gesagt, sich einstimmen, sich vorbereiten. Ein mehrstündiges, täglich exerzierten Procedere, dem die Technik und die musikalischen Ideen ihre Himmelsflüge verdanken. Harte Arbeit als die Basis für den Aufschwung in die Gefilde emphatischer Spielbegeisterung und musikalischer Selbstvergessenheit. Als das Taxi endlich kommt, will Taylor schnellsten Weges zum Spielort. Dort, im Keller des Deutschen Theaters, den Zugang zur Bühne suchend, verlaufen wir uns beinahe. Ein Irren durchs Labyrinth. So viele Gänge und so viele Türen. Und immerfort denke ich, es möge jemand seine Hände beschützen. Endlich angekommen, will Taylor nur noch ans Klavier. Kein gelangweilter Musiker beim Soundcheck. Volle Hingabe, als gelte dies jetzt und sonst nichts anderes.

Über die Konzerte mit Cecil Taylor in Berlin kann man in den Liner Notes lesen. Und vor allem: man kann die Aufnahmen hören. Daher hier nun ein Sprung vom Nachmittag in den späten Abend, after hours: mit Cecil Taylor, Dagmar und Jost Gebers in der Nachtbar des Hotels "Stadt Berlin", hoch über dem Alexanderplatz. Von hier bis nach West-Berlin sind es nur wenige hundert Meter Luftlinie. Die Discomusik kommt aus der internationalen popmusikalischen Erdumlaufbahn. So, wie es Cecil Taylor nachmittags, abends an den Flügel zog, zieht es ihn nun auf die Tanzfläche. Er, der das Erbe schwarzer Musik ausgedehnt, verfeinert und bis zu abstrakten, hochartifiziellen Formen künstlerischen Ausdrucks weitergeführt hat, blieb mit dem Herzen immer auch bei Marvin Gaye und Aretha Franklin. Wer Taylors Werk in Analogie zu dem euroamerikanischer Komponisten interpretieren will, wird damit schwerlich zurande kommen. Taylor tanzt mit Dagmar, auch allein, springt, als wäre er ein Jüngling. Von einem bestimmten Punkt, hatte Taylor gesagt, fließen die Energien organisch zusammen. Das Überleben vorausgesetzt. Taylor sagt, er ist in Harmonie mit sich selbst. Er, der Musik zu Balletten von Mikhail Baryshnikov geschaffen und mit Ensembles wie dem um Mickey Davidson zusammengearbeitet hat, sieht keine Kluft zwischen dem Tanztheater, der Alltagsbewegung und der Disco. Schließlich sei auch die Musik eine Art Körpersprache.

Als wir mittags auf das Taxi warteten, hatte Cecil Taylor fast unvermittelt die folgende Geschichte erzählt: "Vor etwa fünfzehn Jahren, auf dem Weg Eastside, in einer ökonomisch ziemlich heruntergekommenen Gegend, besuchte ich eine Diskothek. Ich sah die jungen Leute dort tanzen und empfand so etwas wie absolute Bescheidenheit. Das Eigenartige war, dass ich gerade aus einer Aufführung mit George Balanchines Ballettensemble kam. Ich dachte daran, welchen immensen Studienaufwandes es bedarf, Ballett-Tänzer zu werden. Und wie wundervoll tanzten diese jungen Leute, die nie studiert hatten und die in der Umwelt, in der sie lebten, wohl niemals gesagt bekommen würden, wie magisch sie waren." Und mit einem Anflug von Sentimentalität fügte Taylor hinzu: "Was mag aus ihnen geworden sein... Das ist lange her, vergangen..."

Die Nacht lässt Cecil Taylor aufleben. Hoch über dem Alexanderplatz spricht er über New York. "Wenn ich, sagen wir, Mitternacht von Brooklyn nach Manhattan gehe, führt mich der Weg über die Manhattan Bridge. Zur Linken sieht man Lower Manhattan und die Brooklyn Bridge und zur Rechten die Williamsburg Bridge, die - was die Struktur anbelangt - meine Lieblingsbrücke ist. So um Mitternacht die erleuchteten Gebäude zu sehen, das ist ein beeindruckendes Bild. Und wenn ich dann morgens gegen sechs, sieben, acht zurückkomme, ergibt sich ein völlig anderer Eindruck, weil man unter sich all das Wasser sieht, und das ist auch sehr faszinierend."

Fern von New York in der Diskothek des Hotels "Stadt Berlin" weiß ich nicht einmal, ob ich Cecil Taylor noch in diesem Sommer in West-Berlin hören werde. Seit meiner Kindheit, seit dem Bau der Mauer war ich nicht mehr dort. Ob das wieder einmal beantragte Besuchsvisum für West-Berlin diesmal erteilt werden würde, ist zur Stunde ungewiss. Ich spreche nur kurz darüber, bezweifle, ob Taylor das überhaupt verstehen kann; es geht ohnehin um andere Themen. Als wir uns verabschieden, bringt mich Taylor mit der Bemerkung zum Erstaunen, er hätte mir noch eine Geschichte zu erzählen, später in diesem Sommer, on the other side of the wall.

Allein zu Hause, habe ich tagelang Platten von Cecil Taylor gehört. Es ist eine Musik, die sich nicht abnutzt. Während das allzu leicht Zugängliche oft schnell wieder verworfen wird, kann man in Taylors Spiel allmählich weitere, tiefere Schichten entdecken. Die Klänge vermögen zu allen Tages- und Nachtzeiten zu leuchten. Es ist eine Musik, die das Leben begleiten kann.

Cecil Taylor, der durchgehalten hat, der Oberlebende, ist sich einer Antriebskraft bewusst, die aus fernen Kulturen stammt. Zugleich war er immer bestrebt, seismographisch aufzunehmen, was um ihn herum am Klingen ist. Verschmelzungen von Anfang an, Überlagerungen. Die afroamerikanischen und die indianischen Roots, klassischer Klavierunterricht, die europäische Konzertmusik. Duke Ellington, von seinen Eltern geliebt, von Cecil Taylor erst allmählich in dessen voller Bedeutung begriffen. Das Studium am Konservatorium, aber auch der Weg ins schwarze Ghetto von Boston, wo Taylor mehr über Musik lernt als in allen Kompositionsklassen und Klavierstunden. Nachdem er Horace Silver für sich entdeckt hat, vermag ihn die Spielweise Dave Brubecks nicht mehr anzurühren. Schon in den frühen Jahren geht es Taylor um eine Musik mit heißem Impuls. Überdies ist er bestrebt, diese Musik zu anderen Kulturen hin zu öffnen. Was so entsteht, assimiliert die vom Kabuki-Theater und von balinesischen Orchestern inspirierten Klangvorstellungen ebenso wie Europäisches und spannt sich virtuell bis zur Kultur der Yoruba und der der Azteken. Cecil Taylor ist besonnen genug, von vordergründigen Anspielungen, folkloristischen Einfärbungen und krampfhaften Syntheseversuchen die Finger zu lassen. Da er nur das spielt, was er erlebt und erfahren hat, wird seine Biographie zur imaginären Partitur. Es war die Begegnung mit der Musik Bela Bartóks, die Cecil Taylor lehrte, wie man mit volksmusikalischem Material umgehen kann; und es war vor allem Duke Ellington, der ihm den Weg wies, europäische Einflüsse in eine essentiell afroamerikanisch geprägte Musik zu integrieren.1) Taylor vermag von konkreten musikalischen Erscheinungen zu abstrahieren; worauf er bei alledem niemals verzichtet, ist der tiefer liegende lebendige Puls einer in Körperlichkeit und Bewegung fundierten Energie, der er zugleich eine magische, spirituelle Bedeutung beimisst. Jeder Versuch, die Musik Taylors auf rein struktureller Ebene mit der der europäischen Moderne zu vergleichen, geht an ihrer Intention und ihrer Eigenart vorbei.

Kein Wunder, dass Cecil Taylor nicht darauf aus ist, als Komponist anerkannt zu werden. Der intellektuellen Abbildung, Abstraktion und Fixierung von Musik in Form von Zeichen setzt er die Rückbesinnung aufs Hören und die unmittelbar sinnliche Übertragung der Ideen im kollektiven Spiel- und Arbeitsprozess entgegen. Sich dessen bewusst, dass physische Energie in ungezügelter Gestalt nur zu unbefriedigenden, amorphen Resultaten führt, geht es Taylor um eine Kultivierung der Instinkte, um ein Zusammenspiel von Intellekt, Muskeln und Sensorium. Das teils bewusste wie auch das überwiegend unbewusste und unterbewusste Steuern von Spontaneität führt zu musikalischen Abläufen, die sich nicht mehr in das dualistische Denkmuster Komposition/ Improvisation einordnen lassen. Sinnlichkeit und Konstruktion stehen sich bei Taylor nicht getrennt gegenüber. Im Prozess entwickeln sich musikalische Strukturen, die man nicht als verdinglichtes Resultat vom spontanen Verlauf ablösen kann. Sich selbst spielen heißt für Cecil Taylor auch, aus sich selbst heraus spielen; und wenn er von Trance spricht, meint er sicher auch das Aufgeben jeglicher Berechnung, das Einswerden mit dem Spielprozess.

Vor dem Hintergrund seiner kulturellen Traditionen werden die Erneuerungen Cecil Taylors als Kontinuität erkennbar. In einer langzeitig angelegten Entwicklung hat Taylor eine Musik mit unverwechselbaren Konturen und unverkennbarer Individualität hervorgebracht. 2) Taylors Kompromisslosigkeit ist der von Thelonious Monk verwandt und folgt instinktiv dem einst von diesem formulierten musikalisch-moralischen Imperativ: "Ich sage: Spiel auf deine Weise. Spiel nicht, was die Leute wollen, sondern das, was du willst, und las dann die Leute draufkommen, was du machst - auch wenn es fünfzehn, zwanzig Jahre dauert." 3)

Was zuweilen als zunehmende Atonalität von Taylors Spiel beschrieben wurde, ist mitnichten als Nachvollzug von Kompositionstechniken der europäischen Neuen Musik, sondern als Rückbesinnung auf außereuropäische Musikkulturen zu begreifen, als ein Umformen und Weiterführen klangrhythmischer Bewegungsenergien. So durchbricht Cecil Taylor die Grenzen eines formal definierten musikalischen Idioms, auch die des Bebop. Was in der europäischen Musik unter melodischen/harmonischen/rhythmischen Aspekten systematisiert und oft auch voneinander geteilt wurde, fließt bei Taylor ineinander. Die physische Unmittelbarkeit des Klanges als Gegenentwurf zur Aufgliederung durch Akkordschemata und fortlaufende Taktrhythmik. Da Cecil Taylor in seinen Gruppen auch bei Erweiterungen durch Instrumente wie Violine und Bassklarinette das Schlagzeug und, zumindest überwiegend, den Kontrabass beibehielt, ergaben sich im Prozess unkonventioneller Vitalisierung der Improvisation zwangsläufig neue Anforderungen an das Zusammenspiel. Die Transformation des Jazzrhythmus in wellenartige, nicht mehr gleichförmig periodizierbare, aber vergleichsweise durchaus spannungsreiche Verlaufsformen, wie sie Cecil Taylor mit Sunny Murray und dann mit Andrew Cyrille erarbeitete, beeinflusste auch das Spiel der Bläser und den Modus der musikalischen Interaktion. "Als ich mit Taylor spielte" gab Archie Shepp zu Protokoll, "befreite ich mich von der Fixierung auf Akkorde. (...) Zunächst sah es aber gar nicht nach einer Befreiung aus …. es war wirklich erschreckend. Die ganze Grundlage meiner musikalischen Kenntnisse war in Frage gestellt. Aber dann kam die Rhythmusgruppe in mein Bewusstsein. Über sie hatte ich vorher so gut wie noch nie nachgedacht, immer der gleiche Schlag und so. Bei Cecil gibt es ja keinen durchgehaltenen Beat, deshalb muss man sehr genau aufpassen, was rhythmisch geschieht. Cecil spielt das Klavier wie ein Schlagzeug, er holt Rhythmen heraus wie aus einem Schlagzeug, Rhythmen und Melodien. Diese neue Musik ist gleichzeitig ein rhythmischer und melodischer Versuch, Musik zu machen." 4)

Fast fünfundzwanzig Jahre nach der Äußerung Archie Shepps erscheint diese Musik nicht mehr wie ein Versuch, sondern als ein Lebenswerk, als work in progress. Dass die Anerkennung nur zögernd verlief, hängt nicht nur mit der Schwerfälligkeit eingefahrener Hörgewohnheiten zusammen. Taylors Musik wurde unter den Vorzeichen der europäischen Musiktradition missverstanden und hat auf der anderen Seite ein idiomatisch eng definiertes Selbstverständnis von Jazzmusikern in Zweifel gestürzt. Shepp lässt diesen Aspekt anklingen und nennt Taylors Musik wegen ihrer Rückbesinnung auf Afrikanisches einen Atavismus. Heute wissen wir, dass sich in der Musik Taylors der Atavismus mit einer Projektion in die Zukunft verbindet.

Das Klavier umgedeutet als Perkussionsinstrument, als achtundachtzig gestimmte Trommeln und - ganz in der Tradition Ellingtons - das Klavier als Orchester. Bezeichnend auch folgendes: Cecil Taylor bewundert an Thelonious Monk gerade das, was konservative Kritiker als dessen Schwachstelle benannten, mithin im musikalischen Zusammenhang missverstanden hatten: dessen Technik. Taylor folgt ganz einfach anderen Kriterien, bewertet Technik nicht auf der Grundlage eines abstrakten Maßstabes für handwerkliche Virtuosität, sondern in Relation zur Skala des künstlerischen Ausdrucks, der durch eben diese Technik ermöglicht wird. Seiner individuellen musikalischen Richtung folgend, hat Cecil Taylor dem Klavier eine neue Vieldimensionalität erschlossen, die ohne die von ihm selbst entwickelte Technik eine unrealisierbare Idee geblieben wäre. Die musikalische Komplexität entspringt und entspricht psychophysischer Lebenstätigkeit und lässt auch im Solospiel eine imaginäre Verflechtung von verschiedenen Stimmen, Wachstumsprozessen und Bewegungsabläufen erkennen.

Cecil Taylor hat wiederholt auf Analogien zwischen seinem Spiel und den Bewegungen von Tänzern hingewiesen. In frühen Jahren spielte er zu Tanzvergnügen und begleitete Ballettgruppen in den Übungsstunden am Klavier. Der Steptänzer Baby Laurence zählt zu den Idolen seiner Jugend. Dass sich in Taylors Vorstellungs- und Erlebniswelt klassisches Ballett und Disco keineswegs ausschließen, ist bereits angeklungen. Am Tag, bevor ich Cecil Taylor in Berlin traf, hatte er sich die Merce Cunningham Dance Company angesehen - eine Aufführung, die ihn, wie er mir sagte, verzauberte und im eigenen Wollen bestärkte. Immer wieder hat Taylor mit Tänzerinnen und Tänzern, auch mit herausragenden Choreographen zusammengearbeitet. Die Faszination für das Medium Tanz verbindet sich bei Taylor mit dem Bestreben, die dem Musizieren innewohnende, in der gegenwärtigen europäischen Musizierpraxis weitgehend unterdrückte Tendenz zur Bewegung aufzudecken und neu zu beleben. Ja, dies könnte gar ein Schlüsselwort seines Spiels sein - Bewegung, zusammen mit Energie, Magie, Spiritualität, Trance, Intensität. Die Stimmigkeit von Musik und Bewegung, die Cecil Taylor selbst bei Thelonious Monks merkwürdigen kleinen Kreisläufen ums Klavier feststellte, lässt sich auf andere Weise auch im Prozess seines eigenen Spiels, zunehmend als umfassende Gestaltung seiner Auftritte beobachten. Die gelegentliche Ergänzung pianistischer Techniken durch den Einsatz von Handflächen, Fäusten, Unterarmen zielt auf klangliche Erweiterung, ist aber zugleich auch Ausdruck von Taylors physisch empfundener Musikalität. So verknüpft sich eins mit dem anderen, schließlich auch das Spiel und der Tanz, indem Cecil Taylor seine Konzerte gelegentlich vor der Klangproduktion am Flügel mit tänzerischen Bewegungen und dem Vortrag eigener Lautpoeme einleitet. Was Außenstehenden exotisch erscheinen mag, ist nichts anderes als die Belebung eines kultischen Aspektes, der dem Musizieren seit alters her in unterschiedlichen Gemeinschaftsformen innewohnte. Wer den magischen Intentionen nicht folgen mag, sich aber dennoch auf Taylors Musik einlässt, wird in ihren Strukturen wie auch in der Art seines Spiels eine weitere Qualität aufleuchten sehen: Klarheit. Für Taylor bedeuten Magie und Klarheit keine Gegensätze. Cecil Taylor greift auf ursprüngliche Mitteilungsformen zurück: auf die Sprache des Körpers und den Ausdruck der Stimme. Anfang der fünfziger Jahre, gestand Taylor, hat er sich gelegentlich auch als Sänger betätigt. Der Sound seines Klavierspiels erinnert bisweilen an Stimmen oder Chöre. Der Bassist Buell Neidlinger, der in den fünfziger Jahren in Taylors Gruppen mitwirkte, hat beschrieben, wie Taylor im Prozess des Übens erst sang und dann versuchte, einen dementsprechenden Klang aus dem Klavier herauszuholen. Neidlinger bekam schon damals den Eindruck, dass man das Klavier Taylors beinahe schreien oder weinen hören konnte. Wenn Cecil Taylor Projekte mit Chören in Augenschein nimmt, so ist das eine sinnfällige Konsequenz seiner Übungs- und Spielprozesse mit Instrumentalgruppen, in die er gelegentlich auch Stimmen wie die von Brenda Bakr einbezog. "Eine Sache, die ich von Ellington gelernt habe," sagte Taylor, "ist die Möglichkeit, die Gruppe, mit der man spielt, singen zu lassen, indem man sich klar macht, dass jedes Instrument eine besondere Persönlichkeit verkörpert." 5) Cecil Taylor, der als Pianist wie auch im Zusammenspiel mit Gruppen um vokalen Ausdruck bemüht ist, geht so weit, gelegentlich selbst zu singen. Der Vortrag seiner Poesie liegt zwischen Sprechen und Gesang, zwischen Rezitation und improvisierter Sound Poetry. Andererseits begreift Cecil Taylor Poesie als eine Form von gedruckter Musik. Nicht also die Noten, sondern die den Assoziationen Raum schaffenden Wort- und Lautaufzeichnungen. Doch Taylors Gedichte, so interessant sie zu lesen sind, erfüllen sich mit Leben erst im Prozess seines Vortrags. Taylor, der kein Komponist sein will, bedarf auch der Anerkennung als Literat nicht, wohl aber der als Meister poetischen Ausdrucks. Seine Poesie bekommt geheimnisvolle Kraft in der mündlichen Übermittlung, im Prozess unmittelbaren Gestaltens. Eine der verwunderlichsten Platten mit Cecil Taylor ist das 1987 aufgenommene Album Chinampas, auf dem Taylor nicht als Pianist, sondern als Rezitator eigener Poesie sowie mit sparsam eingesetzten Perkussionsinstrumenten zu hören ist. Sich überlagernde Stimmen - so sanft, so voller körperlicher Dynamik, so nachdrücklich, so liebe- und angstvoll. Cecil Taylor, der die Poesie musikalisiert und der Musik poetische Expression einhaucht. Über sich selbst sagt er: "…mehr als alles andere habe ich immer versucht, ein Poet zu sein." 6)

Tagelang habe ich Musik von Cecil Taylor gehört, ihre Energie gespürt, ihre Leichtigkeit. Es ist eine Leichtigkeit, die auf lebenslanger Anstrengung beruht. Ich habe die verborgene Präzision dieser Musik ebenso mitbekommen wie ihre Überfülle, Taylors Verletzlichkeit und Empfindlichkeit ebenso wie seine Widerstandskraft, seine Demut ebenso wie seine Generosität. Und ich habe auch die Pausen wahrgenommen, die die Musik atmen, die Musiker und Zuhörer im wellengleichen Wechsel von Spannung und Anspannung Luft holen lassen. Ich habe gemerkt, dass und wie man mit der Musik Cecil Taylors leben kann. Und ich habe etwas bemerkt, das zu beschreiben eines der abstraktesten Worte genügen soll. Ich habe die reine Schönheit dieser Musik gespürt.

In einem Gespräch mit Meinrad Buholzer sagte Cecil Taylor: "Das Leben und wie man es verbringt, das ist das wichtigste. Die Gefahr besteht darin, ein materielles Objekt zu werden. Zeit kann man nicht besitzen, man kann nur in ihr existieren." 7) Von hier aus sei der Sprung in eine nur scheinbar andere Thematik gewagt. Der Sprachphilosoph Benjamin Lee Whorf, der sich eingehend mit Indianersprachen beschäftigte, ist durch vergleichende linguistische Analysen zwischen den SAE-Sprachen (Standard Average European) und der Sprache der Hopi auf Unterschiede in den Denkwelten und in den Denkgewohnheiten beider Kulturen gestoßen. Während die SAE-Sprachen "die reale Welt vornehmlich in Begriffen einer Verbindung von so genannten ,Dingen' (...) einerseits, mit so genannten ,Substanzen' andererseits" zu erfassen suchen, tun das Hopi "vornehmlich in Termini von Ereignissen (oder besser des ,Ereignens')". Whorf führt diese Überlegungen weiter: "Erfahrungen, die tiefer liegen als die Sprache, sagen uns, Energieaufwand bringe Wirkungen hervor. Wir neigen zu der Annahme, diese Energie bleibe in unserem Körper, ohne andere Dinge zu affizieren, solange wir nicht willentlich unseren Körper in äußere Aktion setzen. Diese Annahme beruht aber vielleicht nur auf unserer eigenen sprachlich fundierten Theorie, nach der formlose Etwasse wie ‚Materie', Dinge in sich selbst sind, die nur durch ähnliche Dinge, durch weitere Materie geformt werden können, die also von den Kräften des Lebens und des Denkens isoliert sind. Die Ansicht, das Denken berühre alles und durchziehe das Universum, ist nicht unnatürlicher als die Ansicht, die Strahlen eines im Freien entzündeten Lichtes täten das." 8)

Ich sitze zu Hause, lese die gesamte mir zugängliche Taylor-Literatur und höre, während Cecil Taylor in West-Berlin Konzerte gibt, seine Musik von Schallplatten. Fast am Ende der mehrwöchigen Konzert- und Arbeitsphase mit Cecil Taylor bekomme ich, schon kaum mehr für möglich gehalten, doch noch das Visum für West-Berlin. Stunden vor dem Konzert - wahrscheinlich zur gleichen Zeit, zu der sich Taylor übend einstimmt, vorbereitet - laufe ich durch den Tiergarten. On the other side of the Wall - erstmals. In einer weitflächigen Parklandschaft außer mir kein Mensch weit und breit. Allein mit meinen Gedanken, die vorwärts, rückwärts und rundum kreisen. Kaum weiter als einen Steinwurf von der Mauer entfernt. Auf andere Art ein Anfall von Sprachlosigkeit. - Das Konzert dann wird - wie jenes vor vier Wochen - ebenfalls eine wichtige Erfahrung. Ein anderes Ambiente, eine andere Akustik, andere Stimmungen. Obwohl ich die Konzerte und Workshops, die zwischen Anfang und Ende des Projektes lagen, nicht hören, nicht besuchen konnte, spüre ich so etwas wie einen Bogen. Ohne dass die Intensität nachlassen würde, scheint sich in der Musik eine Phase zu schließen, eine Anspannung zu lösen. Im Garderoben- und Bürobereich der Kongresshalle die Gemeinschaft der Taylor-Treuen. Dagmar steckt mir die Einladung zum Abschlussfest im "Abraxas" zu. Taylor, der sich freut, dass ich gekommen bin, erzählt mir keine Geschichte. Dass ich gekommen bin, noch während er in West-Berlin ist, das ist die Geschichte.

Gut, dass ich Cecil Taylor vor vier Wochen in Ruhe sprechen konnte. Die Stimmung nun gleicht eher der eines Vollendens und Abschiednehmens. Vier Wochen, in denen wir mit Taylors Musik gelebt haben. Auf unterschiedliche Weise. Ganz am Anfang hatte ich Taylor einiges darüber mitgeteilt, wie ich seine Musik empfinde. Da ich ihm keine Intentionen von mir aus zuschreiben wollte, war ich auch bemüht herauszubekommen, ob das, was ich über diese denke, für ihn von Belang sei. Meine Überlegungen aufnehmend, weiterführend, folgerte Taylor: "Vor allem aber spiele ich aus einem Gefühl der Freude heraus; das Leben zelebrieren, ja, das ist es."

Ganz am Ende des Cecil-Taylor-Projektes der Free Music Production sind sie alle noch einmal dort, wo sie in den vergangenen Wochen nachts mitunter Zuflucht gesucht haben, im "Abraxas". Verglichen mit der Diskothek im Hotel "Stadt Berlin" ist das "Abraxas" eine erdige Angelegenheit, ein Ort mit heißerer Atmosphäre und schwärzerer Musik. Es ist Ulrike, die Cecil an Körpergröße so weit überragende weiße Frau in schwarzen Kleidern, Ulrike mit kurzgeschorenen Haaren und jenem Gesicht, in dem ich die Selbstbehauptung wie auch die Melancholie einer Überlebenden, Nachgeborenen, Liebenden zu lesen vermeine, sie also ist es, die sich Cecil Taylors schützend annimmt. Ein nur bei oberflächlicher Betrachtung ungleiches Paar auf der Tanzfläche. Eine Impulsfolge sich entsprechender Bewegungen. Fly! Fly! Fly! Fly! Fly! Es ist alles gesagt. Mit der Sprache der Worte, der Klänge, des Körpers. In wenigen Tagen wird Cecil Taylor zurück in New York sein.

Als ich aus der Nachtstimmung des "Abraxas" ins Freie trete, ist alles taghell und schon beschienen vom Sonnenlicht. Ich sollte die Grenze bereits Mitternacht wieder Richtung Osten überquert haben. In den Fahrgeräuschen der S-Bahn glaube ich, Klänge der Musik von Cecil Taylor herauszuhören. Es ist knapp vier Wochen nach Sommeranfang. Die unerbittlich laufende Zeit scheint für eine Nacht und einen Tag aus dem Gleichmaß geraten.

Anmerkungen

  1. Vgl. A.B.Spellman: Four Lives in the bebop business. New York 1985, S. 1ff
  2. Vgl. u.a. die folgenden Untersuchungen zu Leben und Werk Cecil Taylors:
    Ekkehard Jost: Free Jazz. Mainz 1975, S. 76ff.;
    John Litweiler: Das Prinzip Freiheit. Schaftlach 1988, S.178ff.;
    Valerie Vilmer: As serious as your Life. London, S. 45ff.
  3. Zitiert nach: Nat Hentof: Jazz is. New York 1984, S. 146.
  4. Zitiert nach: Leroi Jones: Schwarze Musik. Frankfurt/Main 1970, S. 149
  5. Zitiert nach: A.B.Spellman, a.a.O., S. 74
  6. Zitiert nach: Spencer Richards: Cecil Taylor: "Rhythm is the core". In: Jazzthetik. Münster, Nr. 9/1988, S. 25.
  7. Zitiert nach: Meinrad Buholzer: Cecil Taylor: Interview. In: Cadence. Redwood, New York, No. 12/1984, S. 9.
  8. Benjamin Lee Whorf: Sprache - Denken - Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 88 und S. 90f.

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