Steve Lake - Ein Wochenende in Berlin. Wer die Wahl hat...
Ellen Brandt - Unterwegs in Klangwelten
Ulrich Stock - Soli, Duette, Duelle
Hans-Jürgen Linke - Frau mit Kontrabass
Reiner Kobe - Virtuosität und Konzentration
Carsten Jensen - Kratzen, schaben, tröten: Hymnen auf die Anarchie
Konrad Heidkamp - Bunte Abende

Steve Lake
Ein Wochenende in Berlin
Wer die Wahl hat...
Geplant war es so: ins Auto steigen, nach Berlin fahren, ein paar Jazz-Festivals mitnehmen. Die Rummelplatz-Atmosphäre der Berliner Jazztage und die etwas herbere Realität des Total Music Meetings, in grauer Vorzeit einmal unter der Bezeichnung „Anti-Festival“ bekannt. Ganz einfach, eigentlich.
In Berlin angekommen, bot mir das Programm der Jazztage Anlass, den Begriff „Anti“ zu reaktivieren – wenn auch in etwas anderem Sinne. Je mehr ich über die Philharmonie, das Festival-Publikum und die merkwürdige Zusammenstellung der einzelnen Konzerte (möglicherweise vom Veranstalter ausgewürfelt?) nachdachte, desto schwerer fiel es mir, tatsächlich irgendwo hinzugehen. Laurie Anderson zum Beispiel – durchaus interessant, aber deswegen auch John Zorn ertragen – nein danke! (Zorns Band Naked City mit Joey Baron am Schlagzeug spielt zweitklassige Filmmusik von unerträglicher Aufgeblasenheit. Motto: Wie geistreich wir sind, wie witzig, wie...). Es gelang mir auch nicht irgendwelche Gemeinsamkeiten zwischen Horace Tapscott und Jon Hassell zu finden. Den Cajun-Fiddler Michel Doucet hätte ich gerne gehört, weil ich seine frühen Arhoolie-Aufnahmen mit der Band Beausoleil immer gemocht habe, aber nicht einmal das ging, weil am selben Abend Evan Parker und Louis Moholo im Quartier Latin spielten und alte Freundschaft schließlich verpflichtet.
Um der Pflicht Genüge zu tun, entschloss ich mich, die Philharmonie zumindest anlässlich des Abschlusskonzertes aufzusuchen.
Ansonsten: nichts als Total Music Meeting.
Peter Brötzmann wird immer besser.
„Manchmal glaube ich, es gibt überhaupt nur zwei Saxophonisten in Europa, Mann“. Original Ton Louis Moholo. Louis, südafrikanischer Free Jazz Drummer vom Stamme der Xhosa. „Evan Parker und Peter Brötzmann, Mann. Sie sind die Besten. Sie haben die Kraft.“ Glaubt mir, Louis weiß, wovon der spricht.
Wenn Peter Brötzmann in Form ist, gibt es kaum einen Saxophonisten, der ihm das Wasser reichen kann, egal auf welchem Kontinent. Heute Nacht liefert er einen weiteren Beweis dafür. Gestern hat er in Wuppertal ‚gespielt’ (ein viel zu zahmer Begriff, für das, was Brötzmann macht) zusammen mit Shannon Jacksons Decoding Society, und nur ein hyper-aufmerksamer Bläser schafft es, in Shannons Schlagzeug-Gewitter nicht rettungslos unterzugehen. Nach dem Naturereignis Shannon Jackson ist die raffinierte „Art Music“ von Günter ‚Baby’ Sommer für Brötzmann eine leichte Sache. Er hat alles unter Kontrolle, formt, kanalisiert, konzentriert die Musik. Sommer und das begeisterte Publikum im Quartier Latin toben hinterher.
Sommer ist ein guter Schlagzeuger, so gut, dass man ihm auch das kokette ‚Baby’ in seinem Namen vergibt. Er hat gute Einfälle. Eine seiner besten Ideen in letzter Zeit war es, die Pauke zum Mittelpunkt seines Sets zu machen. Eigentlich erstaunlich, dass dieses Instrument in der freien Musik nicht häufiger eingesetzt wird. Sommer gibt es die Möglichkeit der Melodie, er verwendet das Orchesterinstrument wie eine afrikanische Talking Drum, beginnt einen wilden Dialog mit Brötzmanns tobendem Taragato. ‚Dialog’ ist eigentlich nicht ganz richtig, denn Brötzmanns eindeutige Dominanz macht die Kommunikation etwas einseitig. Aber das ist eben seine Art zu spielen: weiter, immer weiter, bis an die Grenzen der Vernunft und darüber hinaus. Sommer, der kein ‚brutaler’ Spieler ist, macht aus der Not eine Tugend und liefert eine Art ständigen Kommentar: „Wo du hingehst, will auch ich hingehn“ scheint er mit glupschäugiger Komik zu sagen. Aber es gibt nichts, was er gegen Brötzmanns unablässig heranrollende Soli tun kann. Jedenfalls nicht mit dem Schlagzeug. (Als er jedoch die Schalmei hervorholt und die dazu passenden Arbeiter-Hymnen anstimmt, fühlt Brötzmann sich aus moralisch/politischen Gründen zu einer Pause verpflichtet...). Aber selbst in höchster Ekstase hört Brötzmann immer noch zu. Sein Horn hakt sich in Sommers rhythmischem Gewebe fest, nimmt Obertöne der Becken, rhythmische Fragmente auf - und alles wird im allgemeinen Getöse untergebracht. Ein sensibler Musiker, trotz allem.
Warum Barre Phillips anders ist
In einem zweiten, spontan arrangierten Set wird durch Barre Phillips aus dem Duo ein Trio. Es gibt ein paar Bassisten, die wegen ihres unorthodoxen Spiels mehr oder weniger aus der Jazz-Geschichte verbannt wurden. Sie spielen den Bass weder wie eine Gitarre (So wie Scott LaFaro zum Beispiel), noch beschränken sie sich auf gemütvolles Brummen à la Charlie Haden. Eigentlich hat Barre keinen ‚Stil’ im üblichen Sinne, er befindet sich bereits einen Schritt weiter, weil ihn ein bestimmter Stil nur in seiner Virtuosität hemmen würde. Wenn man Solokonzerte mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein gegeben hat, wenn man rhythmischer Kontrapunkt zu Archie Shepps kreischendem Saxophon war oder gleichberechtigtes Mitglied von The Trio, der heute so schmerzlich vermissten Band aus den frühen Siebzigern, kann man durch herkömmliche ‚Stil’-Definitionen nicht mehr festgelegt werden. Was Barre Phillips macht, wird in keiner Weise dadurch eingeschränkt, dass er ‚nur’ Bass spielt. Er spielt Ideen, spielt Sound, und ‚Technik’ setzt er dort ein, wo es ihm angebracht erscheint. Er kann alles spielen, aber weil es keine Trennung gibt zwischen seiner Arbeit und seiner Person, und weil Barre Phillips für einen Musiker bemerkenswert frei von Egomanie ist, stellt er sich und seine Fähigkeiten immer in den Dienst der Musik. Er ist das genaue Gegenteil von Musikern wie beispielsweise Jonas Hellborg, die einem ihre Klasse förmlich aufdrängen. Barre konzentriert sich stattdessen auf seine Musik oder auf seinen Part in der Musik anderer. Er tut, was getan werden muss. Reich ist er damit nicht geworden. Aber er ist unabhängig geblieben und hat in seinem Leben noch nie eine Note gespielt, hinter der er nicht hundertprozentig steht. Außerdem geht ihm jegliches Konkurrenzdenken ab. Vielleicht erinnern sich einige an das alte FMP-Album Die Jungen: Random Generators (FMP 0680) mit Peter Kowald, auf dem Barre ständig bemüht ist, seinem ehemaligen Schüler genug Freiraum zu geben, ihn nicht in den Hintergrund zu drängen. Dies gilt auch für das Zusammenspiel mit Joëlle Léandre. Das heißt nicht, dass man auf sie Rücksicht nehmen müsste, aber wenn man die beiden zusammen hört, scheint Barre der risikofreudigere, neugierigere Musiker zu sein. Joëlle gibt alles, was sie hat und Barre hängt über dem Bass, Nase nach unten wie ein freundliches Tier auf Trüffelsuche, bereit, ihre Klangwelt zu erforschen. Er schnüffelt ein bisschen mit dem Bogen – und weiß Bescheid.
Barre Phillips backstage
„Es war eine gute Idee von Ogun, letztes Jahr diese alten Trio-Aufnahmen herauszubringen.“
„By Contact, ja. Ganz lustig, nicht?” „Es muss noch jede Menge Material geben. Ich habe ein sehr gutes Band vom Moers-Festival gehört. So Mitte der Siebziger.“ „Oh ja, richtig. Das war unser zweiter Anlauf. Ich glaube, damals war unsere Musik nicht mehr so inspiriert wie am Anfang. Aber wir haben vor, die Band zu reaktivieren.“ „Wirklich?“ (Schließlich ist Schlagzeuger Stu Martin seit zehn Jahren tot.) „Na, ja, ich, Surman und Pierre Favre. Ich bin froh, dass Surman mitmacht. Es ist an der Zeit, glaube ich. Rausgehen und ein bisschen Wind machen“.
Parker’s Mood
„Das funkte nicht richtig“, sagt Keith Tippett nach Evan Parkers und Louis Moholos erstem Set. „Ich habe ihnen das gesagt und sie sehen’s auch so. Sie haben’s für sich nicht auf die Reihe gekriegt, und deshalb konnte es auch zusammen nichts werden. Magst du ein Weißbier? Ah, da kommt Barre. Hey Barre, du warst toll. Weißbier gefällig?“
„Lieber nicht“ sagt Barre Phillips, höflich wie immer.
Mir geht es da anders. Was Parker/Moholo betrifft, meine ich.
Zugegeben, ihr Set war überraschend verhalten. Aber ‚verhalten’ ist nicht automatisch negativ. Bei einem Ereignis wie dem Total Music Meeting, wo jeder (ganz im Sinne alter Free Jazz ‚Tradition’) ständig mit Volldampf spielt, kann es sogar eine willkommene Abwechslung sein.
Ich habe das Gefühl, dass Evan Parker zurzeit ziemlich in sich geht. Er weiß, dass sich ein großer Teil der freien Szene in Europa in eine selbstgewählte Sackgasse zurückgezogen hat, und hat es vorgezogen, sich von ihrem ziellosen Dahingewurschtel endgültig zu verabschieden. Er hat sich nicht nach siebzehn Jahren von Incus-Records getrennt, um jetzt seine Energie zu verschwenden. Evan Parker ist ein ernsthafter (aber nicht ernster) Mann, der am liebsten mit ernsthaften Musikern zusammenarbeitet. Das erste Set in Berlin, bei dem er fast nur Tenorsax spielte, war ein klug ausbalanciertes Zusammenspiel aus Energie, Modulation und Rhythmus, straff zusammen gehalten von Moholos unablässig ratternden kleinen Bell-Cup Hi-Hats.
Nach einem unglaublich brillanten Solo von Barre Phillips, diesmal mit klaren, wenn auch schwer zu lokalisierenden Folk-Einflüssen, soll der Bassist auch bei Parker/Moholo einsteigen. Er bittet um zehn Minuten Atempause und „Bedenkzeit“, ist aber schon nach wenigen Minuten wieder auf der Bühne, bereit loszulegen. Verglichen mit Brötzmanns wilden Ausbrüchen der vorhergehenden Nacht wird hier fas kammermusikalisch improvisiert, ein vorsichtiges Herantasten an die Musik. Nach etwa einer Viertelstunde wird klar, warum: die Musiker können einander nicht hören. Monitorprobleme. Parker deutet auf die Lautsprecher und die Musiker, hebt die Hand. Mehr! Mehr! Nichts passiert. Parker hüpft auf und ab, gestikuliert mit der linken Hand, während die rechte immer noch mit seinem Solo beschäftigt ist. Mehr! Barre Phillips beugt sich über seinen Bass, flüstert direkt in den Tonabnehmer. Eine Stimme aus dem Weltall verkündet: „Hi...ich weiß, dass ihr mich hören könnt...wie wär’s mit ein paar mehr Bässen auf den Monitoren...ihr könnt das, ich weiß es...los, versucht es.“
Moholo, der Barres Geflüster möglicherweise als neuartige Form der Improvisation versteht, springt auf und fängt an, ins Mikro zu murmeln: „Lasst Mandela frei, lasst Mandela frei. ich weiß nicht, was sie mit Mandela machen, Mann“ Jubel bei der afrikanischen Abteilung (alle in der ersten Reihe). Nach dieser Einlage wird die Musik plötzlich freier, gelöster, öffnet sich. Louis und Barre finden sich zu einem auf- und abschwellenden Groove, dem Parker immer neue, aufregende Klangmuster entgegensetzt.
Selbstkritik: Des Improvisators Fluch
Keith Tippett steigt von einem Fuß auf den anderen, reibt sich nervös die Hände. Mit seinen langen, blond-grau gesprenkelten Koteletten könnte er einem Dickens-Roman entsprungen sei. Er ist über vierzig, sieht aber immer noch aus wie der Junge vom Land. Ein spitzbübischer, rotbackiger Bauernbursche – oder so ähnlich. „Äh...“ beginnt er zögernd, die Hände bittend ausgebreitet, „Äh, denjenigen, die gestern nicht da waren...“ Er stoppt, und dann kommen die Worte auf einmal in einem einzigen Atemzug herausgesprudelt: „Denjenigen, die gestern nicht da waren, möchte ich sagen, dass ich, glaube ich, gestern besser gespielt habe.“
Erstauntes Gelächter aus dem spärlichen Publikum. Ich drehe mich um und sehe Jost Gebers die Augen verdrehen. Er sieht aus, als würde er sich vor Verzweiflung am liebsten an die Stirn schlagen. Es gehört nicht viel hellseherisches Talent dazu, seine Gedanken zu lesen: „was macht man mit so einem Musiker???“
Keith Tippett hat soeben ein improvisiertes Piano-Solo von bemerkenswerter Schönheit beendet. Fast wie Sphärenmusik. Ein faszinierender kleiner Musik-Kosmos, in dem alles in Bewegung war, kreiste, pulsierte, strahlte. Er stieg aufs Fortepedal, ließ es nicht mehr los und der Sound begann zu wogen, wurde mächtiger und mächtiger. Er warf Holzblöcke – „eins Teak, eins Balsa, eins Mahagoni“ – in die Innereien des Flügels, ließ ihn klingen wie ein Cembalo, wie Conlon Nancarrows mechanische Klaviere oder die sich ständig wiederholenden musikalischen Schemata eines (frühen) Terry Riley. Mit der rechten Hand spielte er die schnellsten Triller, die ich jemals gehört habe, ganz oben auf der Tastatur, wie Schlagzeugwirbel auf einer Fensterscheibe. Von seiner Musik ging ein Zauber aus – das klingt wie ein Klischee, aber trotzdem: es war so.
Und dann – bumm! – gnadenlos zurück in die Realität mit dieser Selbstkritik. Eine sehr englische Haltung muss ich leider zugeben. Der Improvisator schlurft, sich selbst kasteiend, davon und nimmt dem Publikum die Möglichkeit, die Musik einfach gut zu finden. Von da an geht es abwärts. Curtis Clark, der zweite Pianist, der heute im FMP Studio spielt, ist beleidigt und weigert sich mit Tippett zu sprechen, weil der angeblich mit seinen Holzblöcken den Flügel verstimmt hat. Später erfahre ich, dass sich die kleinkrämerische Diskussion hinter der Bühne fortsetzt: Tippett behauptet seinerseits, dass es Clark war, der mit seinem aggressiven Anschlag dem Flügel den k.o. versetzt hat.
Clarks Soli? Nicht sehr überzeugend. Er baut Melodien auf, nimmt sie wieder auseinander, zerpflückt sie, indem er den Rhythmus verschleppt. Reminiszenzen an den Blues und an Monk, aber seine bedächtigen Stop-and-Go-Rhythmen sind nicht annähernd so fesselnd wie bei Monk. Manchmal bemüht er sich eine dramatische Leere, eine stimmungsvolle Weite zu schaffen, aber wenn man seine Hände beobachtet, die zögernd und unentschlossen über den Tasten hängen, wird einem klar, dass bei dieser Art der Improvisation zuviel Wünschen und Wollen und zuwenig Können beteiligt sind. Ich habe Clark schon besser gehört – zum Beispiel vor drei Jahren mit dem Peter Kowald Quartett. Vielleicht ist es noch zu früh für eine Solo-Karriere....
(K)ein Resümee
Es wäre schön, wenn man diesen ausufernden Artikel mit einem eindeutigen Fazit beenden könnte. Leider kann ich damit nicht dienen. Vielleicht ist das unausweichlich, wenn man über eine Musikrichtung schreibt, bei der es, wie Derek Bailey sagt, kein wirkliches Endprodukt gibt.
Etwas kristallisiert sich aber doch heraus, wenn man die Berliner Jazztage und das Total Music Meeting über die Jahre hinweg vergleicht. Zumindest hat die lange Arbeit und der hohe Qualitätsanspruch von FMP dieser Musik ein interessiertes und ständig wachsendes Publikum eingebracht.
Das Gegenteil gilt für die Jazztage. Wenn man verzweifelt jedem Trend hinterher rennt, wird man verwundbar; jetzt, wo so ziemlich alle Trends abgehakt sind, zeigt sich das in der ständig sinkenden Qualität der Musik. Als ich 1973 das erste Mal das Berliner Jazz-Festival besuchte, standen Duke Ellington, Muhal Richard Abrams und eine von Miles Davis blutdürstigsten Bands auf dem Programm. Dieses Jahr waren es die George Gruntz Big Band und ein paar Akkordeon-Spieler. Evan Parker und Peter Brötzmann aber spielen immer noch im Quartier Latin. In ihrer Welt gehen die Uhren eben etwas langsamer. Sie sind älter geworden und das Leben hat sie nicht immer mit Samthandschuhen angefasst – aber sie spielen besser als jemals zuvor.
Übersetzung: Caroline Mähl
aus: Jazzthetik # 2, Februar 1989

 
Ellen Brandt
Unterwegs in Klangwelten
Es war nicht das erste Mall, dass George Gruntz Musiker zum JazzFest einlud, die häufig in Konzerten der Free Music Production zu hören waren und nicht zuletzt durch die Aktivitäten dieser Institution bekannter geworden sind. In diesem Jahr waren das Phil Minton, zwei Streicher des Amsterdam String Trios und Mitglieder der George Gruntz Concert Jazz Band – Kenny Wheeler und Manfred Schoof, die zu den Musikern der ersten Stunde der FMP gehören, und Ernst-Ludwig Petrowsky aus der DDR.
Es ist gut, dass diese Musiker dem JazzFest-Publikum vorgestellt werden. Nicht gut dagegen, dass die Free Music Production bei ihren Bemühungen um die Avantgarde von der JazzFest-Leitung und dem Intendanten der Berliner Festspiele so wenig unterstützt wurde. Durch die viel zu späte Zusage eines Zuschusses war die FMP in der Planung des Total Music Meeting extrem behindert. Musik, die sich gegen Kommerzialisierung sperrt, muss gefördert werden. Andererseits stellt sich bei einigen Konzerten des JazzFestes die Frage, warum sie im Rahmen eines subventionierten Festivals stattfinden.
Das Programm des Total Music Meeting war trotz aller Widrigkeiten bemerkenswert: je drei Bläser, Schlagzeuger und Bassisten waren eingeladen. Sie spielten nicht etwa im Trio, sondern die Bassisten blieben unter sich, und die Trommler und Saxophonisten bildeten Duos. Neben den altbekannten Free-Jazzern ist die Bassistin Joëlle Léandre aus Paris in Berlin weniger bekannt. Bei ihrer Solo-Performance im Quartier Latin funktionierte sie eine John-Cage-Komposition für Stimme und Klavier um, setzte sich auf den Fußboden vor ihren Bass und bespielte ihn als Perkussionsinstrument. Eine Komposition von Giacinto Scelsi strich sie mit einer Gelassenheit, die man sonst von ihr nicht kennt; denn ihre eigenen Kompositionen und Improvisationen sind durch nervöses Spiel gekennzeichnet.
Joëlle Léandre ist stets getrieben von ihrem Erfindungsreichtum, mit dem sie ständig neue Spielarten ausprobiert. Sie nahm den Zuhörer mit auf ihre Entdeckungsreise durch die Klangwelt dieses Instruments. Ob nun durch zweistimmiges Spiel oder durch Klopfen und Quietschen auf dem Resonanzkörper, stets konstruierte sie ein nuancenreiches Klangfarbenspiel.
Im Duo mit Barre Phillips gab sie den Ton an, aber der Altmeister des Basses faszinierte am nächsten Abend als Solist, durch die traumhafte Schönheit seines mehrstimmigen Spiels. Phillips und Léandre fanden sich zu einem Trio mit Klaus Koch aus der DDR zusammen, in dem der introvertierte Bassist durch eigenwillige Akzentuierung durch sich aufmerksam machte.
Zum ersten Mal nach 21 Jahren haben die beiden Holländer Willem Breuker und Han Bennink in Berlin wieder im Duo improvisiert, mit altem Elan und Einfallsreichtum. Es gibt keinen Schlagzeuger, der so genial und reaktionsschnell trommelt wie Bennink. Dabei ist er nicht einmal auf sein Schlagzeug angewiesen. Er bespielte alles, was ihm bei seinem Lauf durchs Quartier in die Quere kam: Heizkörper, Wände, Bänke, notfalls auch seine Schuhe oder die Trommelstöcke selbst.
Der schwarze Trommler Louis Moholo ist der Asket unter den Schlagzeugern. Mit sparsamsten Mitteln konstruierte er sein rhythmisches Gebäude und schuf Spannung durch sensible Lautstärkenvariationen.
Moderater als sonst blies Peter Brötzmann seine Tarogato, eine Balkanklarinette. Dazu inszenierte Günter Sommer aus der DDR sein dialogisches Frage- und Antwortspiel auf dem Schlagzeug. Die „rollende“ Rhythmik, das hauchzarte Huschen mit den Besen über die Felle, überhaupt die differenzierte Klangmalerei und unaufdringliche Wiederholung von melodiösen und rhythmischen Mustern machen sein Spiel unverwechselbar.
aus: Der Tagesspiegel/Berlin, 9. November 1988

 
Ulrich Stock
Soli, Duette, Duelle
In einem Atemzug mit dem 25jährigen Jazzfest muss das Total Music Meeting genannt werden. Das kleinere Festival wurde 1968 zur Zeit des Free Jazz begründet und findet seither parallel statt. Sein Charakter hat sich längst gewandelt: Aus der provokanten Gegenveranstaltung von einst ist eine wichtige Ergänzung der Hauptsache geworden. Immer wieder hat der Organisator Jost Gebers unbekannten, begabten Musikern den Weg bereitet. Gleichzeitig hat Gebers, Kopf und Ohr der Free Music Production (FMP), so etwas wie eine Tradition der improvisierten Musik geschaffen: Mit einem eigenwilligen, aber sicheren Geschmack begabt, hat er es immer wieder vermocht, Leben auf die Bühne zu bringen. Manches ging schief, vieles wurde zum Genus für ein mutiges Publikum, fernab der Trends und der großen Namen, die das Jazzfest meinte würdigen zu müssen.
In diesem Jahr nun wäre das Total Music Meeting beinahe ausgefallen. Bedrängt vom Hang der Kulturpolitiker zum Klotzen einerseits („The Forest" von David Byrne und Robert Wilson durfte vier Millionen Mark kosten) und von Sparmaßnahmen andererseits, war die geldgebende Berliner Festspiele GmbH nicht mehr bereit, wie in den Vorjahren 40 000 bis 60 000 Mark zuzuschießen. Erst auf Druck des Berliner Kultursenats, wo man von der über Europa hinausreichenden Bedeutung der FMP weiß, war die Festspiele GmbH bereit, wenigstens 15 000 Mark herauszurücken. Die schriftliche Bestätigung dafür kam einen Tag vor Beginn des Total Music Meetings.
Unter solchen Umständen lässt sich kein wirklich attraktives Programm gestalten; erstaunlich ist, dass überhaupt ein Programm zustande kam. Es war dies auch nur möglich, weil die neun Musiker für ein Viertel der Jazzfest-Gage auftraten, weil sich eine Hotelbesitzerin fand, die ihnen die Übernachtung spendierte, weil Tonmeister und Plakatkleber und wer noch alles dazugehört nahezu unentgeltlich mitarbeiten.
60 000 Mark kostete dieses Not-Angebot, an dem die Daseinsberechtigung des Total Music Meetings nicht gemessen werden darf. 60 000 Mark — soviel bekommt allein der künstlerische Leiter des Jazzfestes, George Gruntz, Spesen nicht gerechnet, nicht gerechnet auch die Gage für den Auftritt seiner Bigband auf dem eigenen Festival.
Jost Gebers ursprüngliches Konzept hätte 125 000 Mark gekostet und sollte „drei mal drei" heißen: Je drei mit Bedacht ausgewählte Saxophonisten, Bassisten und Schlagzeuger sollten drei Nächte lang in spontan zu bestimmenden Kombinationen jeweils eine halbe Stunde zusammenspielen, mal eine jazzübliche Trio-Besetzung, dann vielleicht alle neun Musiker gleichzeitig oder drei Saxophonisten und ein Schlagzeuger. Mit ähnlichen Konstellationen hat Gebers schon erfolgreich experimentiert: 1984 holte er sechzehn Pianisten ins Quartier Latin, 1987 siebzehn Posaunisten. Für die Notausgabe reduzierte Gebers sein Konzept: Jeder Abend sah ein Bass-Solo, ein Saxophon/Schlagzeug-Duell und ein Bassduett vor. Die drei Bassisten sollten in allen drei Nächten aufeinandertreffen.
Schon am zweiten Abend wurde deutlich, dass Kontrabässe allein auf Dauer so fesselnd nicht sind. Die Französin Joëlle Léandre, Klaus Koch aus der DDR und der in Paris lebende Amerikaner Barre Phillips begannen den dritten Abend mit einem Trio. Das war aufregend zu sehen und zu hören: drei schwankende, braune, große Hummeln brummten sich zu. Joëlle Léandre, die von der Zeitgenössischen Musik zur Improvisation gefunden hat, hat auch Stimme: mal Scat-Gesang, mal Oper schimmerte auf, ging über in absonderliche Perkussion, in Tänze, die an Bartok erinnerten, in gezupftes Irgendwas, schließlich in eine erotische Szene: als Barre Phillips mit seinem Bogen vor der Bassistin stehend zärtlich die Saiten ihres Instrumentes zum Schwingen brachte.
Für den Höhepunkt des ersten Abends sorgten der holländische Saxophonist Willem Breuker und sein Landsmann Han Bennink. Der Schlagzeuger ist ein Gesamtkunstwerk: Vorzüglich trommeln kann er allemal, auf seinem Instrument wie auf dem Bühnenboden, den Schuhspitzen, der Saalheizung; hinzu tritt seine Mimik, sein gebrochenes Deutsch, wenn er einen entflogenen Stock aus dem Publikum zurückfordert und sich in der Art eines durchgedrehten Colonels das Lachen verbietet. Breuker, berühmt geworden durch sein „Kollektief", ist ein Melodiker und Parodist.
Der DDR-Trommler Günter Sommer konzentrierte sich vor allem auf Obertöne. Mit dem kraftvoll-geräuschigen Saxophonisten Peter Brötzmann aus Wuppertal fand er zu intensivem, sehr dichtem Spiel, das den vollen Saal erhitzte.
Schwachen Beifall bekam das dritte Duo: Der weiße Engländer Evan Parker und der schwarze, im Londoner Exil lebende Südafrikaner Louis Moholo gleiteten nebeneinander her. Aus Moholos behutsam geschlagenen Trommeln schien Afrika zu tönen; Parker blies vielfältig in sich gebrochene Läufe, deren Reiz stellenweise darin lag, weder melodisch noch amelodisch zu wirken. Der Auftritt hinterließ dennoch ein fades Gefühl — mögliches Ergebnis eines offen angelegten Prozesses.
aus: Die Zeit # 46, 11. November 1988

 
Hans-Jürgen Linke
Frau mit Kontrabass
(…) Einige hundert Meter weiter im Quartier Latin in der Potsdamer Straße beim Total Music Meeting spielt diesmal zur Eröffnung eine Frau: Joëlle Léandre. Spätestens seit ihrer Zusammenarbeit mit Irène Schweizer unter anderem bei der Gruppe „Taktlos“ ist die Bassistin in der zeitgenössischen improvisierten Musik eine Institution, und dann kann es nur noch ein paar Jahre dauern, bis sie auch mal im Quartier Latin auftritt. Sie bekennt sich in ihrem Eröffnungs-Solo nachdrücklich zu ihrer Herkunft aus der E-Musik, verzichtet auf das energetische Element von Spannungsbögen und spielt experimentell und mit erzählerischer Geduld. In ihren Improvisationen erforscht sie den Bass von allen Seiten und singt dazu auch noch mit ihrer gut ausgebildeten Altstimme; aber nicht alles, was wie ein launiger Musik-Scherz aussieht, ist auch so gemeint: Joëlle Léandre konzipiert ihren Auftritt vom Klang her, nicht vom theatralischen Effekt. Wenn sie unhörbar mit ihrem Bassbogen auf dem Rücken des Instruments streicht, tut sie das, um die Musik an die Grenze der Hörbarkeit heranzuführen. Die Lacher im Publikum ertönen immer erst nach einem Moment spannungsvoll nachhorchender Stille. Ansonsten spielt Joëlle Léandre Stücke von Cage, Scelsi und ein eigenes, das sich damit befasst, wie eine junge Frau mit Kontrabass unterm Arm ein Taxi sucht und was Taxifahrer in solchen Fällen zu sagen wissen.
Ansonsten ist im Quartier Latin vieles beim alten geblieben. Auf der Bühne Veteranen des europäischen Free Jazz, im Zuschauerraum manches seit Jahren bekannte Gesicht, aber auch überraschend viele junge Leute, die in den Gründerjahren der Free Music Production im besten Kindergartenalter waren. Sie bekamen in den Begegnungen des Total Music Meeting ein verschlanktes Programm geliefert, das aufgrund reduzierter finanzieller Zuwendungen nur noch Restkategorien der ursprünglichen Planung manche Billig-Lösung enthielt.
Günter „Baby“ Sommer legte mit seinem fulminanten und intelligenten, technisch, klanglich und energetisch zurzeit wohl einzigartigen Spiel am Schlagzeug unbeabsichtigt, aber gnadenlos die technischen Schwächen Peter Brötzmanns bloß. Louis Moholo hatte einfach nicht genug Ideen und Präsenz, um sich neben dem Saxophonisten Evan Parker auch nur annähernd paritätisch zu behaupten, wollte auch lieber nicht stören und raschelte sich unauffällig in die (unangemessene) Begleiterrolle hinein. Han Bennink tobte wie gewohnt herum und machte mit seinen Trommelstöcken den ganzen Raum zum Instrument, und auch von Willem Breuker gibt es kaum mehr zu berichten, als dass er sich gut gehalten hat. Barre Phillips zeigte sich als stilistisch sehr offener Bassist: Mit Klaus Koch im Duo produzierte er formstrenge, kleinteilige Duo-Musik von leiser Intensität, aber das Konzept stammte eher von Koch. Im Duo mit Joëlle Léandre war Phillips plötzlich experimentell und komisch, aber ging dabei eher mit etwas läppischen Unernst an die Sache heran – diese Musik war also eher aus Ideen seiner Partnerin entstanden. Im Solo schließlich erwies sich Phillips als wohlklangorientierter, akkordschrammelnder und melodiensuchender Traditionalist. Diese Selbstdarstellung war stimmig, aber nicht übermäßig interessant.
Die herausragenden Ereignisse des Total Music Meeting waren eher solistischer Natur, auch wenn die Soli von hinterher spielenden Musikern begleitet wurden: Joëlle Léandre
Günter Sommer und Evan Parker. Was wohl ein Trio aus diesen dreien ergeben hätte? Vielleicht etwas Neues.
aus: Giessener Anzeiger, 8. November 1988


Reiner Kobe
Virtuosität und Konzentration
Vordergründiger Geschwindigkeit und kammermusikalischer Tristesse fern war das Total Music Meeting, das an drei Abenden im Quartier Latin stattfand. Es stellte Bassisten in den Mittelpunkt, Instrumentalisten, die meist im Hintergrund stehen.
Wie wichtig ihr Spiel ist, sei es harmonisch, melodisch oder rhythmisch, machten Joëlle Léandre, Barre Phillips und Klaus Koch deutlich. Sie stellten sich solistisch, in verschiedenen Duos und einem wagemutigen Trio vor, das ohne Absprachen sich dem musikalischen Augenblick hingab. Aus dem gestrichenen Gleichklang und den tiefen Registern brechen einzelne Soloimprovisationen hervor, die alsbald dem kollektiven Fließen einverleibt werden.
Unterschiedliche Ecken des Bass-Spiels wurden ausgeleuchtet. Die Französin Joëlle Léandre machte ihre Affinität zur Kunstmusik deutlich, nicht ohne ins Szenische zu gehen. Der Amerikaner Barre Phillips verarbeitete seine Erfahrungen mit dem Free Jazz der 60er Jahre, und Klaus Koch aus der DDR demonstrierte Eigenständigkeit zwischen den Stilen. Er gewinnt dem Bass perkussive Seiten ab, arbeitet trickreich mit dem Bogen. Aufkommender Swing geht über in ideenreiche Improvisation. Da sind viel Virtuosität und Konzentration im Spiel, wie sie überhaupt von allen beteiligten Musikern an den Tag gelegt wurden.
Selbstverständlich sind die Duos, die um die Bassisten herum platziert waren, hiervon nicht ausgenommen. Peter Brötzmann und Günter Sommer, Saxophon und Schlagzeug, spielten mit berstender Intensität. Auf den ständig präsenten Höhepunkt durch Brötzmanns Überblastechnik, der nur mit kurzen choralhaften Einsprengseln verweilte, reagiert Sommer diffizil. Mit Messingstangen, Orgelpfeifen und Schalmeien erzeugt er wunderbare Klangfarben, getragen von den fein abgestuften, kleinen Trommeln.
Dem stehen Evan Parker und Louis Moholo, gleiche Besetzung, in nichts nach. Obwohl erstmals im Duo, erreichen die beiden ein beeindruckendes Zusammenspiel. Parker erzeugt mit schnellen Tonfolgen wahre Klangflächen. Der aus Südafrika stammende Louis Moholo ist ein aufmerksamer Schlagzeuger, der durch sich allmählich steigernde Rhythmen besticht. Plötzlich überlagern sie sich und sind von wirkungsvoller Präsenz.
Insgesamt wieder ein Total Music Meeting, das keine festgefahrenen Gleise kennt. Dank der veranstaltenden Free Music Production, die die finanziellen Klippen erfolgreich umschifft und ein begeistertes Publikum hinterlassen hat.
aus: Die Wahrheit, 7. November 1988


Carsten Jensen
Kratzen, schaben, tröten: Hymnen auf die Anarchie
Free Jazz beim Total Music Meeting: Das Journal schunkelte mit
Ein Stuhl mit einer Mütze darauf, als Ablage für das Saxophon oder den Bassbogen, wirkt hier wie ein sparsames Requisit in einem imaginären Theater. Die Bühne im durch und durch schwarz gestylten „Quartier Latin“ in Berlin lässt viel Raum. Die Bassisten, Joëlle Léandre, Klaus Koch, Barre Phillips sowie drei Duos Saxophon/Schlagzeug sind beim diesjährigen 21. Total Music Meeting angetreten, um an drei Abenden in verschiedenen Besetzungen - um es salopp zu sagen - frank und frei munter drauflos zu improvisieren.
Mit Han Bennink, Willem Breuker, Peter Brötzmann und Evan Parker standen diesmal einige der „Gründungsväter“ der Free-Music-Szene auf der Bühne. Seit über 20 Jahren steht die veranstaltende „Free Music Production“ (FMP) als ein Synonym für die deutsche Sektion der vom schwarzen Free Jazz emanzipierten europäischen Spielart.
Das Total Music Meeting als Konzeptfestival steht innerhalb einer ganzen Reihe von Aktivitäten mit dem Ziel, den improvisierenden Musikern Räume unabhängig von musikindustriellen Bedingungen zu erschließen und Öffentlichkeit für vielfältige Experimente und Erfahrungen zu ermöglichen.
Die FMP ist nicht nur ein wichtiges Bindeglied zu ähnlichen Bewegungen z.B. in Holland, England, Frankreich, sondern konnte Anfang der 70er Jahre auch Kontakte zu Musikern in der DDR knüpfen. Im Laufe der Jahre konnten diese Musiker in vielen Projekten im Westen in Erscheinung treten.
Und einer von ihnen - Günter „Baby“ Sommer - kratzte, streichelte, trommelte, trötete diesmal, was das Zeug hielt. Als Kompagnon stand ihm Peter Brötzmann zur Seite. Dessen Spezialitäten sind bekanntermaßen die Bereicherung des Saxophon- und Klarinettenklanges um die Ausdruckswerte menschlicher Laute wie Grunzen, Röhren, Schreien, Quaken; seit 20 Jahren, ununterbrochen, jeder Ton Gestik, Seele.
Evan Parkers Saxophonspiel wirkt im Vergleich sperriger, im Einsatz der Mittel sparsamer als Brötzmann. „Evan Parker oder Das endlose polyphone Entsetzen der minimalistischen Bewegung“, habe ich mir notiert. Das soll heißen: Als Phänomen der Zeit verschwindet das Empfinden von Dauer, einzelne Töne wachsen zu Klangfarbenflächen, zu Kaskaden von Wasserwellen, in denen sich das Licht bricht, weiß-blau in immer neuen Schattierungen. Louis Moholo, Schlagzeuger aus Südafrika, unterlegt dieses Flimmern mit sparsamem Spiel, konzentriert, am Puls orientiert, unaufdringlich und doch unterstützend.
Wegen der zeitlichen Überschneidungen mit dem Jazzfest konnte ich von den Bassisten nur die Französin Joëlle Léandre hören. Sie verschmolz ihre Improvisationen, oft aus kleinen Szenen heraus entwickelt, durchaus mit Kompositionen von zeitgenössischen Komponisten wie Cage und Scelsi.
Die Wege vom einstigen Aufbruch der Improvisationsszene sind in vielfältigster Weise begangen. 20 Jahre Training, Erfahrung haben differenzierte Möglichkeiten geschaffen, den Tönen und Klängen neue Strukturen hinzuzufügen, spontan und spannend zu agieren. Musik im wesentlich als ein Ort von Kommunikation, als Sprache kraftvoll und direkt, emotional. Hymnen auf die Anarchie, die zurzeit machbar ist, zumindest in der Musik.
aus: Nordsee-Zeitung, 3. Dezember 1988


Konrad Heidkamp
aus: Bunte Abende
Ein „Thema“ und die Beliebigkeit seiner Behandlung
….es ist bitter kalt, der Weg zum Quartier Latin, dem Treffpunkt des traditionellen Gegenfestivals, dem „Total Music Meeting“, ist kürzer als der zum Delphi. Die Bühne durch graphitgraue Vorhänge verkleinert, davor zwei Bässe, zwei Kabel, Joëlle Lèandre und Barre Phillips. Sie tasten ab, lang gezogene Passagen im Dissonanzabstand, Streichen und Streicheln, dann Schlagen und Klopfen, ein Kampf der Bögen. Die Klangfarben wechseln vom brummenden Schnarren gelockerter Saiten über Singen, Schimpfen zum Sprechen – das Instrument wird zum Körper, und das Herz besteht aus Musik. Ein fast vergessenes Gefühl zuzuhören und zu reagieren, ein Bewusstsein, das Freude und Trauer aus dem Spielen kommen und persönlicher Stil kein Etikett braucht, es sei denn „Joëlle Lèandre“ und „Barre Phillips“. Das Konzept von Total Music Meeting war: Drei Bläser, drei Bässe, drei Schlagzeuge in wechselnden Zweier- und Dreierkombinationen, Klänge ausloten, Improvisationsvorstellungen konfrontieren und sich daran erinnern, dass es im Jazz irgendwann auch darum ging.
aus: Die Zeit, 11. November 1988

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