Wilhelm E. Liefland - Den Sozialismus nicht verspielt
Hellmuth Kotschenreuther - Musikalische Kontraste
Lothar Jänichen - Verfehltes Leitmotiv
Ausstellung:
Wolfgang Burde - Entsprechungen im Bild

 
Wilhelm E. Liefland
Den Sozialismus nicht verspielt
Zum ersten Mal auch DDR-Jazzer
im Workshop Freie Musik an der Westberliner Akademie der Künste
Es war zu Teilen fast ein Hanns-Eisler-Festival, aber es war ein profunder Jazz-Workshop, der - die ganze neuere Improvisationsgeschichte mit ihrem Formen-reichtum im Nacken - die freie Musik, wie sie sich zur Hauptsache vom Free Jazz herleitet, aus sich herausproduzierte; konzentrierter dieses Mal mit insgesamt 6 Gruppen und 4 Synthesizer-Solisten an 5 Tagen, zu je durchschnittlich 5 bis 6 Stunden musikalischer Arbeitszeit. Von Ostern vorverlegt auf Anfang März, bedeutet die Besetzung dieses Workshops die Ausklammerung der geläufigen Globetrotter des Free Jazz, vor allem der Amerikaner.
Die diesjährige Ost-West-Konzentration setzte eine vierfache Emanzipation frei:
1) Erneut die der europäischen Free Jazzer und freien Musiker (elektronische und concrète-Experimente einbezogen) von den bisherigen Traditionen des amerikanischen Jazz;
2) die der DDR-Avantgarde von, im und gegen den westlichen Kapitalismus praktizierten Free Jazz;
3) die der DDR-Avantgarde vom Eisler-Dogmatismus;
4) die der Gruppe Goebbels/Harth aus Frankfurt am Main vom Eisler- und Jazz-Dogmatismus.
Zu hören war also:
I
Der Synthesizer ist ein Instrument. Vier Solisten eröffneten mit ihm, wie in Vorjahren andere Musiker auf anderen Instrumenten, vier Abende; am fünften spielen sie im Quartett. Angesichts des experimentellen Einsatzes muss man die gewöhnliche Kenntnis des elektronischen Geräts aus Rockmusik oder electric jazz / jazzrock vergessen. Jeder Musiker hat sein eigenes Instrument nach seinen musikalischen (und vielleicht musikphilosophischen, d.h. ästhetischen) Vorstellungen selbst gebaut.
Peter Cusack (London) arbeitet mit elektronischen Zusatzgeräten, mit Tonband, Cassetten, Gitarrenfiltern. Sparsames Tonmaterial in weiten Zeiträumen wird in improvisatorischen Akten collagiert. Ein paar alterierte Akkorde auf der Gitarre sind das einsame Menschenwerk innerhalb vorgefertigter Klangzusammenhänge, von Cusack ganz polemisch auf die Spitze getrieben: Einmal halluzinatorisch, wenn er durch Tonbandeinspielung imaginierte Möwen mit Brot füttert (analog zu jener Tennis-Schluss-Szene zu Antonionis Film „Blow up“, in der die Spieler ohne Ball und doch akustisch-pantomimisch mit Ball spielen), also Fragen provozierend: was ist Musik? was ist Geräusch? was ist Wirklichkeit? was ist Einbildung? Zum anderen intoniert Cusack Alltagsgeräusche in sein Klang-Happening ein (Schritte, weibliche Telefonstimme) von Cassetten, die er schließlich auf den Boden wirft, auffegt, in den Mülleimer tut: Musik ist Umweltverschmutzung. Oder: gesetzt, die Welt klingt nicht und es gäbe keine akustischen Sinne und deren Wahrnehmung – was dann? Es gibt aber Musik auch bei tauben Ohren, und der physiologische Mythos von Beethovens Taubheit in späteren Jahren muss entscheidend korrigiert werden. So kann man Cusacks Auftritt als spannenden Essay verstehen.
Alvin Curran (Rom) mischt in groß angelegter kompositorischer Spannung sehr viele Mittel und musikalische Sprachen: er sitzt am präparieren Klavier und kombiniert Ragtime-Fetzen mit Synthesizer-Orgeltönen, bordunartig vibratolos, worüber er Geräusche türmt (Flugzeug, mit Tonbandschleife manipuliert), wechselt in Messianische Klangfarben und zelebriert arabischen Kehlgesang in Vierteltonreihen, stuft extrem dynamisch ab, wechselt zu Jazzvokalisen, dreht den Synthesizer auf und gleitet in eine Art serielle Monochromie zu Dreierrhythmus im 12/8 Takt alla breve. So kommt er zu einem schwebenden Klanggespinst, das sich von der Eindeutigkeit Mike Oldfields entfernt und der Mehrdeutigkeit der Klangblockmusik von Steve Reich annähert.
Hugh Davies sitzt wie ein Klempner und Radiobastler an einem quadratischen Tisch, auf dem er seine Electronica und Synthesizer-utensilien aufgebaut hat, und man muss höllisch aufpassen, wo jetzt was und warum und wodurch passiert, derart gehen gemachte und reale, natürliche Klänge und Geräusche im oberen Saal der Akademie ineinander über. Bei ihm klingt der Synthesizer am echtesten durch reiches Maß an elektronischen Verzerrungen. Frequenz-Spielen, stochastischen Tonklumpen.
Michel Waisvisz (Holland) ist der Musiker, der Jazzer, der Witzbold, der Clown, der Satiriker, der Kabarettist unter den Synthesizerspielern. Sein Instrument, das er „Crackle“ nennt, wie eine LP (FMP/SAJ-14), ist ein Kasten mit Knöpfen drauf und steht auf einem Dreifußstativ vor ihm wie ein Bauchladen. Waisvisz swingt und spielt einen walking bass, klingend wie eine elektronische Orgel, reißt die Klappe vom Kasten hoch und unterbricht mit Tongezerre, Frequenzgequietsche, holt sich einen Schlauch und schluckt ihn, so dass er einen Dialog mit sich als Bauchredner anzettelt, alle via Synthesizer, wobei er die elektronisch verfremdete Stimme plärren lässt „nice free music“ und im O-Ton dazu kotzt, wieder swingt, den Apparat sich scheinbar verselbständigen lässt. Zauberlehrlings Ängste ausspielt, indem er sich und den Apparat ohrfeigt, der zum Ende erst scheinbar aus Zufall aufhört zu spielen.
Wo die Grenzen zwischen elektronischer Programmierung und freier, spontaner Improvisation liegen, war im Quartett noch nicht so endgültig auszumachen: Man traute sich mit den verschiedenen Instrumenten nicht so recht über den musikalischen Weg, spielte sich nicht aus.
II
Der deutsche Peter Kowald und der musikalisch weit herumgekommene (u.a. bis Leonard Bernstein) Amerikaner Barre Phillips lieferten sich und einem eineinhalb Stunden gespannt zuhörenden Publikum am Kontrabass = double bass ein Duo, wie es offensiver alle Möglichkeiten dieses Instrumente nicht häufig offenbart, und wenn, dann erst in neuerer Zeit, da der Bass erst sehr spät eine autonome Rolle erhielt (Buschi Niebergall praktizierte das seinerzeit mit Jürgen Wuchner im Frankfurter Jazzkeller, Barre Phillips mit David Holland: Music from two basses). In einem völlig freien Spielabtausch erreichten sie Tonqualitäten, die schon so atomisiert klangen wie bei den Synthesizer-Experimentierern – was eine Beherrschung des Instrumentes voraussetzt (und mit sich bringt), von der ein symphonischer Kontrabassist nur (alp-)träumen kann, aber Phillips und Kowald und vergleichbare moderne Bassisten wollen ja nicht in Symphonieorchester vorstoßen, sondern zur Musik - , dass Bezeichnungen wie pizzicate, con arco, vor und hinter dem Steg, flagiolett schon antiquiert klingen.
III
Der folkloristische Schmelz und die italienische Kantilenenkultur des Trompeters Enrico Rava verbindet sich mit den heftigsten Free-Jazz-Eruptionen, beides unterstützt vom feinen Bassisten Giovanni Tomaso und dem weniger differenzierten Schlagzeuger Bruce Ditmas, dafür um so lukullischer, zirzensischer und jazzgeschichtstiefer vom New Yorker Avantgarde-Posaunisten mit immer präsentem New-Orleans-Gestus: Roswell Rudd; er gibt der immer etwas zur Tristesse kippenden Musik Ravas eine trotzig hedonistische Färbung.
Das Trio Wolfgang Fuchs (sopranino, bcl), Hans Schneider (b), Klaus Huber (dr) löst sich ganz von verbindlichen Übereinkünften im modernen und Free Jazz und fängt voraussetzungslos (wenn nicht die musikalische Schwerkraft wäre) wie ein Mobile irgendwo an und hört ebenso fortsetzungsmöglich irgendwo auf, Kettenassoziationen wie bei Evan Parker. Das wichtigste bei ihnen sind die großen Gesamt-Klang-Intensitäts-Wellen, und das leisten sie vorzüglich. (Hinweis: Momente, FMP 0610).
Heiner Goebbels (p, acc, ts) und Alfred Harth (ts, ss, bcl), die Eisler-Brothers aus Frankfurt am Main, gehen ins scheinbar andere Extrem der äußerst gebundenen Spielweise; obwohl Goebbels irgendwie mit Clustern am Klavier beginnt, Harth in nicht-tonaler Improvisation dazukommt, in kaum zu überbietender Komplexität zwischen Cluster-Technik, Überblas-Paraden, Spielmannszug und Coleman Hawkins (irgendwo sind da gewiss auch als Stufe Lester Young/Coltrane/Rollins/Getz), münden die beiden nun nicht nur in von Eisler komponierte Stücke, sondern auch in eigene Werke mit unverwechselbarem Eisler-Ton. Dass das nichts Orthodoxes wird, liegt an beider Phantasie dem musikalischen Material gegenüber und an beider undogmatischem Zugang zur proletarischen Musikkultur via Eisler, dem Sozialisten, der jedoch auch Schönberg-Schüler war und es bis zum Schluss blieb. Proletkult ist nicht ihre Sache, und einer der besten Tenorsaxophonisten des modernen Jazz spielt mit Heiner Goebbels notengetreu Heine/Schumanns „Ich grolle nicht“. Folgt auf ts/ts Rameaus Barock-Pièce „Les Oiseaux“; nicht nur parodistische Attacke gegen die bürgerliche Musikkultur, auch selbstverständliche Verwandlung in die Klangkultur von schwarzer Intensität. Dies ist die musikalische Hermeneutik der beiden. Und so kommt es, dass ein DDR-Musiker, für dessen kulturelle Identität Eisler nun ja ein nationales Erbe ist, den beiden West-Jazzern sagt: „Kommt doch gleich nach drüben“. Die aber bleiben wohl hier oder anderswo, denn der Sozialismus ist für alle Menschen. (Hinweis: Goebbels-Harth-Duo, FMP/SAJ-20).
Die DDR-Musiker machen das nun andersherum. Erst machen sie einmal klar, dass sie auf voller Höhe mit dem sog. westlichen Jazz des sog. Westberlin oder der sog. BRD oder des sog. Europa mitsegeln. Zunächst Ulrich Gumpert, p, und Günter „Baby“ Sommer, dr, im Duo am ersten Tag In einer sehr dynamischen Free-Jazz-Sprache spielen sie frei und genau aufeinander reagierend. Sommer ist ein ungemein präziser Handwerker und starker Rhythmiker. Gumperts Piano Stil geht nach Strukturen und cluster-thematischen Zusammenhängen; beide verwandt dem Schlippenbach/Johansson-Duo (p,dr).
Die Ulrich-Gumpert-Workshop-Band nun artikuliert sich immer auf der Basis des Free Jazz, auch wenn sie Eisler-Harmonik, -Melodik, Dessau-Assoziationen, kurz: Volksmusik und Arbeiterlied, Kampflied und Berliner Schwof-Bums hinein nimmt; swingendes Straight-Spiel und abstrakteste Cluster-Flächen; freies Auffächern von Bigband-Arrangements zu Kollektiv-Improvisationen. Es ist der gleiche Geist wie bei Globe Unity oder Willem Breukers Kollektief. Die Workshop-Band scheint komplexer in der Formen-Collage, direkter und impulsiver und weniger ironisch als die westlichen Kollegen. Und Eisler ist nur bedingt ihr Prophet, denn man kann davon ausgehen, dass der 12-Ton-Avantgardist von einst kaum jenes Jazz-Feeling hatte, das die DDR-Jazzer von heute dazu befähigt, wiederum frei mit Eisler umzugehen. Und das ist hier wie dort die Essenz eines „Workshop Freie Musik“. Dabei: Ulrich Gumpert, p, leader; Heinz Becker, tp; Manfred Hering, as, ts; Ernst-Ludwig Petrowsky, as, ss, cl; Helmut Forsthoff, ts; Conrad Bauer, tb; Klaus Koch, b; Günter Sommer, dr (Hinweis: Ulrich Gumpert Workshop Band/DDR: Unter anderem: ’n Tango für Gitti, FMP 0600).
Musik hat gewiss als eine von Menschen gemachte Kunst eine übergreifendere „…Geschichte von Anfängen und Zeiten und von einer Bewegung durch die Zeiten auf etwas hin, auf mich hin…“ als nationale Identitäten und Staatsgrenzen. Was der Sozialismus, real und demokratisch und utopisch, in sich an humanistischer Kraft enthält; in dieser Musik wurde sie gewiss nicht ver-spielt.
aus: Frankfurter Rundschau, 14. März 1979

 
Hellmuth Kotschenreuther
Musikalische Kontraste
Mit einem Auftritt Peter Cusacks begann in der Akademie der Künste der Workshop Freie Musik ’79, mit ihm auch das Defilee der Solisten, die sich dem Synthesizer beziehungsweise den Live-electronics verschrieben haben: sie geben der fünftägigen Veranstaltung der Free Music Production (FMP) das Motto und den spezifischen Akzent. Der Begriff Freie Musik deckt heute eine Szene von bemerkenswerter Vielfalt und Vitalität, deckt sogar noch Klänge und Geräusche, wie sie das Trio Wolfgang Fuchs/Hans Schneider/Klaus Huber produziert. Dieses Ensemble insistiert auf dem ostentativ verhässlichten Instrumentalton, selektiert aus dem unerschöpflichen Reservoir von Klängen und Tönen, die dem Musiker heute zur Verfügung stehen, fast ausschließlich vogelhaft kreischende, quietschende, quälend spitze Phoneme, eine Musik wie von gefolterten Raubvögeln, herausgequetscht aus dem Sopranino und der Bassklarinette beziehungsweise am oder hinter dem Steg herausgeschabt aus den Saiten des Kontrabasses. Irgendwer müsste den drei Instrumentalisten einmal sagen, dass ihre Musik auf die Dauer genau so langweilig ist wie die Stimme Karel Gotts mit dem Lied von der Biene Maja.
Das Enrico-Rava-Quartett ist frei genug, sich auch aus dem Mainstream des Jazz zu bedienen, wenn es der Sache dienlich ist. Nach seinen Exkursionen in die Blachfelder des Free Jazz orientiert es sich immer wieder am Blues, am individualisierten Thema. Die Musik dieser Gruppe ist geprägt von kontrollierter Emotionalität und einer zuweilen bemerkenswerten Schönheit der melodischen Linien: Trompete und Posaune kommunizieren miteinander und gemeinsam mit dem Hörer, nehmen wieder die Entwicklung des Jazz in den Blickpunkt.
Zu einer kleinen Sensation wurde der Auftritt des Gumpert-Sommer-Duos aus Ost-Berlin. Der Pianist Ulrich Gumpert und der Schlagzeuger Günter Sommer gewinnen in ihren fulminanten Improvisationen dem Vokabular der Free Music Formulierungen von einer unerhörten Dichte und Episoden von geradezu visionärer Bildkraft ab, zwei Instrumentalartisten, die in keinem Moment in der bloßen Artistik stecken bleiben. Einen Schlagzeuger, der seinem Instrumentarium mehr Beredsamkeit abzugewinnen weiß als Sommer, wird man zurzeit in ganz Europa kaum ausfindig machen können. Die Begegnung mit ihm und seinem kongenialen Partner lohnte allein schon den ganzen Workshop.
aus: Der Tagesspiegel/Berlin, 3. März 1979

 
Lothar Jänichen
Verfehltes Leitmotiv
11. Workshop Freie Musik
Zu einem neuen Termin, nicht wie gewohnt zu Ostern, sondern bereits in den ersten Märztagen (28.2.-4.3.), fand der erste, nach der letztjährigen Jubiläumsveranstaltung, von der Free Music Production und der Berliner Akademie der Künste in Zusammenarbeit durchgeführte Workshop Freie Musik in diesem Jahr statt. Nachdem in den früheren Konzertreihen Posaunisten, Gitarristen, Pianisten und Saxophonisten in den Vordergrund gestellt wurden, gaben in diesem Jahr vier Solisten, die sich dem Synthesizer, beziehungsweise den Live Electronics verschrieben haben, dem Workshop seinen besonderen Akzent mit je einem Soloauftritt und innerhalb einer Electronics Group im Abschlusskonzert.
Peter Cusack brachte weniger Live Electronics als eine nicht besonders einfallsreiche Live Performance auf die Bühne. Zu seinem Instrumentarium gehörten ein Kassettenrecorder, ein Tonbandgerät, über das mittels einer Endlosschleife zu Beginn des Auftritts eine schlichte Signalreihe wiedergegeben wurde. Scheinbar unreflektiertes Gezupfe auf einer Gitarre und dazu von einem zweiten Tonband ablaufende Geräusche leiteten zum „Höhepunkt“ über: Cusack führte vor, wie man Geschirr abwäscht. Mit speziell bespielten Kassetten konnte man die einzelnen Phasen, die mancher vielleicht noch vor dem Konzertbesuch zuhause durchgespielt hatte, miterleben. Was der Fehler bei Cusack war: er schien das Geschirr einer Großfamilie abwaschen zu müssen, so dass unter den Zuhörern mehrfach ein gequältes „jetzt reicht’s aber“ zu hören war. Cusack bekam für seine Darbietung einen lustlosen Höflichkeitsapplaus – von denen, die im Saal geblieben waren.
Alvin Curran benutzte am Abend darauf Klavier und Synthesizer, spielte zu den Tonsignalen vom Synthesizer aber zuviel auf dem Klavier. Ganz anders dagegen Synthesizer-Speziallist Michel Waisvisz, der sich mit Auftritten im vergangenen Jahr in Berlin bereits einen Namen machen konnte. Er setzte sich mit einem kleinen Gerät auf die Bühne und erzeugte ein Gemisch aus kurzen Melodiestückchen, rhythmischen Linien, die mit wilden Improvisationsausbrüchen durchsetzt waren. Hugh Davies brachte viel Selbstgebasteltes mit, verzichtete auf einen Synthesizer, sein Tischchen sah aus wie das eines Hobby-Physikers, an dem halt ein bisschen gespielt wurde, ohne dass einem etwas Sinnvolles davon im Gedächtnis geblieben wäre. Auch das Zusammentreffen aller vier, das rein zufälliger Natur schien, denn man spielte gerade so nebeneinander her, ohne gemeinsam schon einmal miteinander etwas erarbeitet zu haben oder wenigstens zu wollen, änderte nichts mehr am Fazit des fünftägigen Leitmotivs. Es klaffte noch eine weite Lücke zwischen den Konzeptions-/Kompositionsfähigkeiten der Spieler und den schier unerschöpflichen Möglichkeiten des elektronischen Instrumentariums. Das kindliche Herumspielen mit elektronischen Effekten brachte so keine Erkenntnisse über die Verwendung elektronischer Instrumente in der freien Musik.
Enttäuschend waren auch die insgesamt drei Auftritte, die das Trio Wolfgang Fuchs, Hans Schneider und Klaus Huber während der fünf Tage absolvierte. Da wurden Töne und Klänge der hässlichsten Art aus Sopranino und Bassklarinette (Fuchs) herausgequetscht, am Bass (Schneider) vornehmlich am Steg herausgekratzt, die zusammen mit den auf dem Schlagzeug (Huber) herausgequälten Schlägen zuerst eine starke Intensität hatten. Die drei verwendeten ihre ganze Kraft darauf, die Instrumente möglichst falsch zu spielen, doch auf die Dauer wirkte das Ganze, mangels klanglicher Differenzierung doch zunehmend sehr langweilig.
Wie vielfältig freie Musik sein kann, demonstrierten dagegen die Bassisten Peter Kowald und Barre Phillips, die gut miteinander kommunizierten. In ihren Stücken wechseln ständig Passagen, in denen man aufeinander eingeht, im Duo spielt, im Wechsel der Spielweisen das Ausdrucksspektrum des Instruments möglichst weit auszuschöpfen versucht, am deutlichsten dann, wenn sich die beiden vom Duo-Spiel zu getrennten Improvisationsschwerpunkten entfernen, von denen sie gekonnt wieder zusammenfinden.
Das Enrico Rava Quartett schaffte einmal mehr die Verbindung zwischen dem Free Jazz und dem Hauptstrom des Jazz. Trompeter Rava klingt immer noch, selbst in den wildesten Improvisationshöhepunkten, schön und kultiviert, Posaunist Roswell Rudd erweist sich immer wieder als Katalysator, der die Gruppe aus den musikalischen Höhepunkten kontrollierter Emotionalität zu blues-angehauchten Themen zurückruft, über denen dann oft Trompete und Posaune zu reizvollen gemeinsamen melodischen Linien spielen. Bassist Giovanni Tomaso und Schlagzeuger Bruce Ditmas fügten sich gut in das Quartett ein. Bei letzterem störten jedoch bisweilen die Rockakzente unter den freien Instrumentalstimmen. Das spürbare Vermitteln zwischen Jazz-Entwicklung und freiem Musizieren ermöglichte auch dem Publikum jederzeit ein Nachvollziehen des musikalisch Dargebotenen.
Das Verdienst des diesjährigen Berliner Workshops ist, auch den Musikern aus dem Ostteil der Stadt einen breiten Raum offen gelassen zu haben. Im Eröffnungskonzert begeisterten zunächst der Pianist Ulrich Gumpert und der Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, zwei Meister ihres Fachs, die das weite Feld des Free Jazz abzugrasen versuchten, ohne im technischen Bereich stecken zubleiben. Ihre Musik wogte zwischen hohen Dichtegraden und fein gesponnenen, leicht impressionistischen Ruhepunkten hin und her. Günter Sommer gehört mit seinem unglaublich mitteilsamen Schlagzeugspiel zur europäischen Spitzenklasse. Ulrich Gumpert stellte dann in drei Auftritten seine Workshop Band vor, in der einige der profiliertesten Vertreter der DDR-Jazz-Szene mitwirken: Heinz Becker, Trompete, Manfred Hering, Alt- und Tenorsaxophon, Ernst-Ludwig Petrowsky, Alt- und Sopransaxophon, Klarinette, Helmut Forsthoff, Tenorsaxophon, Conrad Bauer, Posaune, Klaus Koch, Bass und Günter Sommer, Schlagzeug. Sie alle verfügen souverän über die Spielmöglichkeiten ihrer Instrumente, machen eine Musik, die vor Energie beinahe zu bersten droht. Kantig gespielte Bläsersoli werden zu choralartigen Themen zusammengeführt, dazwischen türmen sich Crescendi steil auf, die immer wieder vom vitalen Schlagzeug gefordert werden, ausdrucksstarke Soli bauen die Klangdichte nach und nach ab, damit sich urplötzlich die ganze Band im Stil einer Zirkuskapelle präsentiert, sich mit viel Witz in einem Walzer ergeht, der sodann wieder verfremdet wird. Das Willem Breuker Kollektief kommt dabei unwillkürlich in Erinnerung. Dass hier abwechslungsreich, mit viel Phantasie und Können gespielt wurde, quittierte das Publikum jedes Mal mit freudigen Zugabeforderungen, sonst reagierte man bei anderen Auftritten eher distanziert und ernst.
Heiner Goebbels und Alfred Harth konnten einem beim Schlusskonzert am Sonntagabend schon leid tun, als sie sich bei Beginn ihres Auftritts nur noch einem versprengten Häuflein von Zuhörern gegenübersahen, das von der kurz zuvor noch Zugaben fordernden Masse übrig geblieben war. Sie sollten mit ihrer Verbindung von klassischer Musik und Free Jazz für einen harmonischen Ausklang des Workshops sorgen. Auffallend ist die Sorgfalt, mit der sie Themen von Rameau und Schumann auf zwei Saxophonen spielen. Ungewöhnlich ist auch die Zusammensetzung von Akkordeon (Goebbels) und Saxophon. Themen von Eisler oder auch ein Rezitativ aus einer Bach-Passion werden jetzt auch verjazzt – indem sie darüber freie Improvisationen entwickeln. Ihre klassische Schulung bleibt dabei jederzeit spürbar. Harth/Goebbels musizieren mit viel Geist, dabei nicht vergeistigt. Sie setzten einen letzten Akzent und Schlusspunkt zugleich unter einen Workshop Freie Musik bei dem es trotz des wohl verfehlten Leitmotivs doch einen vielseitigen Ausschnitt aus dem Bereich des freien Musizierens zu hören gab. Man darf allerdings gespannt sei, was von dem mitgeschnittenen Material demnächst auf FMP-Platten erscheinen wird.
aus: Jazz Podium # 4, April 1979

Ausstellung:

Wolfgang Burde
Entsprechungen im Bild
Bilder von Jazzmusikern in der Akademie der Künste
Dass zum Jazz auch eine reich gegliederte optische Dimension gehört, ist für jeden Jazzfan selbstverständlich. Dass Jazzer aber auch in der Tat Neigung und Vermögen haben, mit bildnerischen Mitteln ihre Gedanken auszudrücken und nicht nur mit musikalischen, demonstriert eine Ausstellung in der Akademie der Künste mit Arbeiten von Brötzmann, Bennink und Mengelberg, die aus Anlass des Workshop Freie Musik ’79 veranstaltet wurde.
Bennink zeigt sich auch in seinen Collagen – Zeichnungen von Vögeln, vom Meer mit aufgeklebten Requisiten: Federn oder Ausrissen aus Landkarten – als listiger, stets fintenreicher Individualist. Andere Objekte, etwa schellende Metronome, eine Havanna in der Mausefalle, haben in seinen naiv-verspielten Schlagzeugattitüden durchaus eine Entsprechung. Misha Mengelbergs Filme, darin durchaus seinem Klavierspiel ähnlich, sind auf eine tiefsinnige Weise trickreich. Und Peter Brötzmann stellt seine großformatigen Selbstbildnisse aus, mit schwerem westfälischem Pinsel und kräftigen dunklen Farben hingesetzt, zeigt „Meerstücke“ und bearbeitete schwarze Leinwände. Jede Arbeit, so scheint es, gleicherweise von Nachdenklichkeit und Kraft heimgesucht.
In einem zweiten Raum finden sich einige der Jazzfotografien, die der unermüdliche Werner Bethsold und seine nicht weniger fleißige Kollegin Dagmar Gebers in den letzten Jahren mit Glück für die freie Musikszene „formulieren“ konnten. Während Dagmar Gebers vor allem mit Action-Fotos überzeugt, mit Fotoserien, die Jazz-Abläufe zeigen, gelingen Bethsold Individualstudien der Musiker selbst. Das Atmosphärische der Szene, Tristesse und Impulsivität des Jazz, wird mit sehr viel Feeling gesehen.
Brötzmann, Mengelberg und Bennink spielten an diesem eher ausgelassenen Eröffnungsabend Jazz mit neodadaistischer Grimasse und nahmen sich im Verlauf der ausgedehnten musikalischen Exkursionen alle Freiheiten, die wir an diesem einzigartigen Medium schätzen gelernt haben. Ein angenehm familiärer, angenehm unausgewogener Abend, der auf zukünftige große Jazz-Ereignisse - von heute bis zum 4. März in der Akademie - hinwies und neugierig machte.
aus: Der Tagesspiegel/Berlin, 26. Februar 1979


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