1984 TMM / "Quartier Latin"

Ellen Brandt (1984)

The Piano Project

Total Music Meeting ‘84

Dank Jost Gebers ist es der Free Music Production (FMP) auch in diesem Jahr gelungen, parallel zum JazzFest Berlin das Total Music Meeting zu veranstalten. Eine ganz und gar außergewöhnliche Idee wurde realisiert. „The piano project“, Piano pur und satt! Drei Abende lang spielten in jeweils sechsstündigen Non-stop-Konzerten die folgenden sechzehn Pianisten aus elf Ländern: Bernhard Arndt, D; Curtis Clark, USA; Marilyn Crispell, USA; Bobby Few, USA; Ulrich Gumpert, DDR; Guus Janssen, NL; Misha Mengelberg, NL; Sakis Papadimitriou, GR; Howard Riley, GB; Alexander von Schlippenbach, D; Aki Takase, J; Fred Van Hove, B; Urs Voerkel, CH; Patrick Vollat, F; Per-Hendrik Wallin, S. Drei Flügel standen auf der Bühne des ”Quartier Latin”, an denen die Pianisten mal als Solisten, mal im Duo und im Trio musizierten, im meist eingehaltenen, halbstündigen Wechsel. Die Pianisten ließen sich die Größe der Gruppe durch die Anzahl der vorhandenen Flügel vorgeben, jedoch an zwei Abenden beteiligten sich fast alle Pianisten im Rotationsverfahren an einem gemeinsamen Stück, wobei zwei Flügel von vier Händen bespielt wurden und an einem Flügel ein Solist nachrückte. Es ist fast unmöglich, hier das Spiel aller sechzehn Pianisten einzeln und in den verschiedenen Konstellationen angemessen zu besprechen, u.a. weil es eine Überforderung ist, abendlich fünf bis sechs Stunden ununterbrochen anwesend zu sein, geschweige denn gleichmäßig konzentriert zu lauschen. Andererseits liefe es den Absichten des Projekts zuwider, die verschiedenen Musiker nach Stilrichtung und Spielweise katalogisieren zu wollen und sie solchermaßen unter einen Hut gezwängt abzuhandeln. Ein wesentlicher Reiz des Piano-Projekts war ja gerade, die Vielfalt in der Einheit zu entdecken, und zu hören, wie ganz verschiedene Musiker an ein und demselben Instrument völlig andere Musik machen, und jeder Spieler dasselbe Instrument anders zum Klingen bringt, und zu beobachten, wie sich die Musiker im Duo oder im Trio aneinander reiben, sich widersprechen oder sich ergänzen und sich inspirieren.

Bei aller Variationsfülle ist eine Tendenz klar zum Ausdruck gekommen: die Entwicklung zur strukturierten Improvisation, die Rückbesinnung auf musikalische Traditionen und deren spielerische Verarbeitung, das ausbalancierte Verhältnis von Destruktion alter und Konstruktion neuer musikalischer Inhalte. Aufgrund des bewussten Formwillens war der Zuhörer der Musik nicht einfach nur passiv ausgesetzt, sondern er konnte den Aufbau der Improvisationen erkennen und nachvollziehen, sich also aktiv am Geschehen beteiligen.

Das gängige Vorurteil, improvisierte Musik verlaufe sich zwangsläufig in anarchischer Beliebigkeit, wurde einmal mehr widerlegt, und auch mit dem Klischee, Free Jazz sei vor allem laut und undifferenziert, wurde gründlich aufgeräumt.

Eine überzeugende Darbietung einer Strukturierung musikalischer Entwicklung im freien Spiel brachte Bobby Few. Aus seinen perlenden Clustern, gespielt mit einer faszinierenden Technik (er reißt die Saiten mit dem Fingernagel oder Fingerknöchel wie bei einer Harfe an), zauberte er ein „China“-Motiv, das zum Ausgang einer musikalischen Weltreise wurde, bei der es von Shanghai nach Chicago nur ein Katzensprung war. Fews Spiel pendelte zwischen deutlich heraus hörbaren Verarbeitungen von Themen aus dem Blues, dem lustvoll-wollüstigen Zerspielen eines Sinatra-Songs, dem unkommentierten Zitieren bis hin zur subtilen Andeutung und vagen An-Spielung. Curtis Clark, ein auch in seinen Soli überaus zurückhaltender Pianist, der nach tastenden Überlegungen sehr zarte, fast melancholische Improvisationen hervorbrachte, hielt sich im Duo mit Bobby Few im Hintergrund und diente ihm als inspirierender Stichwortgeber. So hörbar bedacht wie Clark ging nur noch Ulrich Gumpert an die Tasten. Bedächtige Stille machte er zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Ton-Setzungen; seine Pausen sind nicht weiße Flecken der Phantasie, sondern sie geben Zeit zum Nachhall der Akkorde im Ohr.

Guus Janssen ging es u.a. um die Verarbeitung der Klassiker, sowohl der E- als auch der U-Musik. Er verzerrte Zitate bis zur Auflösung ins Diffuse oder mündete nach exzessiv freiem Spiel am Schluss bei einem Zitat aus einer Sonate. Im Unterschied zu Bobby Few basierten seine Verfremdungen bekannter musikalischer Inhalte meist auf der von ihm genial beherrschten Kunst, „falsche“ Noten einzustreuen. Bei Janssen wurden die falschen Noten durch die Fremdheit in ihrer harmonischen Umgebung schrill betont (ein Vorgehen, das mit dem des Verpackungskünstlers Christo vergleichbar ist, der durch das Verpacken der Objekte diese gerade sichtbar macht) und bewusst als Dissonanzen stehengelassen. Bei Alexander von Schlippenbach dagegen wurden die Dissonanzen so in die Läufe eingebettet, dass sie fast darin verschwanden. Auch seine atonalen Akkordballungen ordnet er so an, als wolle er die Dissonanzen überhaupt erst schmackhaft machen. Schlippenbach begann seinen Vortrag extrem statisch mit minimalen Akkordvariationen und ging dann abrupt zu turbulenter Dynamik über. Auch bei äußerster Raserei auf den Tasten behielt er den Überblick des vorausdenkenden Konstrukteurs. Im Duo mit Bernhard Arndt kontrastierten seine ausufernden Klangkaskaden reizvoll mit den kleinen Ton-Figurationen, die Arndt mit viel Schwung und zugleich sehr bedacht ausformte. Im Trio mit Howard Riley wurde die Klangschichtung an die Grenze einer fast undurchhörbaren Dichte getrieben. Rileys Durchführung seiner a-thematischen musikalischen Ideen wirkte durchweg sehr kompakt. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch Marilyn Crispells ebenfalls extrem dichtes, kunstvoll hermetisches Spiel. Der introvertierte, zur Konzertanz neigende Stil beider Pianisten wurde im Trio mit Irène Schweizer aufgebrochen durch ihr rhythmisches Stampfen auf den Bühnenboden, durch Schaben auf den Flügelsaiten, durch Präparierung der Saiten mit Glocken und anderen Gegenständen, durch rhythmisches Zuschlagen des Pianodeckels. Diese Elemente der Klangproduktion, mit denen sich Irène Schweizer bewusst über die konzertanten Funktionen des Instrumentes hinwegsetzt, sind konstruktiver Teil ihres Spiels, dessen hervorragendste Eigenart die perkussive Spielweise ist.

Sakis Papadimitriou benutzt die Flügelsaiten mit größter Selbstverständlichkeit als eigenes gleichberechtigtes und vollwertiges Instrument. Im Duo mit Urs Voerkel ignorierten beide Musiker die Tasten des Flügels total und musizierten ausschließlich im Inneren der Instrumente. Patrick Vollat benutzte sowohl die Tasten als auch die Saiten. Es verblüfft, dass er die entrücktesten und ver-rücktesten Klangkumulationen gerade nicht durch das Anreißen der Saiten oder deren Präparierungen zauberte, sondern durch ausgeklügelte Akkord-Kombination. Seine Akkordballungen wechseln mit exzessivem Clusterspiel, das Vollat nie aus der Kontrolle gerät und dessen Strukturierung er offen legte. Aki Takase beschränkte sich auf die Tastatur des Flügels. Als Strukturprinzipien benutzte sie provokante Brüchigkeit und manische Motivwiederholung, aber auch durch ihre fließend gespielte Bearbeitung eines Parker-Themas konnte sie überzeugen.

Bei den drei Pianisten aus den Benelux-Ländern, Fred Van Hove, Janssen und Misha Mengelberg, ist die virtuose Beherrschung des Instruments selbstverständliche Voraussetzung für den spielerisch-leichten, ja sogar humoristischen Umgang mit dieser Virtuosität selbst und dem musikalischen Material. Die drei individuellen Künstler verwirklichen ihre musikalischen Ideen scheinbar unabhängig voneinander. Trotzdem war es dem Zuhörer möglich, Beziehungen untereinander in Richtung auf ein gemeinsames Musizieren zu konstituieren. Die Pianisten zogen sämtliche Register ihres Könnens und ihrer Ausdrucksvielfalt von atemberaubenden Akkordfolgen, jagenden Clustern, perkussivem Spiel, Einbeziehung des gesamten Instruments einschließlich des Holzrahmens. Zauberhaft wie die drei in ihrem anspielungsreichen Spiel plötzlich offen legten, was lange latent „angerichtet“ war.

In seinen Soli begeisterte Mengelberg mit seinen witzigen Zergliederungen und Umstrukturierungen historischer Jazz-Themen und seinen pointenreichen Zitat-Collagen. Selbst bei Bearbeitung der Tasten mit der ganzen Faust gelingen ihm immer wieder nicht nur enorm prononcierte, sondern auch höchst differenzierte musikalische Aussagen mit faszinierender Leichtigkeit. Gleichwohl stellt Mengelberg seine technische Perfektion und seinen inhaltlichen Konstruktivismus permanent in Frage. Als ihm die Asche seiner Zigarette auf die Hose fiel. unterbrach er seinen Spielfluss, um die Asche abzuschütteln. Derartige Gesten gab es mehrmals, und sie können programmatisch als Signal verstanden werden, dass sich letztlich die Musik dem Musiker unterzuordnen hat und der Musiker sich nicht zum Sklaven seiner eigenen Perfektion macht.

Zu einer subtilen und lustvollen Interaktion kam es im Duo mit Per-Hendrik Wallin, der eine gehörige Portion Selbstironie innerhalb seiner musikalischen Inhalte auszudrücken vermag. Gekonnt spielte er mit der einen Hand einen Gershwin-Song und völlig unabhängig davon mit der anderen Hand einen Blues. Seine etüdenhaften Improvisationen trug er nie ungebrochen vor und hielt sein Verhältnis zum musikalischen Erbe spielerisch in der Schwebe. Mengelberg verarbeitete das ihm zugespielte durch Wallin bereits einmal ironisch gebrochene Material respektlos zu einer musikalischen Satire.

Mengelberg beendete sein eigenes Spiel und zugleich das gesamte „Total Music Meeting ’84“ mit einem netten Liedchen; und wieder blieb offen, ob es sich um ein undogmatisches Bekenntnis (auch!) zu ungebrochener Harmonie auf einem Meeting totaler Musik handelte.

aus: Jazz Podium # 1, Januar 1985

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