Michael Thiem (1978)

aus: Die Suche nach Alternativen

Hier aus Michael Thiems Text über unabhängige Plattenfirmen in Deutschland
der Abschnitt über Free Music Production (FMP):

(…) Die Free Music Production kann beim Selbstproduzieren auf eine beinahe zehnjährige Erfahrung zurückschauen.

1968 war ein Schlüsseljahr. Peter Brötzmann aus Wuppertal spielte die Platte „Machine Gun“ ein und brachte sie selbst an den Mann. Sauer auf den etablierten Kunstbetrieb, der mit ihm nichts anfangen konnte und mit dem er nichts anfangen wollte, erteilte er diesem seine Absage: Weg damit, einfach umnieten. Die Musik ist entsprechend.

1968 gehört zu den Jahren der Studentenrevolten in Westeuropa. Vietnam und Benno Ohnesorg sind die äußeren Signale für den Umschlag des Antiautoritären im politischen Protest. Der Infragestellung der herrschenden Ordnung folgte die Suche nach Alternativen.

Peter Brötzmann damals zur „Machine Gun“: „Eine brutale Gesellschaft, die Biafra und Vietnam zulässt provoziert natürlich eine brutale Musik.“ 1968 befand sich nicht nur Peter Brötzmann im Dilemma zwischen Selbstverwirklichung und dem Zwang des täglichen Brotes.

1968 organisierten Berliner Jazzmusiker die erste Alternativ-Veranstaltung zum philharmonischen Jazz-Establishment im Quasimodo - mit kämpferischem Charakter. Aber kann man sich heute noch vorstellen, dass hier Peter Brötzmann zusammen mit John McLaughlin jammte?

Die Jahre der Studentenbewegung half den Free-Jazzern bei der Erkenntnis ihrer Position: einerseits für die Branchen-Größen der Schallplattenindustrie nicht interessant, weil überhaupt nicht Gewinn versprechend, andererseits nicht willens, aus kommerziellen Gründen musikalische Kompromisse einzugehen. Die Musiker hatten von den dort verbreiteten Machenschaften und Arbeitsbedingungen die Schnauze voll. Das fing beim Anzugzwang in der Philharmonie an und hörte bei miesen Plattenverträgen auf. Die Jazz-Avantgarde, die aus den Kellern kam, raufte sich im Abseits zusammen. Die Betroffenen griffen zur Selbsthilfe, schlossen sich zusammen und produzieren sich fortan selbst. Sie gründeten Organisationen auf Non-Profit-Basis, der Erlös sollte den Musikern zugute kommen. So konstituierte sich 1969 die Free Music Production (FMP) mit Geschäftssitz in Westberlin. Sie hatte, wie andere Organisationen, das Ziel, den Jazzmusikern unabhängig vom etablierten Musik-Business Arbeitsmöglichkeiten zu bieten und das interessierte Publikum ebenso unabhängig zu erreichen. Das heißt: sich verwirklichen, arbeiten zu können, ohne die wirtschaftlichen Usancen übernehmen zu müssen.

Drahtzieher der Kooperative waren Peter Brötzmann und Jost Gebers, der als einziger Nicht-Musiker den ganzen Betrieb zusammenhält.

Das Feld, das es zu beackern galt, ist bereits oben abgesteckt - und das war schwierig genug. Zuerst nahm man das Konzert- und Tourneemanagement in eigene Regie. Auf der Suche nach geeigneten, der Kommunikation zwischen den Musikern selbst wie auch mit dem Zuhörer dienlichen Präsentationsformen nahm man verschiedene Projekte in Angriff, die sich in der Retrospektive als erfolgreich erwiesen haben. Für Westberlin sind das das Total Music Meeting im Quartier Latin, die alljährliche Alternative zu den Berliner Jazztagen, der intimere Workshop Freie Musik zu Ostern (1978 der 10.!) in der Akademie der Künste und das Free Concert im Rathaus Charlottenburg. In allen diesen Veranstaltungen stehen die Künstler nicht unter Vorführzwang oder Zeitdruck, sondern können ohne Stress ihre Musik entwickeln und mitteilen. Der Hörer selbst findet sich in keine nummerierten Stuhlreihen eingezwängt, sondern kann sich frei im Raum verteilen - Eingeweihte bringen zum Workshop ihre Sitzkissen mit und lassen sich im Halbrund vor der Bühne nieder. Keiner soll sich genötigt fühlen, einen Set von Anfang bis Ende durchhören zu müssen, wer will, kann zwischendurch immer raus, mal ein Bier zu trinken. Die Eintrittspreise bewegen sich zwischen free (im Rathaus) und niedrig, bewusst dem zumeist dünn bestückten Geldbeutel des Interessenten angepasst. Das ist aber nur durchführbar mit Subventionen aus öffentlicher Hand, die so ziemlich jedes Mal neu erkämpft werden müssen - die FMP kann bald Lieder davon singen.

Und es gibt auch eine Menge Plattenproduktionen - inzwischen über 60 auf FMP und dem Schwesterlabel SAJ. Eine Schallplatte ist für die FMP nun nicht ein letztendliches fertiges Kunstwerk, sondern verlangt eher den Charakter eines Zeitdokuments, gibt den Abschnitt des Schaffens eines Musikers just zu diesem Moment wieder. Um der Situation der improvisierten Musik möglichst nahezukommen, werden viele Live-Aufnahmen veröffentlicht, denn: die Musik gilt, und nicht ein sorgfältig im Studio hingetrimmter Sound.

Neben den Platten der „Garde der ersten Stunde“; Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Irène Schweizer, das Globe Unity Orchestra, Peter Brötzmann natürlich… - gibt es auch viele Einspielungen von Musikern, die nicht zur Organisation der FMP gehören - Karl Hanns Berger, Radu Malfatti, Urs Voerkel, Steve Lacy, Noah Howard oder Ernst-Ludwig Petrowsky aus der DDR sind nur einige Namen. Aber die behalten trotzdem ihre vollen Rechte an ihren Produktionen - ein eisernes Grundprinzip in den Geschäftspraktiken der FMP. Die Platten auf dem Markt durchzusetzen, erwies und erweist sich immer noch als außerordentlich schwer und langwierig - 500 beträgt die Erstauflage! - auch wenn seit einiger Zeit der Bellaphon-Importservice den Vertrieb für die BRD, Westberlin, Österreich und die Schweiz übernommen hat und die FMP nicht mehr alles alleine verkaufen muss. Ein zuverlässiger Vertrieb in den USA wird dringend gesucht! So verwundert es kaum, wenn die FMP permanent mit roten Zahlen zu operieren hat.

aus: Jazz Forum # 52 (Polen), 2/1978

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