For Example/Workshop Freie Musik - 1969-1978

Ekkehard Jost (1978)

Europäische Jazz-Avantgarde - Emanzipation wohin?

Kennt noch irgendjemand Barbü, den kleinen schwarzbärtigen Schweizer Altsaxophonisten? Barbü, mit bürgerlichem Namen Werner Lüdi, kam Ende der 50er Jahre nach Hamburg, brachte dort mit seiner Improvisationsweise verschiedene Hardbop spielende Amateurgruppen durcheinander, ging um 1963 für kurze Zeit mit der Gruppe von Gunter Hampel auf Tour und zog sich dann von der Jazzszene zurück. Heute arbeitet er angeblich in Zürich als Werbetexter. Von den wenigen Leuten, die sich heute noch an Barbü erinnern, ist sich keiner ganz sicher, ob dieser sich damals bewusst und absichtsvoll über die starren harmonisch-metrischen Gerüste des Hardbop hinwegsetzte oder ob er einfach nicht in der Lage war, "Changes" zu spielen. Woran man sich erinnert, ist seine ungeheuer expressive, losgehende Improvisationsweise, die Schlagzeuger zu Hochleistungen anregte und Cool- und Westcoast-Anhänger aus ihrem emotionalen Gleichgewicht brachte.

Was soll hier - in diesem Versuch einer Geschichte des europäischen Free Jazz - die Geschichte mit Barbü? Jazzgeschichtsschreibung ist - wie jede Art von Geschichtsschreibung - auf Dokumente angewiesen. Was sich nicht belegen lässt durch schriftliche Quellen oder Tonaufzeichnungen, wird entweder vergessen oder in das Gebiet der Legende verwiesen. Erinnerungen von Zeitgenossen können vage sein, verklärt durch Nostalgie und verfälscht durch Gedächtnislücken: Hat Buddy Bolden wirklich so laut gespielt? Und wie war das genau, als man bei Minton's den Bebop "erfand"? Ist Barbü vielleicht ein missverstandener Wegbereiter des Free Jazz in Europa? Oder gab es in Wanne-Eickel, Itzehoe oder sonst wo jemanden, der noch früher damit angefangen hat? Stimmt es, dass die Leute von der Wiener "Reform Art Unit" - wie sie behaupten - schon seit 1957 eine Musik machen, die keine Beziehung zu konventionellen Gestaltungsprinzipien hatte (vgl. Covertext zu R.A.U. 1005) - und wenn ja, was für eine Relevanz hat das für die Entwicklung des europäischen Avantgarde-Jazz insgesamt?

Unser Verständnis von Geschichte schließt im Allgemeinen ein, dass das, was unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht, nicht als Geschichte zur Kenntnis genommen wird. Öffentlichkeit aber wird im Jazz fast von Anbeginn an durch die Medien repräsentiert: Berichte in Zeitschriften, Rundfunksendungen und - als wesentlichste Quelle - Schallplattenaufnahmen. Wer oder was in diesem Rahmen nicht dokumentiert ist, fällt aus der historischen Reflexion quasi automatisch heraus. Dies mag bedauerlich erscheinen, ist aber ein Faktum, um das man nicht herumkommt. Akzeptiert man, dass Aussagen über eine lange verklungene Musik - zumal über eine im Notentext nicht fixierte und z.T. auch nicht fixierbare - unweigerlich durch das Gedächtnis gefiltert und durch nachträglich unkontrollierbare, zeit bedingte persönliche Präferenzen gefärbt werden, ergibt sich als Konsequenz die Notwendigkeit, die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überbrücken, indem man zum Gegenstand der Analyse die vergegenständlichten Zeugnisse der Vergangenheit heranzieht. Da dies in unserem Fall vor allem Tonaufzeichnungen sind, habe ich mir die Mühe gegönnt, in den letzten paar Wochen rund 90 Schallplatten plus zwei Dutzend Rundfunkmitschnitte von Konzerten, Workshops, Festivals usw. durchzuhören. Ich glaube zwar nicht, dass mein Bild vom europäischen Free Jazz damit komplett ist, aber es hat sich zumindest insofern konkretisiert, als verblassende Erinnerungen durch aktuelle Erfahrungen überlagert wurden.

Dennoch gibt es Einschränkungen, derer man sich bewusst sein muss:

- Das Vorhandensein von musikalischen Dokumenten (Schallplatten, Rundfunkmitschnitten) unterliegt einem Selektionsmechanismus, der besonders für die Behandlung der frühesten Phase des europäischen Free Jazz entscheidende Konsequenzen besitzt. Schallplattenfirmen sind in der Regel am Profit orientiert und bringen nur das heraus, was einen möglichst raschen Gewinn abzuwerfen verspricht. Da an die kommerzielle Verwertbarkeit des europäischen Free Jazz innerhalb der Schallplattenbranche von vornherein kaum jemand glauben mochte, blieb die Dokumentation dieser Musik spärlich. Ein vollständigeres Bild dessen, was geschah, ist demzufolge erst von dem Zeitpunkt ab zu erhalten, als Musikerkooperativen wie FMP, INCUS und ICP die Produktion ihrer Musik selbst in die Hand nahmen bzw. einzelne Musiker verstärkt zu Eigenproduktionen übergingen.

- Derartigen objektiv, quasi von außen gegebenen Einschränkungen stehen subjektive gegenüber. Ich habe die Entwicklung des Free Jazz vor allem hier in der Bundesrepublik und in West Berlin aus eigener Anschauung (bzw. eigenem Anhören) miterlebt, war bei den Free Music Workshops in Berlin dabei, nicht aber bei den Sessions im Londoner "Little Theatre Club" und auch nicht bei jenen des "Free Jazz Workshop de Lyon" oder der "Lille Jazz Action". Und ich kenne im Großen und Ganzen die Eigenproduktionen der Musiker hierzulande, weniger aber jene aus Skandinavien oder Großbritannien. Die Perspektive, aus der ich die Entwicklung des europäischen Free Jazz sehe, ist also gewissermaßen ethnozentristisch und Schwerpunktsetzungen sind bedingt durch meine geographische Situation.

Eine andere Einschränkung ist ebenso subjektiver Natur, aber nicht individuell, sondern zu verallgemeinern. Die Tatsache, dass man es bei Schallplatten mit Objektivationen von Musik zu tun hat, kann nicht bedeuten, dass man eine objektive (Struktur)-Geschichte zu schreiben in der Lage ist. Wer meint, er beschreibe nur, was objektiv vorhanden ist und enthalte sich jeder Meinungsäußerung, tappt unweigerlich in die Falle eines naiven Positivismus, denn schon die Auswahl dessen. was er beschreibt, basiert auf seiner Meinung darüber, was wert ist, beschrieben zu werden und was nicht - also auf Wertungen. Ich will daher nicht verhehlen, dass mein Versuch, die Gestaltungsprinzipien des Free Jazz in Europa zu analysieren, eingebettet ist in meine subjektiven Erfahrungen, dass ich Meinungen habe und dass sich diese Meinungen unter anderem auch darin niederschlagen, was ich für historisch eher bedeutsam halte und was weniger. All dies ist eigentlich selbstverständlich, soll aber angesichts der in der Jazzliteratur herrschenden dogmatischen Ästhetik noch einmal ins Bewusstsein gerufen werden.

Die Geschichte des Jazz in Europa bis in die Mitte der 60er Jahre hinein ist gekennzeichnet durch die kollektive Anstrengung, die in den USA stattfindenden kreativen Prozesse nachzuvollziehen. Die sich wandelnde Ästhetik der afro-amerikanischen Musik, die Entwicklung neuer Gestaltungsprinzipien und die allmähliche Erweiterung des musikalischen Materials wurden dabei mit mehr oder minder großen Phasenverschiebungen durch europäische Musiker absorbiert, wobei die Nähe zum jeweils imitierten amerikanischen Vorbild zugleich als Wertmaßstab für musikalische Qualität herzuhalten hatte. Schuld an dieser Jahrzehnte alten Tradition von Epigonentum und Plagiat mag nicht allein das mangelnde Selbstvertrauen europäischer Musiker in ihre eigene kreative Kapazität gewesen sein, sondern ebenso die Erwartungshaltungen von Publikum und Jazzkritik, denen der Prophet im eigenen Lande nur dann etwas galt, wenn er die Botschaft der amerikanischen Götter interpretierte. Wie eingewurzelt das Messen an den amerikanischen Standards der Jazzkritik noch bis spät in die Sechzigerjahre hinein war, illustriert ein Covertext, in dem J. E. Berendt 1969 vermerkt: "Es ist meine Meinung, dass Europa in Tchicai einen in Europa geborenen schwarzen Musiker besitzt, dessen Standard mit dem der großen amerikanischen Innovatoren vergleichbar ist ..." Glückliches Europa!

Ein allmählich einsetzender Wandel im Verhältnis europäischer Musiker zu ihren amerikanischen Leitbildern begann sich Mitte der 60er Jahre abzuzeichnen. Die Ursachen dafür dürften einerseits in der Entwicklung des amerikanischen Jazz selbst zu suchen sein, andererseits jedoch in einem sich wandelnden Selbstverständnis europäischer Musiker.

Der sich in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren in den USA herausbildende Free Jazz brachte für Musiker und Hörer gleichermaßen den radikalsten Bruch in der Geschichte des Jazz mit sich. (Der Vergleich mit der sog. Bebop-Revolution wird zwar oft angestellt, gewinnt aber dadurch nicht an Oberzeugungskraft). Das offensichtlichste Merkmal des Free Jazz, wie ihn Ornette Coleman und Cecil Taylor in ihren Gruppen um 1960 praktizierten, lag in der Negation einiger fundamentaler Gesetzmäßigkeiten der Jazz-lmprovisation; Gesetzmäßigkeiten, die seit den Anfängen des Jazz unbefragt akzeptiert worden waren und die nun ihren Charakter des Normativen einbüßten: Dies betraf vor allem den Fundamentalrhythmus (beat), die Prinzipien von Tonalität und Funktionsharmonik und das Vorherrschen melodischer Kontinuität. Während der Free Jazz dabei einerseits die grundlegenden emotionalen Qualitäten der traditionellen afro-amerikanischen Musik nicht nur beibehielt, sondern noch forcierte (besonders ihre rhythmische Intensität), näherte er sich andererseits in seinen formalen Aspekten und in seiner tonalen Struktur zunehmend Gestaltungsprinzipien, wie sie in der abendländischen Avantgardemusik (der sog. E-Avantgarde) der letzten 50 Jahre entwickelt worden waren, wobei allerdings "nähern" nicht mit "angleichen" verwechselt werden darf.

Eine Reihe von Jazzmusikern in Europa, die in den frühen 60er Jahren noch überwiegend "Modern Jazz" in seinen verschiedenen Varianten gespielt hatten, begannen um 1965, also mit rund fünfjähriger Phasenverschiebung, die von amerikanischen Free Jazz-Musikern eingeleitete Entwicklung aufzugreifen. Wie ihre amerikanischen Vorläufer brachen sie mit der Routine harmonisch-metrischer Bezugsrahmen, lösten den beat in unregelmäßige Ketten von Akzentuierungen auf und konzentrierten sich auf die klangfarblichen Aspekte ihrer Musik anstelle einer überwiegend melodisch-linear orientierten Improvisation. Gleichzeitig aber begannen sie, sich dem direkten Einfluss durch amerikanische Musiker zu entziehen, indem sie die Schaffung eigener Ausdrucksmittel und Gestaltungsprinzipien zum Kristallisationspunkt ihrer musikalischen Aktivitäten machten, so dass man zu Ende der 60er Jahre von einem spezifisch europäischen Typus von Free Jazz zu sprechen begann.

Was waren die Ursachen für diese unerwartete Emanzipation? Zumindest zwei Faktoren wären zu nennen, ein Innenmusikalischer und ein ideologischer oder - wenn man so will - politischer. Die musikalischen Ursachen waren in der Tatsache begründet, dass sich mit der Entstehung des Free Jazz europäische Musiker zum ersten Mal in der Geschichte des Jazz nicht mehr mit einem definitiven Stil konfrontiert sahen bzw. mit einem relativ eng begrenzten System von ästhetischen Normen, sondern mit einer Mannigfaltigkeit von individuellen und Gruppenstilen, die kaum miteinander vergleichbar waren: Die Differenzen zwischen den Gestaltungsprinzipien von Musikern wie Taylor, Coleman und Coltrane waren allemal größer als ihre Gemeinsamkeiten - eine Beobachtung, die man auf die Musik von Gillespie, Parker oder Powell mit Sicherheit nicht übertragen kann. Die Entwicklung einer eigenen Stilistik innerhalb dieses Stilkonglomerates Free Jazz lag damit näher als je zuvor. Die zweite Ursache für die europäische Emanzipationsbestrebung liegt im gesellschaftlichen Bereich verankert und hat mit dem sozialen und politischen Klima innerhalb der jungen Generation der späten 60er Jahre zu tun. Die französische und deutsche Studentenrevolte, mit der zahlreiche jüngere Musiker sympathisierten, war 1968 auf ihren Höhepunkt gelangt, wobei vor allem zwei wesentliche Merkmale dieser Bewegung einen Einfluss auf das Selbstverständnis der jungen Garde des europäischen Free Jazz gehabt haben dürften: erstens eine generelle Abneigung gegen Autorität jeder Art und zweitens ein latenter Anti-Amerikanismus, der durch die grauenhaften Konsequenzen des Vietnamkrieges verstärkt wurde. Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg war damit die Rolle Amerikas als Leitbild auf breiter Basis in Frage gestellt worden. Und da Jazzmusiker nicht außerhalb der Gesellschaft existieren sondern ein Teil von ihr sind, ist es nicht erstaunlich, wenn sich die genannten Tendenzen in ihrem Selbstverständnis und - vermittelt - in ihrer Musik niederschlugen.

Die Ablösung des europäischen Free Jazz vom amerikanischen ist kein Ereignis, das sich an einem Datum festmachen ließe, sondern ein Prozess. Schallplattenproduktionen sind zwar eindeutig datierbare Dokumente eines bestimmten Punktes innerhalb eines solchen Prozesses, aber sie repräsentieren nicht ihn selbst, sondern sind quasi Zwischenergebnisse einer Entwicklung, deren Anfang und Ende dem nicht unmittelbar Beteiligten verborgen bleibt. Je engmaschiger die zeitliche Aufeinanderfolge derartiger Zwischenergebnisse ist, desto eindeutiger ist das Bild, das man sich vom Prozess insgesamt zu machen in der Lage ist. Unglücklicherweise lässt die Engmaschigkeit der auf Schallplatten dokumentierten Zwischenergebnisse, was den europäischen Free Jazz betrifft, in seiner Anfangsphase vieles zu wünschen übrig. Immerhin lassen die vorhandenen Klangdokumente drei wesentliche Stationen innerhalb der frühen Phase des Emanzipationsprozesses erkennbar werden: (1 ) eine erste zaghafte Ablösung von den Spielregeln des Spätbop, wie sie in der LP "Heartplants" des Gunter Hampel-Quintetts vom Januar 1965 deutlich wird, (2) eine zunehmende Europäisierung der Ausdrucksmittel bei gleichzeitiger Bündelung der vorhandenen kreativen Kapazität in der Musik des Globe Unity Orchesters vom Dezember 1966 und (3) eine erste Vervielfältigung individueller und gruppenspezifischer Ansätze in den Einspielungen der Gruppen von Peter Brötzmann, Manfred Schoof, Joachim Kühn und Wolfgang Dauner aus dem Jahre 1967.

Im Gunter Hampel-Quintett von 1965 arbeiten Musiker, deren Erfahrungshorizont seinerzeit im wesentlichen durch die Gestaltungsprinzipien des "Modern Jazz" geprägt ist - neben Hampel selbst sind dies Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Buschi Niebergall und Pierre Courbois. Heartplants, die einzige von der Gruppe in dieser Besetzung eingespielte LP, bietet Free Jazz im Sinne einer harmonisch-metrisch konsequent freien Interaktionsmusik lediglich in Schlippenbachs Iron Perception. In den übrigen Stücken finden die verschiedensten Stilebenen des Modern Jazz ihren Niederschlag, wobei allerdings weniger von einer Synthese zu sprechen ist als von einem Nebeneinander divergierender Gestaltungsmittel, die sowohl die von Coltrane/Davis (in der Milestones-Phase) initiierten modalen Strukturen in regelmäßiger Perlodenbildung einschließen (Heartplants und Our Chant), wie eine frei-tonale Linearität à la George Russell (No Arrows) und sogar Reminiszenzen an die Wohlklang-Ästhetik des Modern Jazz Quartetts (Without Me). Und obwohl all dies von mehr oder minder ausgedehnten Ausbrüchen in den Free Jazz sporadisch durchsetzt bzw. überlagert wird, kann von einer eigenständigen Stilistik kaum die Rede sein. Die Bedeutung von Heartplants ist gewiss nicht darin zu sehen, dass sie - wie ihr Produzent Behrendt in seinem "Fenster aus Jazz" (Frankfurt 1977) vermerkt - einem "größeren Publikum offenbar machte, dass ein neuer europäischer Jazz entstanden war", sondern allenfalls darin, dass sie einen ersten vorsichtigen Schritt in einem sich allmählich vollziehenden Ablösungsprozess markiert, wobei die Ablösung weniger auf den amerikanischen Jazz an sich bezogen ist als auf dessen traditionelle Verfahrensweisen.

Eindeutig radikaler als in Heartplants stellt sich der Bruch mit der Tradition in der knapp zwei Jahre später entstandenen ersten Einspielung des Globe Unity Orchesters dar - und zwar nicht nur, was die Abkehr von den herkömmlichen Organisations- und Klangstrukturen des Jazz betrifft, sondern vor allem auch hinsichtlich der Aufkündigung des Vormundschaftsverhältnisses zwischen amerikanischem und europäischem Jazz. Das Globe Unity Orchester verdankt seine Entstehung einem Kompositionsauftrag des RlAS-Berlin an Alexander von Schlippenbach für die Berliner Jazztage 1966. Schlippenbach gelang es dabei, für eine große Gruppe von Free Jazz-Spielern einen kompositorischen Bezugsrahmen zu schaffen, der eine strukturelle Vielfalt organisierte, ohne auf die alten Bigband-Klischees zurückzufallen und gleichzeitig - bei aller Organisation - der individuellen kreativen Entfaltung der beteiligten Musiker und spontanen Interaktionen zwischen ihnen weiten Raum ließ.

Den personellen Kern des damals 14köpfigen Globe Unity Orchesters bildeten die Mitglieder des Manfred Schoof Quintetts und des Trios von Peter Brötzmann. Hinzu kamen weitere fünf Bläser sowie der Vibraphonist Karl Berger. Schlippenbach schrieb für den Berliner Auftritt des Orchesters und die folgende Plattenproduktion zwei Kompositionen sehr unterschiedlichen Charakters: Globe Unity und Sun. Globe Unity wird vor allem durch ein rhythmisch intensives Powerplay bestimmt, in dem sich Soli und Kollektive abwechseln, wobei die letzteren häufig durch signalhaft eingeworfene Röhrenglockenklänge in Gang gesetzt und durch vorgegebenes Skalenmaterial, Cluster oder tonal unbestimmte Akkorde organisiert werden. Die Grundkonzeption weist gewisse Parallelen zu Coltranes Ascension auf, wenngleich ein direkter Einfluss unwahrscheinlich ist. (Schließlich stellt der Wechsel von Kollektiven und Soli eine nahe liegende Prozedur für die Organisation von orchestralem Free Jazz dar.) Dennoch ist ein Vergleich mit Ascension aufschlussreich, denn er offenbart einige wesentliche Eigenarten des Free Jazz europäischer Prägung bereits in dieser Phase seiner Existenz. Die rhythmische Grundhaltung von Globe Unity ist verglichen mit jener afro-amerikanischer Musiker- hektischer, nervöser, bisweilen gewaltsamer. Die Improvisationen der Bläser zielen weniger auf melodische Kontinuität als auf Klang und Energie, sind a-melodisch in einer Konsequenz, wie sie nicht einmal die "Schreier" in Ascension (z.B. Sanders und Shepp) aufbringen.

Deutlicher noch als in der Komposition/lmprovisation Globe Unity wird die systematische Ausschöpfung des Parameters Klangfarbe in Sun. Sun ist strukturell weniger dicht als Globe Unity, in seiner emotionalen Substanz eher kontemplativ und mehr auf klangfarbliche Nuancen aus als auf Energie. Vordergründig manifestiert sich dies bereits in der Instrumentation, in der die - später vom Art Ensemble of Chicago so genannten - little instruments, d.h. Klangwerkzeuge wie Ratschen, Triangel, Lotusflöten, Flexafon usw., eine dominierende Rolle spielen. Doch auch in der Behandlung der Blasinstrumente zeigt sich ein äußerst differenzierter Umgang mit der Klangfarbe, insbesondere in den Soli der Trompeter Claude Deron und Manfred Schoof, die durch unbestimmte Tonhöhen (halbgedrückte Ventile) und verfremdete Sounds geprägt sind.

Die erste Produktion des Globe Unity Orchesters hat zur Zeit ihrer Entstehung heftiges Befremden und manche Missverständnisse ausgelöst. In der Presse war von "Männerulk in der Philharmonie" und von "Verschmelzung von Jazz und Kunstmusik" die Rede, wobei weder das eine noch das andere Zitat für die Scharfsichtigkeit der zeitgenössischen Jazzkritik spricht. Auf jeden Fall hatte die ablehnende Haltung gegenüber der Globe Unity-Musik ebenso wie ihre Einordnung in das hybride Genre des Third Stream zur Folge, dass das Wirken des Orchesters für lange Zeit sporadisch blieb und es erst ab 1972/73 wieder zu regelmäßigen Auftritten und - damit verbunden - zu einer allmählichen Stabilisierung der musikalischen Sprache des Orchesters kam. Der Stellenwert, den das erste Globe Unity innerhalb der Entstehungsgeschichte des europäischen Free Jazz einnimmt, ist darum nicht geringer einzuschätzen, denn nicht nur zeigte sich, dass hier eine musikalische Substanz im Werden begriffen war, die ohne präfabrizierte Modelle auskam, sondern gleichzeitig wurde deutlich, dass sich ein Potential von europäischen Musikern herausgebildet hatte, die diese Substanz - auch außerhalb des Globe Unity Orchesters - mit Leben zu erfüllen in der Lage war.

Eine Multiplikation der im Globe Unity von 1966 zutage getretenen Energien zeichnete sich bereits 1967 in einer Reihe von Schallplattenproduktionen ab, die zugleich eine gewisse stilistische Differenzierung innerhalb der europäischen Free Szene erkennbar werden lassen. Es handelt sich um Transfiguration von der Gruppe der Brüder Rolf und Joachim Kühn, Free Action von Wolfgang Dauner, eine Einspielung des Manfred Schoof Sextett für Wergo, an der neben Schoof u.a. Schlippenbach, Dudek und Niebergall beteiligt sind, und schließlich For Adolphe Sax (FMP 0080) vom Peter Brötzmann Trio. Den gemeinsamen Nenner zwischen diesen vier Produktionen bildet die nunmehr endgültig vollzogene Abkehr von den Schemata des Modern Jazz. Darüber hinaus sind die Konsequenzen, die die Musiker aus dieser Abkehr ziehen, allerdings sehr unterschiedlicher Natur. Während bei den Kühn-Brüdern die innerhalb der traditionellen Stilbereiche entwickelten Gestaltungsprinzipien lediglich in den Kontext einer freien Interaktionsmusik transponiert werden, ohne dass man dabei so elementare Kategorien wie Swing, lineare Melodieführung und Handwerklichkeit im herkömmlichen Sinne in Frage stellt, repräsentiert Brötzmanns For Adolphe Sax einen radikalen Bruch mit eben diesen Kategorien. Er verzichtet auf tonale Zentren, erkennbare melodische Abläufe und Motivik. Entwicklungsprozesse, die den Eindruck vermitteln, irgendwo hinzuführen, gibt es nur sporadisch. Stattdessen vollzieht sich eine gleichsam atemlose Aufeinanderfolge von kurzen Episoden kontrastierenden emotionalen Charakters, wobei die Phasen des Außersichseins jene der Gelassenheit bei weitem überwiegen. Brötzmanns Musik kann hier - und das nicht abwertend gemeint - durchaus als destruktiv bezeichnet werden, wobei die Destruktion auf lieb und wert gewordenen Hörerfahrungen nicht nur von Jazz, sondern von Musik überhaupt gerichtet ist.

Gegenüber For Adolphe Sax ist Wolfgang Dauners Free Action fast konventionell zu nennen. Anders als die gleichsam monochrome, vor allem auf die Aufrechterhaltung eines hohen emotionalen Pegels hin ausgerichtete Musik Brötzmanns, könnte man Dauners Konzeption als polychrom bezeichnen. Seine Stücke enthalten sorgfältig vorgeplante, auf strukturelle und instrumentatorische Vielfalt hin angelegte Formverläufe, in denen Spontaneität und Emotionalität durch Ratio gesteuert wird und technische Virtuosität im herkömmlichen Sinne einen bedeutenden Stellenwert besitzt.

Eine gewissermaßen vermittelnde Position zwischen Brötzmanns Emotionalismus und Dauners Konstruktivismus nimmt die im Dezember 1967 entstandene Einspielung des Manfred Schoof Sextetts ein. Schoofs und Schlippenbachs Musik stellt in mancher Hinsicht eine Transformation der im Rahmen von Globe Unity gemachten Erfahrungen in die kleine Besetzung dar (Parallelen zwischen Sun und Glockenbär sind offensichtlich) und bildet gleichzeitig die konsequente Weiterführung der im Hampel-Quintett (Heartplants) eingeleiteten Entwicklung. Auch die Musik dieser Gruppe ist polychrom, vielgestaltig in der Wahl der verwendeten Ausdrucksmittel und Organisationsprinzipien. Doch im Gegensatz zum drei Jahre zurückliegenden Heartplants stehen nun die verschiedenen Stilebenen nicht mehr beziehungslos nebeneinander, sondern gehen auf überzeugende Weise eine Synthese ein. "Free Bop"-Linearität (wie in Schlippenbachs Grains), perkussives Klangspiel, energiegeladene Power-Kollektive, modal bezogene Improvisation und Monk-Reminiszenzen sind ineinander verzahnt zu einer eigenständigen Ausdrucksform, die die Vergangenheit bewältigt hat, ohne sie zu negieren.

Die sich in den Schallplattenproduktionen des Jahres 1967 manifestierende Vielfalt der Ansätze erfuhr in den folgenden Jahren zunächst einmal eine gewisse Reduzierung. Die Kühn-Brüder zagen sich aus der Free Jazz-Szene in lukrativere Gefilde zurück (der eine wandte sich dem Rock-Jazz, der andere der Unterhaltungsmusik zu); und Wolfgang Dauners musikalische Abenteuerlust ließ eine Konzentration auf nur einen Bereich des aktuellen musikalischen Spektrums offensichtlich nicht zu.

Den Mainstream des bundesrepublikanischen Free Jazz der Jahre ab 1968 repräsentierten vor allem die Gruppen von Brötzmann und Schlippenbach, wobei einerseits die Tendenz zur Arbeit in größeren Gruppen zu verzeichnen war und andererseits eine zunehmende Internationalisierung der Szene durch die Einbeziehung vor allem von englischen und holländischen Musikern. "Das Jahr 1968 war" - wie Brötzmann in einem Interview mit Didier Pennequin rückblickend konstatierte - "das Jahr der großen Orchester, wo wir uns unter Freunden trafen, um wie die Verrückten zu spielen" (vgl. Jazz Magazine No.220). Die Arbeit dieser "großen Orchester" wird dokumentiert durch eine Reihe von Schallplattenproduktionen unter wechselndem Namen, aber mit zum Teil identischem Personal: Brötzmanns Machine Gun (März 1968, FMP 0090), Schlippenbachs Living Music (April 1969, FMP 0100), Schoofs European Echoes (Juni 1969, FMP 0010) und zwei Ausschnitte von Auftritten der Brötzmann-Gruppe beim Holy Hill - Festival in Heidelberg (Juli 1969) und beim Jazzfestival in Frankfurt (März 1970).

All diesen Aufnahmen ist - bei Unterschieden im Detail - eines gemeinsam: die Intensität, mit der die etablierten ästhetischen Normen zertrümmert wurden. Es war- wie es Peter Kowald in einem Interview mit Dirk Fröse 1972 nannte - die "Kaputtspiel-Zeit". Kowald: "Da ging es hauptsächlich darum, die alten Werte wirklich kaputt zu brechen, das heißt: alles an Harmonie und Melodie wegfallen zu lassen. Und das Resultat war nur deshalb nicht langweilig, weil mit so großer Intensität gespielt wurde." Und weiter: "Die Kaputtspiel-Zeit hat eigentlich erst alles, was musikalisch überhaupt möglich ist, gleichwertig spielbar gemacht .Heute ist zum ersten Mal klar, dass die meisten Amerikaner unserer Generation als musikalischer Einfluss gestohlen bleiben können ..." (vgl. Jazz Podium 12/1972).

Stellt sich die Frage, was diese Kaputtspiel-Zeit, die nicht nur von Kowald als Übergangsphase interpretiert wird, konkret an musikalischen Ergebnissen gebracht hat. Ohne - auf die vorher genannten Einspielungen bezogen - ins Detail gehen zu können, sind einige generalisierende Feststellungen möglich:

(1) Kompositorische Maßnahmen bleiben im Allgemeinen auf ein Minimum beschränkt. D.h. im Großen und Ganzen ist die Musik a-thematisch, wobei es allerdings riffartig eingesetzte, bisweilen nur in ihrer Richtung (aufsteigend - fallend) fixierte Einwürfe und Signale gibt. Daneben besteht die Neigung zu verfremdeten Zitaten wie in Brötzmanns "Lollopalooza", wo die Nationalhymnen der Bundesrepublik und Großbritanniens auf bewusst chaotische Weise einander überlagert werden.

(2) Die eindeutig fixierbare Tonhöhe als stabiles Element musikalischer Organisation wird weitgehend aufgegeben zugunsten von instabilen Klangflächen. Strukturelle Differenzierung vollzieht sich vor allem durch die kollektive Variation der Parameter Klanghöhe, -dichte und -stärke.

(3) Entwicklungsprozesse werden mit einiger Zwangsläufigkeit an die Grenzen des Undurchhörbaren geführt, d.h. in Bereiche, in denen einzelne musikalische Ereignisse nicht mehr identifizierbar sind, sondern ein diffus-intensives Ganzes bilden. Bisweilen trägt dazu in erheblichem Maße die Instrumentation bei, die besonders in den Brötzmann-Gruppen extrem homogen und tieflagig ist. (In Frankfurt trat Brötzmann z.B. mit vier Posaunen und drei Tenorsaxophonen auf.)

(4) Die Einstellung zur Zeit ist im allgemeinen als rastlos zu bezeichnen. Auch dort, wo sich aufgrund abnehmender Klangdichte und -stärke offenere Strukturen etablieren, bleibt das (nicht unbedingt gespielte, sondern gefühlte) Grundtempo hektisch. - Tatsächlich gibt es - wie ich in mühevoller Kleinarbeit mit Stoppuhr und Metronom ermittelt habe - in dieser Phase der Entwicklung so etwas wie ein Standardtempo, das möglicherweise physiologisch bedingt ist: Bei einer Vielzahl von Aufnahmen zeigt sich nämlich, dass eine gemeinsame rhythmisch-metrische Basis existiert, die bei = 240 bis 270 liegt. Dies aber bedeutet, dass ein "Takt" von vier Vierteln in etwa der menschlichen Pulsfrequenz entspricht; und es bedeutet ferner, dass die Art von Free Jazz, von der hier die Rede ist, vielleicht in einem viel stärkeren Maße Körper gebunden ist, als man sich das gemeinhin vorstellt. (Wem diese Hypothese vom Pulsschlag als gemeinsamer rhythmischer Basis nicht behagt, der mag einmal nachmessen.)

(5) Ein Punkt, der nicht unmittelbar die strukturellen Eigenarten der Musik, sondern vielmehr ihre Rezeption berührt, betrifft das Problem der instrumentalen Technik. Wie ich aus Gesprächen mit Freunden und Bekannten weiß, beschäftigt viele - vor allem im Jazz "bewanderte" - Hörer angesichts der Undurchhörbarkeit der musikalischen Strukturen dieser Periode die Frage, ob denn die, die da oben einen so diffusen Geräuschteppich ausbreiten, eigentlich richtig spielen können, ob die denn ihre Instrumente wirklich beherrschen oder einfach nur auf den Putz hauen. Man könnte eine solche Frage relativ einfach mit Kowalds Begriff des "Kaputtspielens" abtun; aber so einfach ist das nicht. Tatsächlich hatten die meisten Musiker, die in den Gruppen von Brötzmann, Schlippenbach und Schoof arbeiteten, individuelle Techniken entwickelt, die es ihnen nicht nur ermöglichten, Konventionen "kaputtzuspielen", sondern gleichzeitig - konstruktiv - im Kaputtspielen neue persönliche Techniken zu entwickeln. Wer meint, Evan Parkers klangfarbliche Nuancen und die von ihm produzierten Schnatter- und Gurgellaute oder Brötzmanns Überblasklänge hätten mit Technik nichts zu tun, während Dudeks und Skidmores gleichsam klassische Virtuosität der allein akzeptierbare Inbegriff von Technik sei, offenbart lediglich seine eigene eingefrorene Konzeption von Technik. Technik in der Musik bedeutet im Gegensatz zum Technologiebegriff der Industrie - zumindest für mich - die manuelle Fähigkeit, das zu tun, was ich tun will. Pointierter formuliert dies Brötzmann: "Ich bin nicht das, was man einen guten Techniker nennt. Für mich bedeutet Technik im Sinne des Konservatoriums Scheiße. Um eine Musik wie unsere zu machen, muss man zunächst einmal seine eigene Technik entwickeln, dann macht man seine eigene Musik. In unserer Musik geht es nicht darum, richtig oder falsch zu spielen, das bedeutet gar nichts. Es geht darum zu wissen, was man spielt." (Übersetzt aus dem Französischen, Jazz Magazine No. 220, S. 21).

Die monochrome oder Kaputtspiel-Phase der großen Gruppen ging während des ersten Quartals der 70er Jahre zu Ende. In den kleinen Besetzungen von Brötzmann und Schlippenbach gewann - bei auseinanderstrebenden Konzeptionen - Durchsichtigkeit das Übergewicht über Diffusität. Das Globe Unity Orchester, wieder zum Leben erwacht, fand zu einer neuen Identität. In England und den Niederlanden setzten sich verstärkt eigenständige - um nicht zu sagen: nationale - Gestaltungsprinzipien durch. Und in der westdeutschen Provinz begannen sich allenthalben musikalische Initiativen zu regen, die nicht nur gegen die amerikanische Hegemonie, sondern gleichzeitig gegen den dominierenden Einfluss der Wuppertal-Berliner Achse aufmüpften.

Eine für die weitere Entwicklung des europäischen Free Jazz zentralen Gruppe bildet das im Sommer 1970 gegründete - und mittlerweile aufgelöste - Trio Brötzmann-Van Hove-Bennink. Es ist eine Gruppe, in der ein Aufeinanderprallen kontrastierender Gestaltungsmittel schon von den unterschiedlichen Temperamenten der drei Musiker her vorprogrammiert ist.

Der holländische Schlagzeuger Han Bennink hatte, bevor er 1967 zur freien Musik stieß, mit einer Reihe von prominenten amerikanischen Musikern der Swing- und Hardbop-Ära gearbeitet. Seine Erfahrungen aus diesem Bereich transformierte er in eine Schlagzeugspielweise, die swing und drive einschließt und doch zugleich auf paradoxe Weise in Frage stellt, indem er sich durch unvorhersehbare Ausbrüche und happeningartige Klang-Eskapaden gleichsam selbst beim Swingen stört. Wesentlichstes Merkmal seiner musikalischen Konzeption ist ein ausgeprägtes Klangbewusstsein, das in dem Riesenarsenal seiner Klangwerkzeuge nur vordergründig seinen Ausdruck findet, denn die reine Quantität seiner Instrumente ist - wie man gelegentlich hören konnte - keine Norm, sondern eine von mehreren Möglichkeiten. Bennink: "Es kann leicht passieren, dass die Zeit kommt, wo ich vielleicht nur mit tausend Streichhölzern spiele" (zit. nach W. Panke, Jazz Podium 4/1972).

Den Gegenpol zu dem extrovertierten Bennink bildet in vieler Hinsicht der belgische Pianist Fred Van Hove, der von sich sagt, dass ihn weniger Cecil Taylor als das Glockenspiel von Antwerpen beeinflusst habe (Jazz Magazine No. 220, S. 24). Emotionale Ausbrüche und Powerplay sind bei Van Hove selten. Stattdessen dominiert eine eher kontemplative Haltung mit starken Tendenzen zur Kauzigkeit, etwa wenn atonale Schreiklänge Brötzmanns plus heftiges Getrommel Benninks von ihm durch heiter besinnliche Dur-Klänge und Arpeggien kontra punktiert werden. Während Van Hove in der Turbulenz der Trio-Aktionen häufig an den Rand gedrängt bzw. überdeckt wurde, gibt seine 1977 für FMP eingespielte Solo-LP (SAJ-11) einen hervorragenden Einblick in seine Konzeption. Im Gegensatz zu vielen anderen Pianisten, die - allein gelassen - erst einmal alle Register technischen Virtuosentums ziehen, will Van Hove offensichtlich nicht brillieren, sondern überraschen, Spannung erzeugen, zum Nachdenken anregen oder auch schlicht foppen. In seiner Klompenouvertüre, die mit dem Klappern von Holzschuhen einsetzt und flämisches Lokalkolorit signalisiert, hat es den Anschein, dass Technik bewusst und absichtsvoll dilettantisch eingesetzt wird. Es klingt, wie wenn jemand etwas sucht und nicht finden kann. Diese Art von Klavierspiel hat nur noch wenig oder gar nichts mehr mit der afro-amerikanischen Musik zu tun - will sie wohl auch nicht. Es gibt keinen rhythmischen Fluss wie etwa in der Spielweise Schlippenbachs, sondern eher ein Stolpern, dessen Fröhlichkeit etwas Verzweifeltes hat.

In dem unvorhersagbaren Wechselspiel von Aktion und Reaktion, das zum dominierenden Gestaltungsprinzip des Trios wird, vollzieht sich in der Saxophonspielweise Peter Brötzmanns ein allmählicher Wandel. Obwohl das Überblasen in tonhöhenunbestimmte Klänge nach wie vor zu seinen Ausdrucksmitteln gehört, werden seine Improvisationen insgesamt weniger geräuschhaft; bisweilen stiftet er motivische Zusammenhänge, paraphrasiert Ben Websters "erotische" Balladen, zitiert Splitter von Polkas und Gassenhauern und dreht sie durch den Wolf seiner Phantasie.

Für die Musik des Trios, zu dem 1971 für einige Zeit Albert Mangelsdorff stieß, werden in den folgenden Jahren einige Merkmale charakteristisch, die zumindest Umrisshaft skizziert werden sollen:

(1) Waren für die Kaputtspiel-Phase noch ausgedehnte homogene Formverläufe mit z.T. stundenlangen Kollektivimprovisationen typisch, so zeichnet sich nun die Tendenz zur Kleinform ab. Viele "Stücke" des Trios sind quasi Miniaturen, in denen jeweils bestimmte emotionale Charakteristika, Instrumentationsformen, Bewegungsabläufe usw. in den Vordergrund treten. Besonders prägnant äußert sich dies in Tschüs (FMP 0230) sowie in den Duo-Einspielungen von Brötzmann und Bennink Ein halber Hund kann nicht pinkeln (FMP 0420) und Schwarzwaldfahrt (FMP 0440).

(2) Im Laufe der Jahre setzt sich ein zunehmender MuIti-lnstrumentalismus durch, der insgesamt die klanglichen Möglichkeiten erweitert und dabei zu immer neuen, häufig sehr unorthodoxen Instrumentenkombinationen führt. Gleichzeitig bildet die Vergrößerung des instrumentalen Aufwandes ein Mittel, die Verfestigung der eigenen Spielgewohnheiten zu vermeiden, Klischees zu überwinden.

(3) Die Theatralisierung des musikalischen Geschehens, zunächst vor allem auf die Aktionen Benninks beschränkt, greift - mit unterschiedlichen Akzenten - auf die ganze Gruppe über. Die Gruppe gerät in Bewegung, wobei die Einbeziehung des Raumes als primär theatralisches Moment auch akustisch wirksam wird. Beispiel: Claptrap von der LP Tschüs, wo in einem Duo für zwei Klarinetten Brötzmann nahe am Mikrophon spielt, während Bennink spielend umherwandert. Auf analoge Weise wird Raum und Entfernung als Gestaltungsmittel in der Freiluftaufnahme Schwarzwaldfahrt bedeutsam, wobei sich nun allerdings die Frage stellt, ob die Schallplatte für die Vermittlung dieser Art von musikalischem Theater noch das angemessene Medium darstelIt.

(4) Im Zusammenhang mit der Theatralisierung der Musik gewinnt die Neigung zu musikalischen Kalauern und der Einsatz der Stimme zunehmend an Bedeutung, wobei Valentinaden nicht selten sind. Brötzmann in der Schwarzwaldfahrt: "Aber es ist mir hier viel zu kalt - und den Klarinetten auch".

Grundsätzlich anders als die Entwicklung der Brötzmann-Van Hove-Bennink-Musik vollzieht sich jene der Gruppe um Alexander von Schlippenbach, der in den letzten Jahren vor allem im Quartett mit dem englischen Saxophonisten Evan Parker, dem Bassisten Peter Kowald und dem Schlagzeuger Paul Lovens arbeitet. Schlippenbachs Musik ist sich über die Jahre hinweg gleichsam "treuer" geblieben. Nicht, dass keine Veränderungen stattgefunden hätten, aber sie lagen mehr im Detail, in den musikalischen Feinstrukturen, als in der äußeren Erscheinungsweise. Die Musik des Schlippenbach-Quartetts ist konsequent a-thematisch, energetisch und ohne Konzessionen an bestehende Trends - eine Welt für sich. Knüpft Schlippenbachs Klavierspiel auch in manchen Aspekten an Cecil Taylor an (eine mindestens ebenso große Affinität besteht zweifellos zu Monk), so ist seine Gruppenkonzeption doch nicht mit der Taylors zu vergleichen; sie ist demokratischer. Nicht der Meister dominiert und kanalisiert das musikalische Gesamtgeschehen in eine bestimmte (nämlich seine) Richtung, sondern musikalische Prozesse entwickeln sich kollektiv mit wechselnden Initiatoren. - Eine bedeutende Rolle innerhalb dieser Musik fällt Evan Parker zu, für mich in der Kompromisslosigkeit seiner Konzeption einer der beeindruckendsten Saxophonisten des Free Jazz überhaupt. Der englische Trompeter Jan Carr hat in seinem Buch über den zeitgenössischen Jazz in Großbritannien (Music Outside, London 1973) eine sehr anschauliche Darstellung der Spielweise Evan Parkers geliefert, die ich hier wegen ihrer Treffsicherheit auszugsweise zitieren möchte: "Parker erkundet die technischen Möglichkeiten von Tenor- und Sopransaxophon bis zu ihren Grenzen; er verwendet Obertöne, die so hoch liegen, dass sie in den Bereich von Fledermaus-Frequenzen kommen; er hält Spannung über lange Zeitspannen hin aufrecht und spielt extrem ungewöhnliche melodische Konturen; er spaltet Töne in ihre Komponenten - die Teiltöne, die in einem normalen Saxophonklang enthalten sind. Der daraus resultierende Effekt ist, als legte man einen Takt Musik unter ein sehr starkes Mikroskop oder Stethoskop. Was wir sehen oder fühlen ist immer noch Musik, aber wir bemerken ihre Fasern, ihre Einzelteile, ihre normalerweise verborgene Physik in extremer Vergrößerung. Aber die Kontinuität mit der Jazztradition ist da .. liegt in der Energie und der Intensität der Emotionen und in der Art, wie sie zum Ausdruck gebracht werden . Sein Spiel erscheint wild und unordentlich, aber in Wirklichkeit ist es extrem diszipliniert und kontrolliert."

Die Existenzfähigkeit eines großen Jazzorchesters hängt seit jeher nicht nur von musikalischen, sondern vor allem von ökonomischen Faktoren ab. Dies war schon bei den Swingbands so, deren Bestehen häufig um den Preis von Showbiz-Kompromissen und einem Leben "On the Road" erkauft werden musste, und dies gilt in noch stärkerem Maße für ein Free Jazz-Orchester, dessen Gestaltungsprinzipien sich nicht unbedingt mit den Präferenzen des sog. "großen" Publikums decken. Free Jazz-Orchester sind entsprechend rar, zumal solche, die auf der Basis einer dauerhaften und regelmäßigen Zusammenarbeit existieren, die letztlich notwendig ist, um eine Kontinuität musikalischer Entwicklung zu gewährleisten. In Europa ist meines Wissens das Globe Unity Orchester das einzige, das in den letzten Jahren bei allen Schwierigkeiten eine derartige Kontinuität erreichte. Weder das "London Jazz Composers Orchestra" noch das von Alan Silva in Frankreich initiierte "Celestrial Communication Orchestra" kamen über sporadische Auftritte bei wechselnden Besetzungen hinaus.

Die Initialzündung für das "Comeback" des Globe Unity Orchesters gab ein von Peter Kowald mit Hilfe der Stadt Wuppertal organisierter Workshop, bei dem das Orchester vier Tage lang proben und dann in einem Abschlusskonzert die Ergebnisse seiner Arbeit vorstellen konnte. Bereits bei diesem Workshop zeichnete sich eine gewissermaßen dualistische Konzeption ab, die einerseits auf das völlig freie Zusammenspiel abzielt, andererseits - quasi als Kontrastprogramm - auskomponierte Stücke einschließt, deren Faktur bisweilen auf eine ironisierende Art konventionell ist; z. B. Schlippenbachs Bearbeitung von Jelly Roll Mortons "Wolverine Blues", seine Komposition "Bavarian Calypso", Arrangements von Willem Breuker usw. Die Funktion dieser "Lieder", bei deren Darbietung man weitgehend ohne Improvisationen auskommt, besteht unter anderem darin, einem unvorbelasteten Publikum Anknüpfungspunkte an die eigenen musikalischen Erfahrungen zu vermitteln, ihm Entspannung zu ermöglichen zwischen den frei improvisierten und zur angespannten Aufmerksamkeit herausfordernden Sets. (Ich weiß nicht, ob dies die Intention der Globe Unity-Leute ist - zumindest läuft die Wirkungsweise der "Lieder" bei den Rezipienten nach meinen Beobachtungen darauf hinaus).

Es gibt bis heute leider noch keine Schallplattenaufnahmen, die für das Globe Unity Orchester in der Weise repräsentativ sind, dass sie seine Fähigkeit veranschaulichen, lang ausgedehnte Strukturverläufe, die ausschließlich aus der Imagination der Spieler und dem Wechselspiel von Aktion und Reaktion basieren, mit Spannung zu erfüllen. Dabei scheint mir diese Fähigkeit zum "spontanen Komponieren" eines der bemerkenswertesten Charakteristika dieses Orchesters zu sein.

Gegenüber der Kaputtspiel-Phase der großen Gruppen der End-sechziger Jahre zeichnet sich die totale Improvisation im Globe Unity Orchester ab 1973 dadurch aus, dass sie in starkem Maße offenen Strukturen Raum gibt. Die Erfahrung, dass ein Fortissimo erst als solches wirkt, wenn ihm eine leise Passage vorausgeht, dürfte dabei eine ebenso große Rolle spielen wie jene, dass die Individualität der einzelnen beteiligten Spieler erst dann hörbar werden kann, wenn sie nicht durch die Dauer-Power der anderen totgeschlagen wird. Die Individualität der Ausdrucksmittel der Globe Unity-Musiker, die ja alle auch außerhalb des Orchesters in diversen Gruppen arbeiten und von dort einen Teil ihrer Inspiration beziehen, bildet wohl die wesentlichste Ursache für die Variationsbreite des durch das Orchester verwirklichten musikalischen Spektrums. Die uniformierte Ästhetik, die das Klangideal der traditionellen Bigband mit ihren Satzgruppen bestimmt, hat im musikalischen Weltbild des Globe Unity keinen Platz. Stattdessen setzen sich - bei aller kollektivistischen, auf eine gemeinsame Aussage gerichteten Zielstrebigkeit - die unterschiedlichen musikalischen Temperamente der einzelnen durch, schaffen Vielfalt, Reibung, Spannung. (Um nachzuvollziehen, was gemeint ist, braucht man sich nur einmal die divergierenden Ausdrucksmittel der Saxophonisten Brötzmann, Carl, Parker und Dudek oder der Posaunisten Rutherford, Mangelsdorff und Christmann zu vergegenwärtigen - oder anzuhören!).

Die Tatsache, dass Gruppen wie die von Brötzmann, Schlippenbach und das Globe Unity Orchester hierzulande gewissermaßen im vordersten Bewusstsein des Free Jazz-Publikums angesiedelt sind und auch im Ausland bisweilen als die Repräsentanten des zeitgenössischen "teutonischen" Jazz (Melody Maker) apostrophiert werden, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die musikalischen Aktivitäten breiter gestreut und die Vielfalt an individuellen und gruppenspezifischen Gestaltungsweisen größer ist, als die bis hierhin getroffene Schwerpunktbildung nahe legen mag.

Eine in der Geradlinigkeit ihrer Entwicklung konsistentesten Gruppen bildete lange Zeit jene des Frankfurter Posaunisten Albert Mangelsdorff. Mangelsdorff gehört zu den Veteranen der deutschen Jazzszene. Er hat die epigonale Epoche des europäischen Jazz vom Dixieland über Cool Jazz und Hardbop stilistisch bewältigt, ohne selbst dabei jemals zum Epigonen zu werden. Zur freien Musik stieß er, dem Evolution stets mehr bedeutete als Revolution, relativ spät, dann aber mit einer Souveränität im Umgang mit dem neuen Material, die mancher Heißsporn der Kaputtspiel-Periode missen ließ. In mancher Hinsicht ist Mangelsdorffs Werdegang und seine Position innerhalb der europäischen Free-Szene der John Coltranes innerhalb der amerikanischen vergleichbar. Beide gingen durch die verschiedenen Stadien der Jazzgeschichte, ohne dabei jemals nur mit dem Strom zu schwimmen, sondern stets ihren eigenen Weg verfolgend; und beide wurden zu einer Art Vaterfigur für die nachfolgende Generation - und zwar nicht nur was ihre musikalischen Errungenschaften betrifft, sondern nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Persönlichkeit. Dass Mangelsdorff zum Präsidenten der 1973 gegründeten "Union deutscher Jazzmusiker" gewählt wurde, ist kein Zufall, sondern geschah gewissermaßen zwangsläufig.

Das Quintett, das Mangelsdorff - parallel zu seiner Zusammenarbeit mit Brötzmann-Van Hove-Bennink - zu Anfang der 70er Jahre leitete, war einer Art von Musik verpflichtet, die beide Beine fest in der Jazztradition hatte, swingend in einer free-spezifischen Weise und nur selten die melodisch-motivische Entfaltung zugunsten einer rein klanglichen aufgebend. Hierzu trug nicht nur die auf Linearität ausgerichtete Spielweise von Mangelsdorff selbst, sondern vor allem auch die Arbeit seiner beiden Saxophonisten Heinz Sauer und Gerd Dudek bei, der erstere blueshaft-ruppiger improvisierend, der letztere mehr der erweiterten Modalität Coltranes verpflichtet.

Seit längerer Zeit arbeitet Mangelsdorff vor allem als Solist. Über die von ihm in diesem Zusammenhang entwickelte Technik des akkordischen Spiels ist schon so viel geschrieben worden, dass ich mir eine detaillierte Darstellung hier ersparen kann. Interessant scheint mir, was Mangelsdorff selbst über das Verhältnis von Solo- und Gruppenimprovisation sagt: "Man gibt sich im Solo physisch noch mehr aus, weil es anstrengender ist als in einer Gruppe zu spielen. Dass man sich aber wirklich bis zum letzten emotional ausgibt, dazu kommt es eigentlich nur im Zusammenspiel mit anderen..So frei man sich im Solo-Spiel, bei allem, was man von sich gibt, auch spielt, es ist doch irgendwie kontrollierbar. Es ist praktisch eine ganz andere Musik als die in der Gruppe, in der es zu völlig anderen Ausbrüchen kommen kann.." (vgl. Jazz Podium 2/1 977).

Während sich unbegleitetes Solospiel in der ersten Hälfte der 70er Jahre unter dem publizistisch-werbewirksamen Motto "Solo Now" zu einer veritablen Solowelle ausweitete, blieb die Duo-Besetzung als kleinstmögliche Interaktionseinheit relativ selten. Zwar liegen eine Menge Schallplattenproduktionen vor, in denen sich Duos jeder Art von Instrumentenkombination präsentieren, doch sind dies in der Regel eher die Resultate von ad hoc arrangierten Zusammentreffen zweier Musiker, als dass sie den musikalischen Alltag permanenter Zusammenarbeit widerspiegeln. Die am konsequentesten praktizierte Ausnahme von dieser Regel (es gibt einige wenige mehr) stellt das Duo dar, das der Posaunist/Bassist Günter Christmann und der Perkussionist Detlef Schönenberg 1973 gründeten, zu einer Zeit also, als von jener Duo-Mode, die gegenwärtig die Festivals verarmt, noch nichts zu merken war. Das Christmann-Schönenberg Duo hatte einen Vorläufer in einem Trio unter der Leitung des Tenorsaxophonisten Rüdiger Carl, das im Januar 1972 eine bemerkenswerte LP einspielte (King Alcohol, FMP 0060), die allerdings in einigen Passagen bereits die Probleme veranschaulicht, die wenig später zu der Auflösung des Trios führten. Während Schönenberg die traditionelle Rolle des Schlagzeugers als Lieferant eines rhythmischen Fundaments bewusst zu überwinden versuchte und zu einer offen strukturierten Musik tendierte, die sich von der time-bezogenen Rhythmik des amerikanischen Free Jazz löste, gehörte für Rüdiger Carl die Bindung an eine pulsierende Jazzrhythmik zur Essenz einer musikalischen Konzeption. Carl: "Der Puls, oder wie du das nennen willst, ist für mich nicht wegzudenken" (Jazz Podium 4/1973). - Die sich hier andeutende Kollision zwischen zwei divergierenden Konzeptionen scheint mir, unabhängig von den betreffenden Musikern, insofern bedeutsam, als sie zwei Prinzipien rhythmischer Kommunikation miteinander konfrontiert, die man - vergröbernd - als abendländisch einerseits und afro-amerikanisch andererseits klassifizieren könnte. Auf das Problem wird zurückzukommen sein.

Die Duo-Musik von Christmann und Schönenberg ist innerhalb von rund fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit zu einer interaktiven Dichte zusammengewachsen, welche die traditionelle her auseinanderstrebenden instrumentaltechnischen und klanglichen Eigenarten von Posaune und Schlagzeug weitgehend vergessen lassen. Das dialogische Prinzip dieser Musik bedingt zugleich ihre Sprachnähe, denn wie sprachliche Dialoge schließt sie eine Reihe von Reaktionsmustern ein, die den musikalischen Prozess vorantreiben: Paraphrasieren (Bestätigen), Kontrapunktieren (Widersprechen), Imitieren (Nachplappern) usw. Und auch die emotionalen Ausdrucksformen sind sprachnah: Schreien, Stottern, Lamentieren, Flüstern.. Dass diese Sprachnähe ihrer Musik Schönenberg und Christmann offensichtlich bewusst ist, geht aus einigen der Titel ihrer LPs hervor: Topic (= Gesprächsthema), Remarks (= Bemerkungen). Dennoch würde man der Musik des Duos nicht gerecht werden, würde man sie auf die metaphorische Identifikation von sprachlichen und musikalischen Kommunikationsebenen reduzieren. Denn anders als unsere tägliche Sprache, die- um allgemein verständlich zu sein - darauf angewiesen ist, mit einem begrenzten, durch Geschichte und Konvention bestimmten Vorrat an Vokabeln (Material) auszukommen, wird die Musik des Duos durch eine kontinuierliche Erweiterung des Materialbestandes veränderbar - und zwar nicht nur durch eine allmähliche Vergrößerung bzw. Modifizierung des Klangapparates, sondern vor allem auch durch die intensive Erforschung des aus dem gegebenen Instrumentarium möglichen Repertoires an klanglichen Mitteln. (Mit welcher Zielstrebigkeit sich dieser Prozess einer Verbreiterung der klanglichen Palette vollzieht, kann man sich veranschaulichen, wenn man die frühen Einspielungen des Duos (z.B. We Play von 1973, FMP 0120) mit den jüngeren vergleicht (z. B. Live at the Moers Festival '76).

Der Dualismus zwischen Puls als Basis rhythmischer Kommunikation einerseits und einem eher punktuell akzentuierenden Reaktionsverhalten andererseits, der die Rüdiger Carl Inc. seinerzeit zur Auflösung trieb, findet eine gewisse Parallele in der Gegenüberstellung der Konzeption des Irène Schweizer-Quartetts, dem sich Carl 1973 anschloss, mit jener des Christmann-Schöneberg-Duos. Während Christmann und Schönenberg die "praktische Spielerfahrung des Jazz" als Basis ihrer Duo-Musik zwar ausdrücklich hervorheben (vgl. Jazz Podium 1/1978), bewegen sie sich doch im Laufe der Entwicklung ihrer Musik - was deren äußere Erscheinungsweise betrifft - zunehmend von diesen Erfahrungen fort. Zwar hätten sie kaum so vehement auf Karlheinz Stockhausens einfältige Attacke gegen den Jazz reagiert (vgl. Jazz Podium 11/1977), wenn sie nicht in ihrer Identität als "Jazzer" betroffen gewesen wären; aber dennoch - und das zeigt die Art ihrer Argumentation - bauen sie ihre Verteidigung des neuen Jazz (ihres Jazz!) primär auf der Voraussetzung auf, dass dieser mit dem "alten" Jazz, den der desorientierte und in seinem eigenen musikalischen Weltbild eingeigelte Stockhausen im Sinn hatte, nichts mehr zu tun hätte. (Womit sie natürlich recht haben). Demgegenüber steht die Position Rüdiger Carls, dem die Kontinuität eines pulsierenden rhythmischen Gefüges wichtig ist und der es dafür in Kauf nimmt, gewissermaßen als Traditionalist abgestempelt zu werden, also als einer, auf den die Stockhausensche Kritik - wenn sie nicht so borniert ethnozentristisch wäre - zuträfe.

Als Carl 1973 zur Gruppe der Pianistin Irène Schweizer stößt, ist die Kaputtspiel-Zeit weitgehend vorüber. Die Gruppe spielt zwar eine in ihrer Grundhaltung hochenergetische Musik, die jedoch durchsichtig ist und auf weite Strecken offenen, auf subtile Klangarbeit ausgerichteten Strukturen Raum lässt. Die ersten beiden LPs der Gruppe, Goose Pannée vom September 1974 (FMP 0190) und Messer vom Mai 1975 (FMP 0290), vermitteln einen vorläufigen Eindruck vom musikalischen Spektrum der beiden Hauptakteure Carl und Schweizer: Irène Schweizer ist zweifellos von Cecil Taylor beeinflusst (wer nicht?), spielt dessen kaskadenhafte Cluster-Arpeggien mit einer immensen rhythmischen Intensität, geht freilich darüber hinaus, indem sie in ihr Powerplay repetitive Patterns verwebt, die urplötzlich durch eine Art von Stride-Piano abgelöst werden und schließlich in eine getragen pathetische Akkordik münden (vgl. das Titelstück von Goose Pannée). An anderer Stelle bevorzugt bei unbegleiteten Einleitungen - wendet sie sich verstärkt den von Cage und innerhalb der europäischen Avantgarde entwickelten Klaviertechniken zu: Flügelsaiten mit Fingern anzupfen, mit Schlägeln anschlagen, mit Schabern streichen, mit Holz- und Metallkugeln bewerfen usw. Eine ähnlich große Variationsbreite der Ausdrucksmittel und Gestaltungsprinzipien demonstriert Rüdiger Carl, der eine - meines Erachtens viel zu wenig beachtete - integrierende Position zwischen den europäischen Free Jazz-Saxophonisten einnimmt. In Carls Spielweise findet die eher flächenhafte Schreiartikulation Brötzmanns ebenso ihren Platz wie die von Parker initiierte Atomisierung der melodischen Phrase in splitterhafte Partikel und die dramatisierende Modalmelodik Dudeks. Diese Aufzählung soll nicht heißen, dass Carl ein aufgeweckter Eklektizist sei, sondern dass er all diese Techniken beherrscht und für seine Konzeption daraus Gewinn zieht. Dass diese Konzeption mehr darstellt als nur eine Verbindung bestehender Gestaltungsweisen wird z.B. in seiner Komposition Glücksgäu (auf Goose Pannée) deutlich, in der er im kontrollierten und systematischen Einsatz von Mehrklängen quasi eine aktualisierte Free-Version von Coltranes 20 Jahre zurückliegenden "Harmonique" bietet, oder in Come on Bert (auf Messer), wo er eine konsequente motivische Arbeit nicht im herkömmlichen melodisch-phraseologischen Sinn darbietet, sondern Motivik im Rahmen der avancierten, auf die Variation von Klangstrukturen abzielenden Gestaltungsprinzipien. - Insgesamt ist glaube ich - die Einstellung Carls zum Handwerk im herkömmlichen Verständnis ebenso bestimmend für die Gesamtheit seiner musikalischen Äußerungen wie sein Bestehen auf dem Vorhandensein rhythmischer PuIsation. Carl wilI das, was er macht, unter Kontrolle haben, wobei er allerdings die Kriterien dafür, was Kontrolle bedeutet, nicht ganz ins Subjektive verlegt haben will. So zumindest verstehe ich eine Äußerung, die er in einem Jazz Podium-lnterview vom April 1973 machte: "Viele Spielweisen sind für mich aus einem Unvermögen entstanden. Das sagt nichts gegen die Formen, die dann später erreicht wurden. Die können ganz interessant sein. Aber ich glaube, es wird vieles umgangen und aus der Not manchmal eine Tugend gemacht, die dann mit dem Namen einer neuen Musik belegt wird."

Ein wenig an der Peripherie des Geschehens (oder war es nur die Peripherie meines persönlichen, auf Berlin und Wuppertal zentrierten Blickfeldes?) entstanden zu Ende der 60er Jahre zwei Gruppen, deren Gestaltungsweisen eher auf eine produktive Verarbeitung der amerikanischen Tradition gerichtet waren als auf deren Zertrümmerung: das "Modern Jazz Quintett Karlsruhe" und die "Free Jazz Group Wiesbaden". Beide Gruppen waren überwiegend mit Musikern besetzt, die ihren Lebensunterhalt in sog. bürgerlichen Berufen verdienten; und es mag sein, dass ihr "Amateurstatus" mitverantwortlich für die vergleichsweise geringe öffentliche Resonanz war, die die Musik dieser Gruppen in den Medien erfuhr. (Die Unangemessenheit des herkömmlichen Amateurbegriffs, der ja so etwas wie den des dilettierenden Laien einschließt, wird hier besonders deutlich).

In der Konzeption des "Modern Jazz Quintett Karlsruhe" wie auch in jener der Nachfolgegruppe "Fourmenonly" besitzen thematisches Material und strukturelle Vorplanung - im Gegensatz zu der weitgehend a-thematischen Musik der FMP-nahen Gruppen - einen bedeutsamen Stellenwert. Einzelne Stücke treten dabei als deutlich unterschiedliche Charaktere hervor, gegeneinander abgesetzt in Klangbild, Dichtegrad, rhythmischer Intensität und - damit verbunden - emotionaler Tönung. Powerplay wird sparsam und wenn, dann vor allem als Mittel formalen Kontrastes eingeführt. Insgesamt sind die Strukturen weniger flächenhaft, sondern, um im Bild zu bleiben - eher "hügelig", mit viel Zeit für Alleingänge der einzelnen Spieler. Einen wesentlichen Anteil an der Vielfarbigkeit der Musik der Karlsruher haben die Kompositionen des Flügelhornspielers Herbert Joos, der (für mich) zu den bedeutendsten Komponisten des zeitgenössischen Jazz überhaupt gehört. Er ist - wie besonders seine später entstandenen Arbeiten Eight Science Fiction Stories und The Philosophy of the Flugelhorn unter Beweis stellen - ein Tüftler mit einem ausgeprägten Sinn für Klangfarbe und Instrumentation, wobei die für seine Schreibweise typischen homophon-tieflagigen Sätze bisweilen eine in den zeitgenössischen Jazz transformierte Cool-Ästhetik nach Art des Miles Davis-Capitol Orchestra heraufbeschwören.

Dem auf Klang ausgerichteten Konstruktivismus der Karlsruher gegenüber stand eine stärker ausgeprägte "Losgeh"-Mentalität bei der "Free Jazz Group Wiesbaden". Die beiden Hauptakteure, der Trompeter Michael Sell und der Saxophonist Dieter Scherf, übertrugen ihre im Hardbop gewonnenen Spielerfahrungen mit erheblicher Vehemenz in den Free-Kontext. Power-Kollektive waren in der Regel motivisch organisiert (d.h. reaktiv) und mündeten in frei-swingende Soli, in denen Technik im "konservatorischen" Sinne einen beträchtlichen Stellenwert einnahm. "Europäischer" Free Jazz war das weder im Stil der Kaputtspiel-Phase noch der sich daran anschließenden Läuterung, sondern es war eher eine gelungene Adaption amerikanischer Modelle.

Über die freie Musik, wie sie seit einigen Jahren in der DDR gespielt wird, etwas Definitives aussagen zu wollen erscheint mir - auf der Basis der drei Schallplatten, die ich kenne - ein reichlich waghalsiges Unternehmen. Allenfalls Tendenzen lassen sich dingfest machen. Ähnlich wie die Musik FMP-naher Formationen ist jene der Gruppe um den Saxophonisten Ernst-Ludwig Petrowsky (Just für Fun, April 1973, FMP 0140) und des Gumpert-Sommer-Hering-Trios (The Old Song, Juli 1973, FMP 0170) in starkem Maße auf die Verfremdung von Klangfarbe und auf Powerplay ausgerichtet, wobei die Normen traditioneller Klangästhetik rigoros in Frage gestellt werden und Linearität zugunsten von Geräuschhaftigkeit in den Hintergrund tritt. Die rhythmische Grundhaltung ist eher hektisch-angespannt als fließend, wozu bei der letzt genannten Einspielung - besonders die offensichtlich an Bennink und Lovens anknüpfende Spielweise des immens Klang bewussten Schlagzeugers Günter Sommer beiträgt. Abweichend vom Gesagten tendiert eine spätere Aufnahme des Petrowsky-Quartetts (Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil, März 1974, FMP 0240) mehr zu offenen Strukturen, bisweilen sogar zu einer gewissen Re-lnstallierung melodischer Ausgeglichenheit und motivischer Arbeit. Inwiefern hier ein Entwicklungsprozess stattgefunden hat (zwischen den beiden Aufnahmen Petrowskys liegt nur ein knappes Jahr) oder nur ein anderer Aspekt des musikalischen Spektrums in den Vordergrund tritt, kann ich nicht entscheiden. Auch ist mir unklar, ob die deutlich hörbaren Affinitäten zwischen der Ästhetik Gumperts und Petrowskys einerseits und jener Brötzmanns und Schlippenbachs andererseits durch einen direkten Einfluss zustande gekommen sind oder sich unabhängig herausgebildet haben.

So genannte "Nationalstile" sind in der Geschichte der abendländischen Kunst seit der Renaissance nichts Außergewöhnliches. Und wenngleich das 20. Jahrhundert mit seinem medienbedingten kulturellen Internationalismus die meisten Differenzen einebnete, so sind doch bis heute - z.B. im Bereich der zeitgenössischen sog. E-Musik - gewisse nationale Eigentümlichkeiten auszumachen. Das hat nichts mit Nationalismus oder Chauvinismus im politischen Sinne zu tun, sondern ist durch die unterschiedliche Geschichte einzelner Völker (die ihre Kulturgeschichte einschließt) bedingt.

Die Frage, ob auch im Jazz derartig unterschiedliche "nationale" Tendenzen auffindbar seien, wäre noch bis in die 60erJahre kaum jemandem eingefallen. Jazz wurde als musikalische Weltsprache aufgefasst und als solche auch durch Voice of America und State Department emsig propagiert, wobei der Begriff der Weltsprache eindeutig ideologischer Natur war, denn er behauptete nicht nur die prinzipielle Weltgeltung amerikanischer Kultur, sondern verschleierte gleichzeitig die kulturelle Enteignung afro-amerikanischer Musiker, um deren musikalische Sprache es sich beim Jazz doch primär handelte. - Inzwischen geschieht es bisweilen bei Festivals, dass schwarze Free Jazz-Musiker während der Auftritte von europäischen Kollegen kopfschüttelnd die Halle verlassen - nicht, weil sie die auf der Bühne für inkompetent halten, sondern weil sie deren Sprache nicht mehr nachvollziehen können oder wollen. Die "Weltsprache" Jazz hat ihre Allgemeinverbindlichkeit eingebüßt.

Was sich in dem Bruch zwischen europäischer und amerikanischer Free Jazz-Ästhetik vergleichsweise krass andeutet, gilt - wenn auch mit weitaus geringerer Trennschärfe - für bestimmte regionale Spielarten des europäischen Free Jazz. Es ist mittlerweile durchaus üblich, dass unter Musikern und Insider-Publikum von den Holländern und den Engländern gesprochen wird (oder den Wuppertalern), wobei die nationale oder geographische Klassifizierung sich in der Regel nicht nur auf eine bestimmte Personengruppe von Musikern bezieht, sondern zugleich eine bestimmte Auffassung von Musik einschließt. (Der Schlagzeuger, mit dem ich zusammenarbeite, sagt manchmal: Lass uns mal englisch spielen!). Wie alle Klischees und stereotypen Begriffe, sind auch die musikalisch gemeinten einerseits unscharf (da vereinfachend), andererseits aber durch Realität (oder die Vorstellung von Realität) bedingt. Ich persönlich glaube nicht daran, dass es den holländischen oder den englischen oder den deutschen Free Jazz gibt, genau so wenig wie ich an den Holländer, den Engländer, den Deutschen oder den Arbeiter oder den Professor glauben kann. (Marx wollte nicht einmal an den Kapitalisten glauben). Dennoch scheint es mir offensichtlich, dass sich im Laufe der letzten 10 Jahre in Europa einige auf charakteristische Weise divergierende Free Jazz-Sprachen herausgebildet haben, geprägt durch unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse bzw. - mehr noch - durch eine unterschiedliche Rezeption dieser Verhältnisse von Seiten der Musiker. Ich will mich nicht darauf einlassen, Ursache und Wirkung in diesem Beziehungsgefüge nach Art platter Widerspiegelungstheorie auf einen Nenner zu bringen, sondern versuchen, die musikalischen Resultate zu beschreiben, wobei einige Verallgemeinerungen schon wegen der gebotenen Knappheit der Darstellung nicht zu umgehen sind.

Eine der wichtigsten Kernzellen der englischen Jazz-Avantgarde war seit Mitte der 60er Jahre der von dem Perkussionisten John Stevens initiierte "Little Theatre Club", eine Art musikalischer Werkstatt, in der - ohne Rücksicht auf das ohnehin spärliche Publikum - mit einer Intensität und Konsequenz experimentiert wurde, die in der Geschichte des Jazz vielleicht nur in den Monroe- und Minton-Sessions beim Anbruch der Bebop-Ära eine Parallele hat.

Die zentrale Formation innerhalb der ständig wechselnden Besetzungen, die im Little Theater Club experimentierten, bildete das von John Stevens gemeinsam mit dem Saxophonisten Trevor Watts gegründete Spontaneous Music Ensemble, eine Gruppe, in der - für mehr oder minder lange Zeit - nahezu jeder Musiker der Londoner Avantgarde einmal gespielt hat. Nur einige Namen aus einer langen Liste seien genannt: die Trompeter Kenny Wheeler und Jan Carr, die Saxophonisten Trevor Watts und Evan Parker, der Posaunist Paul Rutherford, der Gitarrist Derek Bailey, die Bassisten Ron Matthewson, Dave Holland, Barry Guy und Johnny Dyani, die Sängerinnen Maggie Nichols und Julie Tippetts..

Das wachsende Wir-Gefühl der im SME auf informeller Basis zusammenarbeitenden Musiker fand schließlich in einer Institution mit starken sozialpolitischen Akzenten ihren Ausdruck. Dies war Musician's Co-op, deren wesentliche Funktion für die Musiker - nach Evan Parker - darin besteht, das Geschäft selbst in die Hand zu nehmen.

Die Musik der englischen Free Jazzer gelangte während ihrer experimentellen Phase auf eine Abstraktionsebene, die Melodik und Harmonik nicht nur in Frage stellte, sondern gleichsam tabuisierte. Geräuschhaftigkeit bildete dabei keine Alternative mehr, sondern wurde bestimmendes Gestaltungsprinzip. Was man im Rahmen der sog. musique concrète per Tonbandcollage fabrizierte, produzierten englische Musiker live. Instrumentenspezifische Charakteristika wurden konsequent negiert oder ins Gegenteil verkehrt: während Saxophonisten perkussiv geräuschhafte Rhythmuspatterns spielten, entfalteten Schlagzeuger klangliche Vielfalt, Bassisten strichen zwitschernd im Falsett, Gitarristen (Derek Bailey) produzierten ohne elektro-akustische Hilfsmittel Sounds, die man anderenorts nur aus den aufwendigen Gerätschaften von Studios für elektronische Musik zu hören bekam. Eine besondere Nuance erhielt der britische Free Jazz durch seine auffallend häufige Einbeziehung der weiblichen Stimme. Dies hängt möglicherweise mit dem spezifischen Verhältnis der englischen Musikkultur zur Vokalmusik zusammen, ein Phänomen, das weit vor die Barockmusik zurückzuverfolgen ist. Mag diese historische Ableitung der häufigen Präsenz von Sängerinnen in englischen New Jazz-Gruppen auch abenteuerlich erscheinen, so ist doch zu konstatieren, dass nirgendwo sonst auf dem Globus das Potential an Vokalistinnen so reichhaltig ist wie in England: Christine Jeffrey, Maggie Nichols, Julie Tippetts, Norma Winstone ....

Der englische Free Jazz, von dem hier die Rede ist, neigt in seiner emotionalen Grundhaltung weniger zur Ekstase als zur Askese und zeigt Tendenzen zur abendländischen E-Avantgarde, ohne sich dieser jedoch so weit anzupassen, dass ihm die Spielfreude verloren geht. Darüber hinaus gibt es allerdings (und nicht zuletzt hier zeigt sich die Brüchigkeit von Klischees) auch im zeitgenössischen britischen Free Jazz eine andere Strömung, die ihre Inspiration und ihre emotionale Kraft vornehmlich aus der afro-amerikanischen Musik bezieht und die nahelegt, dass die imitatorische Phase in Europa noch lange nicht ganz vorüber ist.

"Jede Musik ist politisch; unsere improvisierte Musik ist politisch, ist die Fortsetzung unserer politischen Ideen und Aktionen. Die Tatsache, dass wir unsere politische Position eindeutig definiert haben, hat unsere Musik stärker werden lassen als sie es jemals zuvor war, mindestens ebenso stark wie die afro-amerikanischer Musiker."

Dieses Statement des Pianisten Misha Mengelberg (Jazz Magazine No. 220) beinhaltet mehr als nur ein persönliches Glaubensbekenntnis, sondern ist symptomatisch für die Position zahlreicher Musiker der holländischen Free Jazz-Szene. Das soll nicht bedeuten, dass Musiker anderer Länder das politische Geschehen um sich herum gleichsam bewusstlos registrieren; nur sind die musikalischen Konsequenzen, die die Holländer aus ihrer politischen Existenz ziehen, offensichtlicher. Vor allem an der Arbeit zweier Gruppen wird dies nachvollziehbar, Gruppen, deren Gemeinsamkeiten weniger im Musikalischen (in einem "Stil") liegen als in ihrer künstlerisch-poIitischen Haltung.

In der spontaneistischen Duo-Musik von Mengelberg und Bennink geht es primär darum, alle geltenden ästhetischen Wertmaßstäbe und Spielregeln a priori für ungültig zu erklären, darunter auch jene konzertanter Aufführungspraxis sowie die mit dem Charakter des Selbstverständlichen bestehende Hochachtung vor materiellen Werten: der von Bennink wiederholt unternommene Versuch, die Beine von Steinwayflügeln abzusägen, stellt nicht nur eine Provokation von Hausmeistern dar, sondern auch eines Publikums, für welches das große schwarze Ding auf der Bühne noch immer Ausdruck künstlerischer Seriosität bedeutet (wie die Fracks von Orchestermusikern). Wesentliches musikalisches Gestaltungsmittel innerhalb dieser aktionistischen Konzeption bildet die Collage, wobei Versatzstücke aus der Jazztradition (Monk!) zerrupft und verfremdet und von rhythmischen Mustern auf steel-drum oder Schlitztrommel überlagert werden und die Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren zum Prinzip erhoben wird. Ähnlich wie der belgische Pianist Van Hove stellt Mengelberg dabei Pianistische Technik (über die er fraglos verfügt) permanent in Frage, stolpert, sucht und findet schließlich - eine Zigarette. Nur vordergründig ist dabei die Musik des Duos leicht rezipierbar, denn hinter ihrem offensichtlichen Happeningcharakter verbirgt sich ein hohes Ausmaß an Konzentration und Reflexion. Mengelberg: "Was für mich zählt, vor allen Klängen und vor dem Instrument, ist die Konstruktion. Nicht die Harmonien oder die Themen, sondern die Tatsache, genau zu wissen, in welchem Moment man genau diesen Klang produziert und keinen anderen". (Jazz Magazine No. 220).

Eine - bei allen Gemeinsamkeiten im politischen Anspruch - von ihrer äußeren Erscheinungsweise her gesehen diametral entgegengesetzte Konzeption verfolgt Willem Breuker in seinem "Kollektief". Getreu der Maxime des Dadaisten Marcel Janco von der "Wiedergeburt der Volkskunst als sozialer Kunst" verarbeitet Breuker in seiner Musik nicht nur Eisler und Weill, sondern vor allem auch seine frühen musikalischen Erfahrungen in einem Arbeiterviertel Amsterdams; Erfahrungen, die geprägt sind vom Klang der Dampforgeln, Glockenspiele, Blaskapellen und Mandolinenorchester. Breukers Kollektief, wenngleich mit so hervorragenden Free Jazz-Musikern wie dem Pianisten Leo Cuypers, dem Posaunisten Willem van Manen und dem Bassisten Arjen Gorter besetzt, ist keine Free Jazz Orchester etwa im Sinne des Globe Unity, sondern eine straff organisierte Musiktheater-Truppe, deren häufig am Rande des Chaos balancierender Vitalismus leicht darüber hinwegtäuscht, dass die gestaltende Hand des Komponisten (oder Regisseurs) Breuker ständig präsent ist.

Zwar liegen von der Musik des Breuker-Kollektiefs einige Schallplattenaufnahmen vor und auch in Konzerten ist die Gruppe häufig zu hören, den eigentlichen Bezugsrahmen ihres Wirkens bildet jedoch das musikalische Theater. (Konzertauftritte des Kollektiefs bieten häufig eine Art von Extrakt vorangegangener Theaterproduktionen, deren politische Botschaft dann freilich häufig verborgen bleiben muss).

Zu den wichtigsten Produktionen des Breuker-Kollektiefs zählen "Oltre Tomba", in dem das gegenwärtige niederländische Musikleben am Beispiel eines mittelalterlichen Spielmannstreffens karikiert wird, "Kain en Abel"", das die schwierige soziale Situation von Avantgardemusikern thematisiert, und "Het paard van Troje gaat met vakantie, ofwel de huisvestingsperikelen van de Nederlandse jazzmusicus" (Das trojanische Pferd geht in Urlaub, oder die Wohnungsprobleme holländischer Jazzmusiker). - Fragen mag man sich, was all dies mit dem neuen europäischen Jazz zu tun hat. Nun spielen erstens die Gestaltungsmittel des Free Jazz- bisweilen in parodistischer Überhöhung - in der Musik des Kollektiefs eine bedeutende - wenn auch nicht immer dominierende - Rolle. (Nicht-Free Jazzer könnten diese Musik jedenfalls nicht spielen). Zum anderen aber signalisiert die Konzeption des Breuker-Kollektiefs - wie die von Mengelberg-Bennink - auf besonders prägnante Weise die Konsequenz eines Wandels im Selbstverständnis europäischer Jazzmusiker: Musik "fürs Volk" zu spielen, ohne sich dabei der massenhaft produzierten Manipulationsästhetik des Schlagers (als Volksmusikersatz) zu unterwerfen, sondern diese Manipulation durch Parodie und Ironie zu durchkreuzen. Dass dabei Breukers Musik - und mehr noch sein Musiktheater - außerordentlich lustig ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humor als Mittel zur Entlarvung gesellschaftlich institutionalisierter Humorlosigkeit eine in ihrem Kern eminent ernsthafte Angelegenheit sein kann.

Lässt sich ein Fazit ziehen? Gibt es die viel zitierte Emanzipation des europäischen Jazz wirklich? Und wenn ja, welches sind die Charakteristika, die diesen spezifisch europäischen Jazz von jenem afro-amerikanischer Provenienz unterscheiden? Zumindest eines dürfte aus den vorangegangenen Überlegungen deutlich geworden sein: dass es den europäischen Free Jazz im Sinne eines kompakten und in seinen musikalischen Merkmalen deutlich gegen andere abgrenzbaren Stiles nicht gibt. Stattdessen gibt es innerhalb des zeitgenössischen Jazz in Europa einen stilistischen Pluralismus, der heute ausgeprägter ist als je zuvor, ausgeprägter auch als die auf New York zentrierten Spielarten des amerikanischen Free Jazz. Dabei bedeutet schon die bloße Existenz stilistischer Vielfalt ein Stück Emanzipation - und zwar nicht die Emanzipation europäischer Musiker en bloc, sondern zunächst einmal die eines jeden für sich. Die Entscheidung, nicht mehr "wie Coltrane", "wie Taylor" oder "wie Shepp" zu spielen, sondern mal selbst zu sehen, wohin man auf den eigenen Füßen gelangt, ist ja primär keine kollektive, sondern eine individuell gefasste Entscheidung. Dass sich dann - gerade beim Jazz als einer auf Wechselwirkung basierenden Gruppenmusik - kollektive Problemlösungsverhalten herausbilden, geschieht fast zwangsläufig.

Und hier - bei den kollektiven Problemlösungen - hat man wohl anzusetzen, wenn man die Differenzen zwischen europäischer und afro-amerikanischer Free Jazz-Ästhetik verallgemeinernd in den Griff bekommen will. (Manches wurde im Laufe des Textes schon angedeutet).

- Die Isolierung des Parameters Klangfarbe aus dem melodischen oder harmonischen Kontext stellt im Prinzip ein wesentliches Verfahren des Free Jazz insgesamt dar. Doch während in den Vereinigten Staaten konsequente Klangimprovisation ohne jede melodische Implikationen stets ein sekundäres Gestaltungsmittel blieb, konzentrierten sich zahlreiche Gruppen in Europa gerade auf die bewusste Manipulation von Klangfarbe um der Klangfarbe willen.

- Damit verbunden entwickelten sich in Europa einige grundlegend neue Instrumentaltechniken. Dazu gehören nicht nur die Ausweitung und klangsensible Handhabung des Perkussionsapparates durch Musiker wie Schönenberg, Lytton, Lovens, Bennink usw., die Atomisierung des Klanges durch Evan Parker und die unorthodoxen Gitarrentechniken von Derek Balley und Hans Reichel, sondern vor allem auch die Siebenmeilenschrittte, die Posaunisten wie Christmann, Malfatti, Mangelsdorff, Rutherford und Czelusta bei der Materialerforschung auf ihrem Instrument machten. De facto kann von einer "Befreiung" der Posaune von der Bebop-Ästhetik J. J. Johnsons erst im Zusammenhang mit den genannten Musikern geredet werden, denn weder Grachan Moncur III noch Roswell Rudd hatten die Rolle der Posaune als Melodieinstrument ernsthaft in Frage gestellt; und George Lewis ist quasi ein Nachzügler.

- Über eine spezifische rhythmische Grundhaltung europäischer Free Jazzer wurde im Zusammenhang mit der sog. Kaputtspiel-Phase gesprochen. Insgesamt scheint mir die freie Rhythmik in Europa weniger auf Kontinuität als auf Kontrast gerichtet zu sein, in langsameren Tempi eher nervös als gelassen und in schnelleren eher hektisch als vorantreibend. Aber das ist eine sehr pauschale und zudem sehr subjektive Aussage. Man sollte das mal genauer untersuchen.

- In der frühen Phase des amerikanischen Free Jazz spielte Kollektivimprovisation eine bedeutende Rolle, wurde aber im Laufe derzeit wieder mehr und mehr zugunsten des alten Dualismus von Solisten und Begleitern aufgegeben. In Europa hingegen blieb die Kollektivimprovisation mit gleichberechtigten Partnern das dominierende Gestaltungsprinzip, ein Sachverhalt, der in einem außermusikalischen Aspekt der Musik seine Ursache haben mag: Während in den USA mit Ausnahme weniger Gruppen das Starsystem von "leader" und "sidemen" niemals verschwand (auf Plakaten und in New Yorker Zeitungsanzeigen sucht man im allgemeinen vergeblich danach, wer denn nun die Mitspieler des angekündigten "acts" sind), arbeiten europäische Ensembles überwiegend als kooperative Gruppen - mit gleicher Bezahlung und gleicher Publicity für jeden Beteiligten.

- Während im amerikanischen Free Jazz (und nicht nur hinter dessen Rücken) gegenwärtig eine starke Neigung zur Retrospektive Platz greift und Bebop (Freebop?) allenthalben die musikalischen Strukturen durchsetzt, ist von derartigen Tendenzen in Europa kaum etwas zu spüren.

Bisher...

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