Wilhelm E. Liefland (1979)

FMP 0600 Ulrich Gumpert Workshop Band
FMP 0620 Ulrich Gumpert & Günter “Baby“ Sommer

Mit einem sogenannten Marsch, im Hauptmotiv an einen der Schubertschen Deutschen Märsche anklingend, eröffnet die Ulrich Gumpert Workshop Band aus Ost-Berlin/DDR, der Hauptstadt, ihre Platten-Neuveröffentlichung, erschienen bei der Free Music Production, dem Produktionszweig jener Free-Jazz-Musiker-Cooperative, die voriges Jahr mit ihren beiden Alternativ-Institutionen Total Music Meeting einerseits und dem Workshop Freie Musik in der Akademie der Künste andererseits ihr zehnjähriges Bestehen feiern konnte; die bislang rund 90 Schallplatten veröffentlichte; die damit ein Zentrum des europäischen Free- und Avantgarde Jazz wurde; die in einzelnen Mitgliedern (Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Han Bennink, Jost Gebers) mit Preisen ausgezeichnet wurde; die schließlich in jahrelanger geduldiger Arbeit und zähen Verhandlungen mit den Behörden der DDR für die Bekanntmachung des Neuen Jazz aus der DDR im Westen gesorgt hat.

Das ist der Hintergrund, warum eigentlich erst jetzt die Musik der real-sozialistischen Jazzer ins Bewusstsein der Jazz-Liebhaber und der Öffentlichkeit rückt. Der neue Jazz, der Free Jazz, hat sich im wesentlichen in Ost-Berlin, im Umkreis von Martin Linzers „Jazz in der Kammer“ und den Studio-Ensembles des Rundfunks der DDR entwickelt. Und er hat sich im wesentlichen parallel zum amerikanischen Free Jazz, aber auch gegen ihn, d.h. parallel zu westeuropäischen Emanzipationsbewegungen im Jazz herausgebildet. Und er kann es instrumentalistisch, kompositorisch und improvisatorisch allemal mit den „Westlern“ aufnehmen. Das hat Jost Gebers, Produzent und Geschäftsführer der FMP, der Herbert Wehner des Free Jazz, schon sehr früh gemerkt und jahrelang versucht, die Ostmusiker zu den West-Konzerten zu holen, was schon einige Male gelungen ist, zuletzt für den Workshop Freie Musik der Akademie der Künste in diesem Frühjahr. Überdies konnte er Platten-Veröffentlichungsverträge mit der Ost-Firma VEB Deutsche Schallplatten Berlin DDR des Labels Amiga sowie dem Rundfunk der DDR abschließen. So sind schon früher einige LPs bei der FMP erschienen – natürlich auch innerhalb der DDR auf Amiga, unabhängig von der FMP. – Damit sind die Musiker genannt, die auch heute und auf den neuen Platten den DDR-Avantgarde-Jazz machen und repräsentieren. Und natürlich sind sie allesamt musikalische Individualitäten. Jazz und Free Jazz fällt nicht vom Himmel, im Westen nicht durch höhere Inspiration, im Osten nicht durch den realen Weltgeist. Mit „Marsch, Marsch“ (worin ein „kaputtes“ Schlagzeugsolo Günter „Baby“ Sommers), und dem Einstieg in die „Jubilee Suite“, an dem man eine komplette stilistische Genealogie festmachen kann vom traditionellen Boogie über Bebop über Thelonious Monk zum Free Jazz, befinden sich die Musiker auf einem auch von westlichen Free-Jazz-Formationen abgesteckten parodistisch-satirischen Terrain. So klingt es auch gelegentlich (vielleicht etwas zynischer) bei Carla Bleys Gruppen aus New York, bei Willem Breukers Kollektiv aus Holland, bei Alex von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra aus Deutschland, Europa und der Welt. Damit ist auch ein enormer musikalischer Formenreichtum angedeutet, mit dem auch gerade die Uli Gumpert Band heute umgehen kann. Günter Sommers Stück „Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil“ klingt in Petrowsky’s Synopsis Quartett von 1974 noch verhältnismäßig orthodox. Zu den großflächigen Choral-Intonationen kollektiver Improvisation, wie vor allem sie Albert Ayler praktizierte, tritt in der neuen Fassung der Ulrich Gumpert Workshop Band (FMP 0600) (im Vergleich zu Synopsis eine Big Band, die in dieser Besetzung beim letzten Workshop Freie Musik in Berlin und beim diesjährigen 8. New Jazz Festival in Moers an Pfingsten auftrat) mehr rhythmische, divergierende Vielfalt und Klangfarbe. Aus diesem Ensemble hochkarätiger Jazzer haben sich in den letzten 5 Jahren Einzelgruppierungen ergeben, wie natürlich.(…)

Eine rasante Einzelgruppe ist das Duo Gumpert/Sommer mit Klavier und Schlagzeug „…jetzt geht’s Kloß“ (FMP 0620) ist eine Live-Aufnahme des „Jazz-in-der-Kammer-Konzertes 102“ in Ost-Berlin von 1978. In dynamischen und dramatischen Abläufen schöpfen die beiden in freier Entfaltung aller Möglichkeiten ihrer Instrumente aus. Cluster wie bei Cecil Taylor, rhythmische Feinstrukturen bei hoher Schlag-Geschwindigkeit am Schlagzeug, ironische Stockungen wie von Han Bennink und intensiver, beide äußerst präzise und spontan aufeinander reagierend, Gumpert nicht fern von Alex von Schlippenbachs perkussiver Motiventwicklung, hier und da Straight-Spiel wie aus historischer Distanz.

Der Anfang der zweiten Seite ist ein atmosphärisch dichtes Stück Musik-Theater. („Hombre, komm ’raus“). In allen Formen und Traditionen der Jazzgeschichte, vornehmlich aber auch der folkloristischen Adaptionen und Volksmusik zu Hause, formen die Musiker das Material zu einem durchaus selbständigen Idiom, sind da auch andere, die auf (zwangsläufig?) ähnliche Ideen kommen, wie seinerzeit das Liberation Music Orchestra von Charlie Haden und Carla Bley, die als „politische“ Jazzer z.B. die Lieder der internationalen Brigaden des Spanischen Bürgerkrieges für ihren großformatigen Free-Jazz verwendeten. So ähnlich klingt an manchen Stellen die „Jubilee Suite“ von Ulrich Gumpert, die mit einem offenen, unaufgelösten Akkord endet.

Diese Art Fragen stellt die politische Realität im Augenblick allemal. Die offene Form ist sicher ein Zeichen dafür, dass die kollektiv schöpferischen Free Jazzer, diese Mannigfaltigkeit in der Einheit, für das Leben, die Utopie votieren; je intensiver, desto offensichtlicher die Systeme sich schließen.

aus: Jazz Podium # 9, September 1979

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