Wolfgang Burde (1979)

Sinnvolle Aktionen, nicht nur Sensationen

Zehn Jahre für den Free Jazz aktiv: Die Berliner Free Music Production

Dass Jazz, dass Free Jazz heute zu stilistischer Bindungslosigkeit tendiert, hat er mit Neuer Musik durchaus gemeinsam. Und weil das so ist, unterscheiden sich neuere Jazzproduktionen in der Regel oft nur voneinander durch den Grad der Gebrochenheit und durch das musikalische Material, durch die stilistischen „Hülsen“, mit denen umgegangen wird. Denn selbst in den changierendsten Stücken wird nicht der ganze, heute denkbare musikalische Horizont ausgeschritten. Dem mitteleuropäischen Jazz-Konzept jedenfalls geht es um Jazz-Intensität, um Verblüffung, um geistreiche Verknüpfungen des offenbar Heterogenen, um überraschende Assoziationen und Stimmungsumschläge.

Diese Kunst des Zwiespältigen und gelegentlich Zwielichtigen handhaben mit äußerster Virtuosität die holländischen Free-Musiker Misha Mengelberg (Klavier) und Han Bennink (Schlagzeug). Ihre Einspielung (Eine PartieTischtennis, SAJ-03) beginnt mit einem frechen, gleichsam steptanzenden Foxtrott, wird vom Klavier mit tremolierenden Klangbändern fortgesetzt und vom Schlagzeug nahezu kaputtgeschlagen. Wie in einer Fabel, spielt das Klavier die Rolle der tapferen, also auch einmal vor sich hin pfeifenden Maus, während der Löwe Schlagzeug genüsslich auf der Lauer liegt und mit dem herabsausenden Schwanz bereits ohrenbetäubenden, schrecklichen Lärm macht. Später wird Theaterdonner hörbar, kläglich gesungene Rezitative brechen sich Bahn und geschriene Ausbrüche. Thelonious Monks linkische, tapsige Klavierklänge blühen auf, Tangomuster, auch Weill-Zitate irren herum, und immer wieder entsteht eine Art musikalische Katastrophe der Selbstäußerung, zu der das Klavier Kaskaden à la Cecil Taylor beisteuert. Die beiden tingeln den alten Blues oder lösen die Jazz-Prozesse in Gags auf, so dass die Musik nur noch als literarisches Konzept fortströmt. Aber, wie sie all das zerbrechen und zusammenfügen und wie sie blinzeln, das ist einfach hinreißend.

Ulrich Gumpert (Klavier) und Günter „Baby“ Sommer (Schlagzeug) (FMP 0620), die Ost-Berliner Free Jazzer, gehen zugleich gelassener und ökonomischer mit ihren Zeitprozessen um. Ausgangspunkt ist zunächst ein chromatisch absteigendes Motiv, das harmonisiert, das heterophon umspielt und schließlich auch rhythmisch akzentuiert wird. Auch hier spielen Interpolationen eine große Rolle, aber die Zeit wird oft genug, besonders im Klavier, ostinat ausgebreitet, wird mit „asiatischem“ Zeitgefühl angegangen und verbraucht. Auf der zweiten Plattenseite arbeitet Gumpert dann mit Romantizismen, die nach Keith Jarrett schmecken. Er freilich, will das nicht wahrhaben, wie in einem Interview zu lesen ist: „Ich halte die romantischen Strömungen im Jazz für gefährlich und würde mich…in Richtung Cecil Taylor einordnen“. Gumpert und Sommer sind hervorragend aufeinander eingespielt.

Das Cover von „Horns“ (FMP 0660) zeigt eine Gruppe berühmter europäischer Jazz-Bläser in voller Aktion. Gruppen-Improvisation ist aber nur ganz am Ende des nahezu 45minütigen Prozesses zu hören. Im Grunde handelt es sich bei „Horns“ um eine Folge von sechs Soli, die nur an den Nahtstellen, in den Augenblicken der Ablösung, zweistimmig verzahnt sind. Man hat also Gelegenheit, die Handschriften der einzelnen Musiker genauer studieren zu können, und das Resultat ist überraschend: es gibt keinen Reinfall, dagegen werden einige ganz ungewöhnlich dichte und ausdrucksstarke Jazz-Exkursionen hörbar. So etwa spielt Manfred Schoof (Trompete) sehr konzentriert und setzt neben seine charakteristischen glissandierend virtuosen Passagen hauchdünne Ariosi oder inszeniert latente Zweistimmigkeit durch blitzschnelle Lagenwechsel. Pfiffig allemal, bald ordinär geschwätzig, bald witzig agitierend, dreinfahrend dramatisch oder aber ersterbend handhabt Günter Christmann sein Posaunen-Solo, das auch hier wieder durch seinen imaginär dialogischen Charakter verblüfft; durch eine ausgefeilte Dramaturgie auch, die so intim wie überredend ist. Sehr schön auch das Solo von Mangelsdorff (Posaune), das hier vor allem vom Wechsel gestochener, herausgestoßener solistischer Ausbrüche und wohlig-wattig gesponnenen Zweiklängen lebt. Gerd Dudek, Kenny Wheeler, Paul Rutherford, sie alle spinnen solistische Prozesse aus, deren Klangkultur, Virtuosität und Einfallsreichtum insgesamt zu einem schönen Zeugnis für das Niveau des europäischen Free Jazz wird.

Das musikalische Material, mit dem der europäische Free Jazz umgeht, hat vielfältige Wurzeln, die ganz unmittelbar mit unserer Tradition zusammenhängen. Zur Tradition gehören das Volkslied, gehören Tanz und Marsch, gehören Songtypen, wie sie in den zwanziger Jahren entwickelt wurden - fermentierte Tradition also -, gehören aber auch Formen und stilistische Haltungen, die Jazz-Musiker von den E-Musikern übernommen haben: motivisch-thematische Arbeit, funktional-harmonische oder modale Wendungen, Charaktere der neuen Musik, die Attitüden Bartóks oder Ravels entnommen sind, punktuelle oder statistische Strukturen oder solche der Klangfarbenkomposition.

Solche vielfältigen Traditionsbilder schlagen in zwei Einspielungen durch, die größeren Jazz-Formationen gewidmet sind: The Ulrich Gumpert Workshop Band (FMP 0600) und The Berlin Jazz Workshop Orchestra (SAJ-24). Der Jazz Workshop, der durch den DAAD-Aufenthalt, durch ein Stipendium für John Tchicai ermöglicht wurde, fand im August 1978 elf Tage lang statt und kam zwanzig Musikern aus der Bundesrepublik, aus Belgien und Dänemark zugute.

Die Resultate solcher Workshops sind freilich eher heterogen. Vorgezeigt wird vor allem, was gelernt worden ist; und nur in Ansätzen werden eigene kompositorische oder instrumentale Handschriften erkennbar. So beispielsweise in „Surface“, einer sechsminütigen, eigentümlich abgedunkelten Studie großräumig inszenierten, aber eingeschnürten Bläserklangs, von beträchtlicher Expressivität, die Friedemann Graef schrieb. Graef arbeitet seit Jahren in Berlin mit einer eigenen Gruppe und lege 1977 eine erste Einspielung vor: Daily New Paradox (FMP 0450). Auffallend in diesem Rahmen auch das jagende Espressivo des Stückes „Resultat“ das der Kontrabassist Hans Schneider komponierte; interessant das Marschfragment „Marsch II“ des Saxophonisten Ludolf Kuchenbuch, das seine Herkunft von Willem Breuker nicht verleugnet, aber durch Prägnanz und Einfallsreichtum besticht.

In einem Jazz-Gespräch äußerte sich Ulrich Gumpert zu „konstruktiven Ansatzpunkten“ der Jazz-Improvisation. „Man hat ein weites musikalisches Feld vor sich, kann dieses oder jenes herausgreifen und eigentlich alles machen. Die erste Realisierung dessen, was mir vorschwebt, war die Suite „Aus teutschen Landen“ (Volksliedadaptionen). Darüber hinaus sehe ich Ansatzpunkte in der Jazzentwicklung etwa bei Thelonious Monk, bei Cecil Taylor, bei den „Holländern“ um Willem Breuker und Misha Mengelberg und natürlich auch in der zeitgenössischen E-Musik; Hanns Eisler nicht zu vergessen!“

In der vorliegenden Einspielung der Gumpert Workshop Band, die im Studio von Radio DDR-Berlin entstand und die wesentliche Free-Jazz-Musiker der DDR vorstellt (neben Gumpert: Bauer, Petrowsky, Sommer und andere), sind solche vielfältigen musikalischen Einflussbereich durchaus spürbar. Wie bei den „Holländern“ wechseln hier musikalische Versatzstücke – Marsch, Walzer – ihren Platz, oder aber die Himbeersoße einer alten Tanzkapelle ergießt sich durch die Jazz-Zeit, und manchmal klingt es, als ob eine Begleitpartie eines Weill-Songs säuberlich nachgespielt würde. Dann freilich verhakt sich die Gruppe in ein Ton-Detail und stößt über solche Einton-Invention ins freie Spiel vor, also etwa in eine Chaos-Struktur. Kräftiger durcharrangiert als vergleichbare Arbeiten von Globe Unity, Alexander von Schlippenbachs, probiert Gumperts Band auch an historischen Jazz-Modellen herum, an Cool-Jazz oder Swing, adaptiert aber auch neuere Errungenschaften: etwa das Jazz-Fieber Cecil Taylors. Musik, die auf den Punkt kommt, die ungewöhnlich präzis ausgespielt wird.

Dass auch solche DDR-Produktionen dokumentiert und publiziert werden können, dafür sorgt seit vielen Jahren nun schon die Berliner Free Music Production. Im September feierte sie ihr zehnjähriges Bestehen.

Diese Non-Profit-Organisation wuchs einst aus dem Gegenfestival „Total Music Meeting“ heraus, verstand sich als Kollektiv des Jazz und spielt heute als Konzertagentur neuen Stils und nicht zuletzt als Schallplatten-Firma eine wesentliche Rolle für die Freie Musik. Die Seele und Techniker des Unternehmens ist Jost Gebers, der in zehn Jahren mit wenigen Helfern eine Dokumentation des neuen Jazz aufgebaut hat, die ihresgleichen sucht: bisher sind etwa achtzig Schallplatten ausgeliefert worden. FMP ist ein Symbol der Hoffnung und der Selbsthilfe der Jazz-Musiker in einer kulturellen Szene, die immer noch darauf aus ist, Sensation zu produzieren, anstatt Musikern Gelegenheit zu geben, zu sich, zu ihrer Musik zu kommen.

Es gibt also viele Gründe der FMP zu ihrem zehnten Geburtstag zu gratulieren, und am besten erkundigt man sich einmal nach ihren Konzertaktivitäten und nach ihrer Schallplattenproduktion.

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Oktober 1979

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