1995 TMM / "Podewil"

Roland HH Biswurm (1995)

Berlin

In einer Kölner Tiefgarage hatte es vor 28 Jahren angefangen. Kowald und Brötzmann waren die treibenden Kräfte im Untergrund. Brötzmann, der ältere, hatte dem situierten Publikum den Marsch geblasen, in der schwangeren Auster zu Berlin: dort war nämlich am 5.11. fast gleichzeitig mit dem Total Music Meeting das 31.JazzFest Berlin unter künstlerischer Leitung des Posaunisten Albert Mangelsdorff zu Ende gegangen. Im Vorfeld gab es viele skeptische Stimmen: Mangelsdorff hatte gleich am zweiten Tag selbst gespielt und sich der Kungelei verdächtig gemacht: Wenn sich dieser Vorwurf auch niemals vollends entkräften lässt, mit dem Peter Brötzmann Quartett zum Schluss (die Carla Bley Big Band ändert da nix) hätte die Kungelei, so es eine wäre, eine liebenswürdige Pointe: Mangelsdorff und Brötzmann sind alte FMP-Kollegen und haben viel dazu beigetragen, dass das Total MusicMeeting so genannt zu werden verdient hat.

Nun also Free Jazz im Haus der Kulturen der Welt: komponierte Improvisationen – Comprovisations – geleitete, dirigierte Exkurse ins Reich der Freiheit eines Lawrence „Butch“ Morris im Podewil. Schon das ganze Drumherum hat dort Konzertatmosphäre, hier Werkstattcharakter. Dann die Bärte – den Terminus Wiglaf Drostes möchte ich ja überhaupt nicht bemühen, aber auch dies eine Aussage. „Butch“ Morris also dirigiert, leitet ein 17köpfiges Ensemble, das der Bassklarinettist Wolfgang Fuchs zusammengestellt hat. Morris’ Vorgabe war allein die Instrumentierung: von jedem ein Exemplar, bis auf zwei Schlagwerker, keine Schlagzeuger. Dies: Michael Griener und Stephan Mathieu. Zudem Albrecht Riermeier (vib), Olaf Rupp (guit) , Bernhard Arndt (p), Tatjana Schütz (harp), Elisabeth Böhm-Christl (fagott), Johanne Braun (oboe), Kirsten Reese (fl) Davide de Bernardi (b), Nicholas Bussmann (cello), Dietrich Petzold (viol, viola), Aleks Kolkowski (viol), Marc Boukouya (tb), Gregor Hotz (ss, as), und Axel Dörner (tp). Im Vorfeld war eine Woche geprobt worden, was bedeutet: die TeilnehmerInnen machten sich mit dem Dirigiersystem des Butch Morris vertraut. Morris arbeitet mit einem Vorrat an Gesten und Zeichen, die weit über das herkömmliche Dirigat hinausweisen: Dirigieren heißt nicht nur führen, sondern auch anleiten, gestalten, schaffen: Butch Morris ist ein Klangschöpfer.

Wir treffen uns am Morgen des zweiten Werkstattages, als der Winter über Deutschland hereinbricht, just in dem Augenblick, als an zwei unterschiedlichen Plätzen von unterschiedlichen Standorten aus unterschiedliche Fragen gestellt werden, die dort münden, wo Menschen sich aufmachen, Rätsel zu lösen: in Musik. „…es gibt keine Rätsel“, sagt Morris, „es gibt Fragen und Antworten, das ist ganz einfach…“ Da ist zum einen die Frage: Können 17 zusammen gewürfelte Individuen, die sich ImprovisiererInnen nennen, überhaupt miteinander musizieren, und wenn nicht miteinander, so doch wenigstens gegeneinander? „..er ermutigt uns, unsere verschiedensten Backgrounds mit in die Musik einzubringen, er ist lediglich ein musikalischer Ordnungsfaktor – es ist wie auf-Bande-spielen beim Billard: alles geht über ihn…“, sagt der Trommler rechter Hand, Michael Griener. An fünf Abenden sollen zuerst so genannte ad-hoc-Formationen Interaktion oder Kommunikation ausloten, um sich dann im zweiten Teil des Abends der Führung durch Butch Morris anheim zu geben. Der erste Teil soll also dem Gedanken von Selbstregulierung und –organisation gerecht werden, soll Demokratie probieren, vielleicht. Der zweite Teil steht unter dem Zeichen des Autokraten Morris, ist gleichsam eine Inszenierung des Puppenspielers aus Los Angeles.

Morris reist um die Welt und dirigiert – gefördert in Berlin vom Deutschen Akademischen Austauschdienst – improvisierende MusikerInnen gleich welcher Couleur. „…das, was ich hier mache, klingt natürlich völlig anders als in Italien oder den Staaten, hier klingt es selbstverständlich deutsch. Es macht schließlich keinen Sinn, nach Deutschland zu kommen mit einem Haufen geschriebenen Materials, das Musik enthält, wie sie von amerikanischen Musikern gespielt werden könnte, so was gibt’s doch gar nicht…“ und: „…es ist eine Sache der Chemie. Ich habe einen bestimmten Sound im Kopf, danach suche ich mir die Instrumente aus – ich kenne ja keinen der Beteiligten, aber wenn die Chemie stimmt, stimmt auch die Musik, ja es ist letztlich eine physikalische Sache,…“ Mit dem scharfen Spürsinn eines Psychologen lotet Morris die Psychochemie des Ensembles aus. Er verlangt absolute Aufmerksamkeit. „…seht ihr meine Augen? Ihr müsst immer auf meine Augen achten, dann auf die Hände und ihr wisst, was ich von euch will...“ „…er formt und bearbeitet das Material, was wir ihm anbieten. Je mehr wir ihm anbieten, desto besser kann er damit arbeiten“, führt Griener weiter aus, „…und es gibt eben Leute im Ensemble, die haben ein großes Repertoire an Angeboten, und es gibt Leute, die bieten weniger an, und so kann auch schon mal ein Gefälle entstehen…“ Griener ist Jazzschlagzeuger. Andere Teilnehmer kommen mit einer Rockmusikvergangenheit oder einem Konservatoriumsabschluss in so genannter klassisch-europäischer Kunstmusik. E und U haben auch hier Kompatibilitätsprobleme. So funktionieren die ad-hoc-Formationen nur wenig zufrieden stellend, weil entweder die Einen mit den Andern nicht können, oder sich ohnehin nur diejenigen zusammentun, die sich irgendwoher bereits kennen, weil man sich über ähnliche Backgrounds verständigen konnte. Demokratie scheint nicht so recht zu funktionieren. Erst Morris ordnet per Dekret, lässt mit kleinen, kreisförmigen Bewegungen seines Zauberstabs einen impressionistischen Grundklang entstehen, einen magischen Teppich, auf dem jeweils von Morris fokussierte Instrumentengruppen reiten sollen. Da entwickelt sich Struktur, mitunter sogar Kommunikation, vor allem jedoch Klang; Morris formt aus einer heterogenen Masse ein homogenes Ganzes, das, ohne seine Diversa zu verleugnen, wie ein Ursud brodelt. Ostinat grundieren oxygene Luftballone in hauptstadtschwarzer Nacht, dann hört plötzlich die Harfe auf: das Netz scheint gerissen; doppelte Böden tun sich nicht auf – das Cello arpeggiert paralytisch, Trommeln trommeln – noch ist Disziplin nicht fokussiert – Sarastro kommt nicht – noch nicht.

Diese Werkstatt für improvisierte Musik ist einmal mehr eine Unterweisung in Leben, die Möglichkeit für 17 Individuen, in den schöpferischen Kosmos eines zeitgenössischen Afroamerikaners einzudringen…Meist sind die Bewegungen des Taktstocks organisch und rund: Morris macht Kreise, Wellen – der Korpus geht mit. Die Oboe sei zu mimetisch, hört man an den Tischen im Café danach, die Schlagwerker zu dominant, das Cello sei wohl des Dirigenten liebstes Stück. Es wird debattiert und in Grüppchen zusammengehockt – Kommunikation findet – bedingt – statt. Morris ist noch nicht zufrieden – zuviel Ego ist ihm da noch im Spiel, so es denn eins wäre: Ihr habt noch nicht begriffen, dass es hier überhaupt nicht darauf ankommt, ein großartiges Solo abzuliefern, sagt er während einer Probe, “...jedes Instrument hat einen Bereich, in dem es ganz zur Geltung kommen kann. Macht euch also keine Sorgen, ich gebe jedem seine Möglichkeiten, wenn ihr mir entsprechendes Material anbietet…“ Morris agiert wie ein Marionettenspieler, er tänzelt und ist sichtlich bewegt: „…Yeah, I like Rock’n’Roll, and R&B, that’s what I come from…“

Lässt sich eine Bilanz ziehen aus fünf Tagen Psychotraining in Kommunikation? Ich glaube nicht. Vielleicht ließe sich eine Topographie des Scheiterns oder, je – Gelingens erstellen – aber das hieße: detailgenau Buch führen über psychochemische Verläufe - hat das noch mit Kunst, mit Musik zu tun? „Music is life, wherever you are; it’s an example for life…“ sagt mir Morris beim Frühstück, zwischen den Klängen des Orchesters. Beim 31. Berliner JazzFest hatte Albert Mangelsdorff tabula rasa gemacht: den Populismus eines Herbolzheimer oder Doldinger gegen die radikalen Befreiungspredigten eines Peter Brötzmann gestellt – Free Jazz als doppelter Imperativ einmal mehr zur Disposition: “…eigentlich sind wir total frei in dem, was wir machen”, führt der Schlagwerker des Berlin-Skyscraper Michael Griener aus, „ …aber dadurch, dass du immer nur auf ihn schauen musst, dich total auf ihn konzentrieren und damit einlassen musst, bist du natürlich völlig unterworfen, also auf eine Art auch unfrei, aber was heißt bei dieser Musik schon Freiheit?...“ Jost Gebers, der gute Geist, hat natürlich den gesamten Prozess dokumentiert, mitgeschnitten. Auf FMP wird später dann eine Platte erscheinen, von der es dann heißen wird: „...oh, und das alles ist improvisierte Musik?...“

Aber davon reden wir ein andermal.

aus: Jazzthetik # 12/1, Dezember/Januar 1995/96

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