Snapshot - Jazz Now/Jazz aus der DDR

Rolf Reichelt (1980)

Einige Aspekte der Entwicklung des Freejazz in der DDR

Wann wurde der Jazz in der DDR zum DDR-Jazz? Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage kann den Prozesscharakter einer solchen dialektischen Entwicklung nicht übersehen. Datum oder Jahreszahl sind natürlich nicht zu definieren, zumal es den DDR-Jazz nicht gibt und nicht geben kann. Was es allerdings gibt, ist ein gewisses stereotypes DDR-Jazz-lmage - in der DDR (pauschalierend) "Freejazz" genannt, in der BRD (differenzierter) oftmals mit "Eisler-Monk-Folklore-Weill" - Jazz umschrieben. Dieses Image ist sicherlich dadurch entstanden, dass im Falle des DDR-Jazz Teilergebnisse als definitiv angesehen wurden, dass Momentaufnahmen durch Konservierung den Charakter eines Dokuments annahmen. Aber nicht nur der (sonst allgemein anerkannte) Prozesscharakter wurde hier übersehen, sondern auch die Tatsache, dass sich die Rezeption des DDR-Jazz in westlichen Ländern zunächst auf Platten und Konzerte eines Musikerkreises beschränkte, der zwar wesentliche, aber nicht alle Aspekte des Jazz in der DDR repräsentierte. Neuer Jazz aus der DDR wurde via Free Music Production erstmals in den westlichen Ländern veröffentlicht; nach unermüdlichen und jahrelangen Bemühungen gelang es Jost Gebers dann, die auf dem Label vorgestellten Musiker auch live zu präsentieren. Da die FMP jedoch nicht das gesamte Spektrum vorstellte, blieben wichtige (Teil-) Ergebnisse jener Jahre unbemerkt - so zum Beispiel in der Arbeit des Friedhelm Schönfeld-Trios und der verschiedenen Besetzungen Manfred Schulzes.

Eine Gesamtschau der damaligen Szene und der vorausgegangenen Entwicklung wurde und wird wohl niemals publiziert, ist jedoch rechtvollständig in Rundfunkproduktionen und -mitschnitten erhalten. Der Rundfunk ist als jene kulturelle Institution der DDR anzusehen, die sich am längsten und kontinuierlichsten mit der Dokumentierung, Popularisierung und somit Förderung der nationalen Jazzszene beschäftigte. Dadurch war der Autor in der Lage, vor allem die legenden haft kolportierten Anfangsjahre anhand der vorliegenden Archivbänder zu objektivieren und einige Schlüsse und Verallgemeinerungen abzuleiten.

Im Folgenden sollen einige Aspekte der Geschichte des Freejazz in der DDR behandelt werden, von den Anfängen bis etwa hin zum Jahre 1973. Von dieser Zeit an liegen dann Plattenveröffentlichungen auf FMP und AMIGA vor, die allgemein zugänglich sind und darum keiner Verbalisierung bedürfen.

In der DDR begann der so genannte Freejazz nicht als Aufbruch, sondern als Episode. Die neue Spielweise war konkret an eine Gruppe gebunden - das Joachim-Kühn-Trio, eigentlich sogar nur an den Pianisten selbst. Die Episode Kühn ist hervorragend dokumentiert. Allein aus dem Schlüsseljahr 1965 liegen neun Rundfunkproduktionen bzw. Konzertmitschnitte vor - eine für den damaligen Stand medialer Jazz-Affinität in der DDR untypische Quantität. Aber nicht nur der Rundfunk hatte erkannt, dass sich mit und durch Kühn Wichtiges anbahnte: fast jeder Jazz-Bläser versuchte mindestens einmal, mit Kühn zu spielen "in der Hoffnung, dadurch anders zu klingen", wie mir ein Beobachter der damaligen Szene berichtete).Wichtig und bis heute gültig blieben allerdings nur die Ergebnisse des Kühn-Trios mit dem Bassisten Klaus Koch und dem Schlagzeuger Reini Schwarz. Die Aufnahmen des Jahres 1965 zeigen eine weitgehende Anwendung und Beherrschung damals durchaus unüblicher Mittel, die verblüfft. In den Mitschnitten wird nicht hörbar, dass das "freie" Triospiel in hohem Maße, anfangs sogar ausschließlich, von Kühn determiniert war. Der Pianist initiierte eine Musik, für die es auf der damaligen Szene noch keine Musiker gab - er musste sie sich entwickeln.

"Er hat eigentlich den Bassbogen geführt und den Trommelstock geschwungen" (1), dieser Satz von Ernst-Ludwig Petrowsky soll fast wörtlich zu nehmen sein, wie heute Klaus Koch bestätigt. Von Reini Schwarz, nun Schlagzeuger des Kabaretts der Nationalen Volksarmee, wird berichtet, dass er sich nicht mehr daran erinnert, was damals eigentlich gespielt wurde oder gemeint war. Er spielte das, was ihm Joachim Kühn vorgesungen, angedeutet, erklärt oder auch vorgetrommelt hatte. Bassist Klaus Koch war dem einstigen Dixieland-Trommler um einiges voraus: er hatte zunächst eine klassische Ausbildung, zum anderen "mangelnde" Jazz Erfahrungen in tradierten Spielweisen und war dadurch in geringerem Maße auf die damalige geläufige Jazz-ldiomatik fixiert.

Joachim Kühn war nur etwa zwei Jahre lang auf der DDR-Szene aktiv, darum war sein Einfluss nicht stark genug, um von anhaltender und nachhaltiger Wirkung zu sein. Nachdem er 1966 die DDR verlassen hatte, wurde die Entwicklung des Freejazz nicht unmittelbar weitergeführt - mittelbar beriefen sich jedoch die meisten zeitgenössischen Jazzmusiker auf den Einfluss des Pianisten. Ihr Ansatz blieb jedoch zunächst hörbar unterhalb der von Joachim Kühn und seinem Trio erspielten Ergebnisse.

Auch die Konsequenz des Kühn-Trios, welches sich trotz denkbar ungünstiger ökonomischer Bedingungen etwa zwei Jahre lang ausschließlich mit dieser Musik beschäftigte, wurde erst viele Jahre später wieder versucht.

Eine Analyse der 1965er Aufnahmen des Kühn-Trios offenbart einen breiten Katalog von Ausdrucksmitteln, die sich innerhalb eines Jahres auffällig wandeln. Anfänglich finden sich im Spiel des Pianisten durchaus traditionelle funky-Motive. Die Themen oder Quasi-Themen werden in swingender Triolen-Stilistik gespielt, die Rhythmiker arbeiten metrisch bzw. umspielen ein erkennbares Metrum. In harmonischer Hinsicht ist die Entwicklung schon offenkundiger - man findet kaum Changes in unalterierter Form. Allmählich stellt sich ein freierer Umgang mit dem Rhythmus ein, dessen metrische Gliederung zunehmend aufgegeben wird. Im rhythmischen Kontinuum bewegen sich Bass und Schlagzeug harmonisch frei, manchmal auch Skalen bezogen, wobei sich auch gelegentlich der eine oder andere Spieler vom Rhythmus entfernt, der von den beiden anderen konsequent gehalten wird. Komplizierte unmetrische Unisono-Patterns oder -Cluster werden als Quasi-Themen vorangestellt oder blockartig zwischen den Improvisationen gespielt. Völlig "freies" Spiel wird zunächst in Solokadenzen realisiert, freie Kollektive treten interludium-artig zwischen konzipierten Teilen auf, auch findet man offensichtlich geprobtes, gemeinsames Gruppen-Accellerando oder -Ritardando. Es kommt zu zunehmend kommentierendem und Sound bezogenen Spiel des Schlagzeugs, Kühn bezieht das Innere des Flügels ein.

Es zeigt sich stets, dass der Pianist seinen Kollegen weit voraus ist - die Beiträge des Bassisten Koch werden jedoch zunehmend eigenständig und kommunizierend. In seinen Solo-lmprovisationen ist Koch dem Pianisten oftmals sogar adäquat.

Zum Bindeglied zwischen der Musik des Joachim Kühn-Trios und der etwa 1972/73 beginnenden Nachhole-"Kaputtspielphase" im Jazz der DDR wurde das Friedhelm Schönfeld-Trio - die erste stabile Gruppe des Neuen Jazz in der DDR. Friedhelm Schönfeld (reeds, fl), Klaus Koch (b) und Günter Sommer (dr) spielten von 1967 bis 1974 zusammen und erreichten eine Gruppen-ldentität, die für die damalige DDR-Szene beispiellos war. Das Schönfeld-Trio begann, die Normativen tradierter Jazzpraxis graduell zu überwinden. Die Voraussetzungen waren zunächst sehr verschieden. Schönfeld und Koch hatten schon Spiel Erfahrungen mit Joachim Kühn gesammelt, Günter Sommer kam jedoch als Geradeaus Trommler zum Trio. In den ersten Aufnahmen zeigt er sich als äußerst zurückhaltender Time-keeper. Zitat: "Mir wurde in der ersten Zeit gesagt, ich musste viel freier spielen, endlich die Vier vergessen und alle diese Dinge - ich hatte aber noch keine Hörbeziehung und Erfahrung. So habe ich lediglich versucht, die an mich gestellten Anforderungen zu verstehen und zu erfüllen, und ich habe den Beat aufgelost. Andererseits haben wir aber Stucke gespielt - zwischen ihnen wurde dann "frei" verlangt. Das verwirrte mich alles sehr. So völlig frei, ohne Stück, ohne Melodie, ohne Rhythmus - das ging einfach noch nicht. Es war ein Suchen und Tasten". (2)

Die Rundfunkaufnahmen des Jahres 1967 zeigen ein stark vorausgeplantes, ja sogar "programm-musikalisches" Herangehen. Titel wie "Wanderbeat", "Zäsuren", "Ballade" oder "Melange" weisen direkt auf die verwendeten Mittel und Formen hin. Alle Titel sind hörbar durchkonzipiert und geprobt, auch "freie" Stellen sind vorgeplant und treten entweder als Rubato über einem pulsierenden Rhythmus oder als Solokadenz auf. Zitat Schonfeld: "Als ich anfing, Freejazz zu spielen, habe ich mir das Leben besonders schwer gemacht. Obwohl man sich von Konventionen lösen wollte, war man in der Spielweise, die man jahrelang praktiziert hatte, noch stark befangen. Ich habe dann versucht, meine Kenntnisse von Kompositionstechniken einfließen zu lassen. Logischerweise waren die ersten Stucke nicht tonal, sondern mit Hilfe der 12-Ton-Technik und ähnlicher Verfahren geschrieben, die ich dann auch in der Improvisation umzusetzen versuchte. Die Abläufe waren durchgängig strukturiert, auch die thematischen Bezüge traten stärker hervor als Anfang der 70-er Jahre, als bereits ein höherer Stand des freien Spiels erreicht war. Am Anfang bereitete es Schwierigkeiten, sich von bestimmten Phrasen zu lösen. Heute würde ich sagen, dass man krampfhaft bemüht war, sich von Konventionen wegzubewegen. Solche Versuche waren schwierig und wichtig. Die genaue Konzipierung entsprang der Absicht, alles zu belegen. Man hatte noch Hemmungen, irgendetwas einfach intuitiv zu machen". (3)

Das Schönfeld-Trio bewegte sich schrittweise zum Freejazz hin und war etwa im Jahre 1972 im Zenit seines Wirkens. Die Absprachen bleiben zwar erkennbar, wirken jedoch nicht als Spielanlass, sondern eher als dramaturgische Gliederung, die jedoch keinen Korsett-Charakter mehr hat. Günter Sommer spielt frei-pulsierend, die Vorgaben werden intuitiv und emotional ausgestaltet, es kommt zu dichten Interaktionen und zu intensivem Powerplay.

Eine weitere Gruppe, die sich seit 1967 mit neuen Ausdruckmöglichkeiten auseinandersetzte, war das Rundfunk-Jazzensemble STUDIO IV unter Leitung von Ernst-Ludwig Petrowsky mit Joachim Graswurm (tp), Hubert Katzenbeier (tb), Klaus Koch (b), Eberhard Weise (p) und Wolfgang Winkler (dr). Dieses Ensemble besteht bis zum heutigen Tage als sporadisch zusammentreffende Gruppe, die auf der DDR Szene von nur geringer Ausstrahlung und Wirksamkeit war und ist. Ein Konzert vom Dezember 1967 in der Leipziger Kongresshalle brachte das wohl gültigste Tondokument der Gruppe hervor, die in den späteren Jahren meist nur als reine Studio-Besetzung zusammenkam.

Ernst-Ludwigs Petrowskys Affinität zum Neuen Jazz bezog sich damals weniger auf die Musik eines Ornette Coleman oder Cecil Taylors waren vor allem die Aufnahmen des George Russel-Sextetts und von Tony William's Lifetime mit Sam Rivers und Bobby Hutcherson sowie Don Cherrys Symphony for Improvisors, die Petrowskys Herangehen bestimmten. Die Musik des STUDIO IV zeigt ausgeprägten Formwillen und ist weitestgehend konzipiert. Durch die Drei-Bläser-Besetzung entstehen im Laufe der Jahre Arrangier-Stereotype und Klangmuster, die zwar variiert, doch niemals aufgegeben werden. Die Themen sind oft in einer dissonanten moll-Stimmung arrangiert, die Titel enden mit der Themen-Reprise, zu freien Improvisationen kommt es im Duo bis Trio (Bläser mit Bass und Drums), allerdings erfahren diese Strecken selten eine Ausentwicklung nach heutigem Freejazz-Verständnis. Sie bleiben im vorgegebenen Spannungslevel und werden zudem begleitet: von kontrapunktischen oder Unisono-Bläsern, von Background-Riffs, ausarrangierten rhythmischen Patterns und Rubato-Linien. Die Unisonos und dissonanten Blockakkorde werden oft mit Swingstilistik und Jazzsynkopierung gespielt. Die dynamische Entwicklung ist vorgegeben - Crescendi und Decrescendi werden gemeinsam ausgeführt. Ausgeschriebenes Fugato wie auch Unisono-Riffs der Bläser zu freitonaler Spielweise des Klaviers treten auf. Power-Kollektive ergeben sich nicht schlüssig aus dem Spielverlauf, sondern sind als dramaturgische Effekte eingesetzt eine Art "Freejazz auf Handzeichen".

Ernst-Ludwig Petrowsky sagt über diese Zeit, dass die Musik "von einem krampfhaften Wollen zum Freejazz" gekennzeichnet war (1). Es ist jedoch interessant, dass unter dieser Prämisse Einspielungen entstanden, die im Rahmen dieses "Konzept-Freejazz" zu überzeugenden Ergebnissen gelangten und die Anwendung des "Werk"-Begriffs durchaus zulassen. In einer späteren Phase versuchte die Gruppe vorübergehend ein intuitiveres Herangehen, welches aber aufgrund der unterschiedlichen musikalischen Persönlichkeiten und stilistischen Vorlieben bzw. Möglichkeiten der Musiker weniger gelang.

Ein freieres, weniger programmiertes Herangehen erreichte das parallel existierende Petrowsky-Quartett mit Koch und Winkler sowie dem Trompeter Heinz Becker. Die Quartett-Besetzung kam spontanem, improvisatorischem Ausdruck mehr entgegen, auch standen sich die Musiker persönlich und stilistisch näher. Das Petrowsky-Quartett ging ebenfalls von Themen aus und arbeitete bewusst motivisch, die Abläufe waren jedoch schon mehr dem Zufall überlassen und entstanden stärker aus dem Spielverlauf denn aus der Vorgabe. Eine Themen-Reprise ist auch zu dieser Zeit für diese Gruppe noch unverzichtbar.

Wie das STUDIO IV war auch das Petrowsky-Quartett live, in der Öffentlichkeit, nahezu unwirksam. Die Aneignung freier Spielweisen geschah Anfang der 70-er noch nicht kontinuierlich bei Sessions, Konzerten oder Tourneen, sondern im Aufnahmestudio sowie den dazugehörigen Proben und Absprachen.

Zu den zentralen Persönlichkeiten der Entwicklungslinie des Neuen Jazz in der DDR gehört im besonderen Maße der Bariton-Saxophonist und Klarinettist Manfred Schulze. Während sich die Gruppen um Schönfeld und Petrowsky den freien Spielweisen graduell näherten, die Loslösung von der Jazz-Tradition dennoch im Nachvollzug betreibend, brach Manfred Schulze bewusst und konsequent mit einer Jazz-Tradition, die nicht die seine war. Der pauschalisierende und dabei recht dürftige Terminus "Freejazz" trifft auf Schulzes Musik noch weniger zu als auf die anderen bisher besprochenen Spielweisen, soll aber auch in diesem Falle beibehalten werden, da Schulzes Haltung sowie die "Message" und das Ergebnis seiner Musik dem Freejazz näher stehen als jeder anderen musikalischen Richtung.

Schon Mitte der 60er Jahre entwickelte Schulze sein zutiefst europäisches Konzept improvisierter Musik: "Mir geht es um Klangstrukturen und Klangflächen und nicht um Harmonien auflösende Chorusse. Normalerweise wird in der (Jazz) Improvisation das Material des Themas nicht benutzt, sondern es wird über die dem Thema zugrunde liegenden Harmonien improvisiert. Ich strebe an, dass tatsächlich Modelle und Tonreihen variiert werden. Ein bestimmtes musikalisches Material, das in sich strukturiert ist, dient als Grundlage für die Improvisation. Die Veränderung ist den Musikern freigestellt, aber sie müssen die notierten Töne einbeziehen. In der Regel werden in einem Stück mehrere Möglichkeiten angeboten. Der improvisierende Musiker hat also die Freiheit, nicht nur ein Modell zu verändern, sondern er kann selbst zwischen verschiedenen Modellen wählen….Ich habe mich immer gewundert, dass unsere Musik dem Freejazz zugeordnet wurde. Wir spielen nie "frei" im Sinne von voraussetzungslos oder ungebunden, sondern das Umsetzen solcher Modelle erfordert ein hohes Maß von Disziplin von den beteiligten Musikern. Es ist nicht leicht, dafür geeignete Mitspieler zu finden". (3)

Schulzes Konzeption stellte hohe Anforderungen an die Musiker. Es ist heute verständlich, warum es ihm selten gelang, die qualifiziertesten unter den Jazzmusikern für sein Konzept zu gewinnen: sie waren damals, Anfang der 70er Jahre, auf der Suche nach einer eigenen Identität im Jazzidiom und versuchten auf ihrem Gebiet, Grenzen zu durchbrechen. Sie waren deshalb nicht willens und, wie Schulze meint, "nicht fähig"(1), sich der Disziplin des Schulze-Konzepts zu unterwerfen, dessen Ausführungspraxis das Erlernen einer neuen und ungewohnten Improvisationsweise verlangte, die wenig mit dem landläufigen Jazzverständnis gemein hatte.

Der Versuch eines Schulze-Bläserquintetts mit Musikern wie Petrowsky, Katzenbeier und Becker im Jahre 1969 geriet für beide Teile unbefriedigend. Zitat Schulze: "lch spiele vor den Proben eine Aufnahme mit einem Bläserquintett von Schönberg - dann ging es ein bisschen besser". (1) Im gleichen Jahr probte Schulze auch mit einigen seiner damaligen Kollegen der Klaus-Lenz-Band in einem kleinen Berliner Klub, und diese niemals an die Öffentlichkeit gedrungenen Sessions wurden für den beteiligten Ulrich Gumpert zu einem Schlüsselerlebnis. Zitat: "Das Thema war uns unwichtig, es ging um Intensität, kompakte Klänge. Der Sound des Jazz Composers Orchestra hat uns dabei vorgeschwebt". (1) Dass also auch Gumpert das Konzept Schulzes missverstanden hatte, soll nur am Rande erwähnt werden. Jedenfalls sieht Gumpert diese Arbeit mit Schulze "nicht als Episode, sondern als eine erste Erfahrung mit der freien Improvisation". (1)

Schulze arbeitete mit wechselnden Besetzungen kontinuierlich, ja verbissen an seinem Konzept weiter. Es war lange Zeit Schulzes Tragik, dass er seine Musik oftmals mit recht unqualifizierten Musikern spielen musste beeindruckend war dabei jedoch, zu welch qualifizierten Gruppenergebnissen er trotzdem gelangte. Viele junge Musiker - vor und nach der Zeit mit Schulze völlig unbekannt - gelangten unter Schulzes energischer und fordernder Anleitung zu verblüffenden kreativen Leistungen.

Ab 1973 fand Schulze im Pianisten und Komponisten Hermann Keller einen adäquaten Partner, mit dem er bis heute zusammenarbeitet und eine nicht kategorisierbare Synthese von Elementen des Freejazz und der zeitgenössischen Avantgarde geschaffen hat.

Als wichtigste Aufnahme Schulzes in der Jazz-ldiomatik kann das "Choralkonzert für fünf Saxophone" angesehen werden, welches im Januar 1972 mit Schulze, Petrowsky, Schönfeld, Manfred Hering und Konrad Körner bei "Jazz in der Kammer" aufgeführt wurde. Der Rundfunkmitschnitt zeigt eine konzeptionelle Reife und eine Vielfalt der Mittel, die Schulzes Komposition als Vorläufer des heute aktuellen Trends der à-capella-Saxophongruppen ausweist. Die interpretatorische Umsetzung litt leider unter dem Ad-hoc-Charakter der Besetzung, die nur kurz geprobt hatte und dann auch nur insgesamt zwei Mal aufgetreten ist - und damit auf ein generelles Handicap der damaligen Szene hinweist.

Manfred Schulze wurde hier so viel Raum gewidmet, da seine unterrepräsentierte Musik, wenn auch nicht unter Jazz-Prämissen, als erste wirklich eigenständige Improvisationsmusik der DDR-Jazzavantgarde anzusehen ist.

Ulrich Gumpert, zunächst Pianist und Organist im Soulstil, bekam durch die kurzen Freispiel-Erfahrungen mit Schulze seine Initialzündung. Innerhalb der Jazzrockgruppe SOK und deren Kern, dem Gumpert-Quartett, erspielte er sich etwa zwischen 1971 und 1973 ein freies Vokabular, welches zunächst noch durch die "elektrische" Besetzung und rockende Formsprache geprägt war. ln der Besetzung Elektropiano, Elektrogitarre, Bassgitarre und Drums (Günter Sommer war der Schlagzeuger) spielte das Quartett niemals modischen, kommerziell motivierten Rockjazz - das klangliche Ergebnis lässt vergleichsweise eher an die Musik von Soft Machine denken. SOK und vor allem das Quartett spielten Kompositionen, die nach der Themen-Vorstellung zum freien Spiel hin aufgelöst wurden. Der Rhythmus näherte sich der Musik mehr von der jazz-rockigen denn von der rock-jazzigen Seite. Allerdings war, so Gumpert, "noch nicht feststellbar, wer von den Musikern wirklich darauf stand". (1) Aus SOK bzw. dem Quartett sind auf der zeitgenössischen Szene heute nur Günter Sommer und Saxophonist Helmut Forsthoff zu finden. Mitte 1972 stellte Ulrich Gumpert für "Jazz in der Kammer" sein erstes Werkstattorchester zusammen und konzipierte die Folklore-Suite "Aus teutschen Landen", womit "ein Beispiel gegeben war, das einen wesentlichen Meilenstein in der Geschichte des zeitgenössischen Jazz in unserer Republik setzte, für dessen weitere Entwicklung bis heute wichtig wurde, den eigenständigen Charakter unserer Jazzmusik entscheidend mitprägen half". (4)

(Die Aufarbeitung deutscher Folklore durch Jazzmusiker der DDR ist auf Platten dokumentiert und wurde ausreichend beschrieben und rezensiert, so dass hier nicht näher darauf eingegangen werden muss.)

Das Gumpert-Quartett nannte sich ab 1973 "Synopsis" und löste sich im gleichen Jahr aufgrund der immer stärker divergierenden Ansichten der Musiker auf - vorher war jedoch bei einer Session mit Ernst-Ludwig Petrowsky eine Privataufnahme entstanden, die den Organisatoren des Warschauer Jazz Jamboree übergeben worden war. Dieser überzeugende (Jazzrock-) Mitschnitt löste eine Einladung von Synopsis nach Warschau aus - einer Band, die gar nicht mehr existierte. Speziell für diesen Festivalauftritt stellte sich nun eine Besetzung zusammen, die beim Warschauer Jazz Jamboree im Oktober 1973 unter dem Namen "Synopsis" ihre personelle und musikalische Premiere hatte: Ulrich Gumpert, Günter Sommer, Conrad Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky. Der spektakuläre, äußerst erfolgreiche Auftritt bei diesem Festival mit völlig frei improvisierter, akustischer Musik markierte einen ersten internationalen Höhepunkt für den Freejazz der DDR, zu dem es jedoch nicht zufällig gekommen war. Er war das erste auch äußerlich sichtbare Zeichen für eine neue Etappe, die auf einschneidenden qualitativen und quantitativen Veränderungen beruhte.

Die Zeit von Ende 1972 bis 1973 kann als die entscheidende Umbruchphase der Entwicklung des Freejazz in der DDR angesehen werden. In dieser Zeit war die Nachtbar "Melodie" im Berliner Friedrichstadt-Palast zum wesentlichen Live-Labor für die Entwicklung der improvisierten Musik geworden. An jedem Montagabend, dem eigentlichen Schließtag der Bar, gab es dort öffentliche Sessions, die den definitiven Beginn konsequent freier Spontanimprovisation bedeuteten.

Die zum freien Spiel hinführende Entwicklungsphase schlug um in einen kathartischen Prozess, der zu einer relativ kurzen, aber notwendigerweise aufarbeitenden Nachhole- "Kaputtspielphase" führte. (Die beiden FMP-Veröffentlichungen "Just For Fun" (FMP 0140) und "The Old Song" (FMP 0170) entstanden in jener Zeit, in der vom Autor initiierten Aufnahme- und Sendereihe "Aus der Jazzwerkstatt des Berliner Rundfunks" und können als Dokumentierung dieser wichtigen Phase angesehen werden.) Wie kurz diese Phase war, lässt sich anhand der ein knappes Jahr später entstandenen Aufnahmen zur LP "Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil" (FMP 0240) feststellen, die "mehr zu offenen Strukturen, bisweilen sogar zu einer gewissen Re-lnstallierung melodischer Ausgeglichenheit und motivischer Arbeit….tendiert". (5)

Zwar nicht als Ursache und Auslöser dieser Kaputtspielphase, aber doch als essentieller Katalysator in diesem Prozess in die damals einsetzenden Begegnungen und gemeinsamen Spiel Erfahrungen mit wesentlichen Vertretern der westeuropäischen Avantgarde anzusehen: mit Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Paul Rutherford, Peter Brötzmann, Günter Christmann, Detlev Schönenberg, Irène Schweizer, Paul Lovens oder Rüdiger Carl. Auf Anregung von Jost Gebers kamen diese und andere Musiker als Tagestouristen aus Westberlin, mit oder ohne Instrument, und stiegen bei den Sessions in der "Melodie" ein.

Günter Sommer: "Die Frage, was ich eigentlich wirklich will, trat an mich heran, als es zu den ersten gemeinsamen Spiel Erfahrungen mit diesen Musikern kam. In dieser Zeit habe ich eine Haltung zur Musik kennen gelernt und gespürt, die ich vorher überhaupt nicht kannte. Und da passierte es plötzlich, dass ich mir selbst einige Fragen stellte". (2)

Sommers Selbstbefragung führte über den Selbstzweifel nicht unmittelbar zur Selbstbefreiung. Es kam bei ihm für einige Zeit zu einer neuen "imitatorischen" Phase. Nicht mehr die Amerikaner, sondern: "Han Bennink. Das war für mich ein ganz eigenartiges Kapitel. Einerseits aus der Vergangenheit den Blakey im Nacken - und da kam plötzlich dieser Bennink, den ich noch nie live gesehen hatte. Der hatte mir den ganzen Boden, den es für mich noch zu bearbeiten gab, einfach weggenommen. Der bot mir plötzlich die fertigen Lösungen an, nach denen ich eigentlich suchte….Das war für mich schwierig. Das war eine schlimme Zeit. Ich bin dem Bennink erst mal voll in die Arme gelaufen und musste dann versuchen, rechts oder links an ihm vorbeizukommen". (2)

Günter Sommer, der diese Phase seit langem überwunden hat, spricht heute offen über jenen "Kaninchen-vor-der-Schlange-Effekt" - allerdings war er nicht der einzige Musiker, der vorübergehend der Faszination durch die neuen internationalen Spielpartner erlegen war. Aber es ist interessant, in welch kurzem Zeitabschnitt DDR-Musiker die von ihren internationalen Kollegen in einem viel ausgedehnteren Prozess gemachten Freejazz Erfahrungen absorbierten und eigenständig weiterverarbeiteten.

Diese musikalische Entwicklung löste ab 1973 auch einen Prozess aus, der für die qualitative Entwicklung des DDR-Jazz wesentlich wurde, ja, eigentlich sogar erst die Voraussetzungen für eine ungebrochene Weiterführung der neuen musikalischen Erfahrungen bot: die Professionalisierung. Vorher hatte es noch keinen Musiker gegeben, der sich hauptberuflich und ausschließlich mit Jazz beschäftigte (wenn man von der "Geschichtsdelle" Kühn-Trio absieht). War es einem Jazzmusiker vor der Freejazz-Zeit durchaus noch möglich, seine Ambitionen auch innerhalb der im weitesten Sinne "Tanzmusik"-Konzeption seiner jeweiligen Gruppe nachzugehen, setzte der Freejazz vor allem durch die konsequente Abkehr vom durchlaufenden (und somit "tanzbaren") Metrum dieser Praxis ein Ende. Die dadurch zunächst vorherrschende "Amateur"-Jazztätigkeit von berufliche in anderen, meist tanzmusikalischen Genres tätigen Musikern stand einer Qualitätssteigerung des Jazz in der DDR lange im Wege. Die Gründung von kontinuierlich probenden und auftretenden Ensembles war nicht möglich, da die Terminplanungen von beruflich in unterschiedlichen Gruppen tätigen Musikern nur schwer abzustimmen waren. Aufgrund der noch schwach entwickelten Jazzszene kam es nicht zu regelmäßigen und ausgedehnteren Tourneen Jazzkonzerte sporadisch auftretender Musiker beschränkten sich darum früher meist auf Einzelgastspiele und wiesen ein starkes Qualitätsgefälle auf.

Der erste Musiker, der sich 1973 in der DDR zum vollprofessionellen Jazzspielen entschloss, war eigentlich der "jüngste" Newcomer der zeitgenössischen Szene - Conrad: Bauer. Als Posaunist einer Berliner Soul-Band war er erst 1971 zum Freejazz gestoßen, als er parallel Mitglied der Berliner Amateurband EXIS wurde, die für ihn "vom heutigen musikalischen Standpunkt nicht mehr von großer Bedeutung ist….Sie spielten urwüchsig drauflos und machten - ich weiß nicht, inwieweit es Jazz war - eine improvisierte Musik, die mir gefiel und an der ich mich beteiligte". Auch wurde dort "nicht nur free-orientierte Musik gemacht, sondern auch viel über Musik nachgedacht. Wir diskutierten häufig über die Empfindungen, die wir beim Spielen und Hören von Musik hatten". (3)

Conrad Bauer gehörte zu den aktivsten Mitgestaltern der Umbruchphase des DDR-Jazz - und er wurde zum ersten konsequenten Nur-Jazzer: "Für mich war der Moment wichtig, als ich….versuchte, ausschließlich Jazz zu spielen. Ich hatte damals eine zufällige Begegnung mit dem britischen Posaunisten Paul Rutherford. Wir spielten gemeinsam und kamen anschließend ins Gespräch. Ich erzählte ihm, dass ich Popmusik machen würde, weil man vom Jazz allein nicht leben könne. Daraufhin erzählte er mir von den Schwierigkeiten in Großbritannien…..Trotzdem würden sie am Jazz festhalten und nur Jazz spielen. Das hat mich so beeindruckt, dass ich mich ziemlich Hals über Kopf entschlossen habe, das auch zu probieren. Und das hat sich dann eigenartigerweise als sehr gut für mich erwiesen". (3)

Nicht nur für Conrad Bauer sondern für eine seit damals ständig zunehmende Zahl von Musikern hat sich diese Entscheidung bewährt - das wird durch die eigenständigen musikalischen Ergebnisse, aber auch durch die internationale Präsenz und den Stellenwert der zeitgenössischen DDR-Jazzmusiker deutlich. Die auf den gemeinsamen musikalischen Traditionen der europäischen Jazz-Avantgarde basierende geistige Verwandtschaft führte zu Ergebnissen, welche die DDR-Jazzmusiker zu einem originalen, selbstbewussten und unverzichtbaren Teil der internationalen zeitgenössischen Szene machten.

Hätte sich die improvisierte Musik in der DDR auch in eine andere Richtung entwickeln können, wenn damals nicht die oben genannten, sondern ganz andere Musiker gekommen wären? Ich glaube es nicht, denn eine differente Entwicklung wäre nicht schlüssig, und Ulrich Gumpert sagt treffend: "Es ist folgerichtig, dass gerade die gekommen sind - andere wären nicht gekommen". (1)


Quellen

  1. Gespräch mit dem Autor in Vorbereitung dieser Arbeit, Mai/Juni 1980
  2. Interview mit dem Autor, April 1980, erschienen im JAZZ FORUM Nr. 67
  3. Interview mit Bert Noglik/H.-J. Lindner, erschienen 1978 in "Jazz im Gespräch",
    Verlag Neue Musik, Berlin
  4. Martin Linzer im Covertext der Amiga-LP "Retrospektive"
  5. Ekkehard Jost in der Dokumentation zur FMP-Schallplattenkassette "For Example", S. 63

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