Wolfgang Sandner (1979)

Den Fingerschnalzern des Jazz ein Schnippchen geschlagen

Klaviermusik von Irène Schweizer, Elmar Kräling, Fred Van Hove und Alexander von Schlippenbach

Die Frage nach der Essenz des Jazz – zyklisch immer wiederkehrend – wurde bisher vorwiegend abstrakt, beispielsweise mit dem sogenannten Offbeat-Phänomen, oder aber mystisch, unter Hinweis auf Ellingtons „It Don’t Mean A Thing If It Ain’t Got That Swing“, beantwortet. Zur Unterstützung der Argumente ließ man dann gewöhnlich Daumen und Mittelfinger der rechten Hand schnalzen und stemmte dabei die linke Hüfte nach außen - oder umgekehrt. Was ist Jazz? Swing! Swing? Yeah, man …schnalz, schnalz! Alles klar?

Vielleicht sollte man es einmal mit dem Stellenwert einzelner Instrumente innerhalb der musikalischen Entwicklung versuchen. Wenn das allmächtige Klavier im Vergleich zu den lediglich linear einsetzbaren Instrumenten wie Saxophon oder Trompete im Jazz meist eine tertiäre Rolle gespielt hat, dann muss das doch daran liegen, dass hier andere „Machtverhältnisse“ herrschen, mit anderen Worten, die europäischen Prinzipien von Rhythmik, Melodik und Harmonik nicht ausreichen, um eine Phänomen zu erklären, das durch die afrikanischen Vorstellungen von Timbre und Zwischentönen entscheidend mitgeprägt wird. Der prototypische, der karikierte, der auf den Begriff gebrachte Jazzmusiker: das ist nicht der mit flinken Fingern über die starren Tasten huschende Oscar Peterson, das ist vielmehr Coleman Hawkins, wie er seinem gebogenen Horn die gebogenen Töne von „Body and Soul“ entlockt.

Aber auch der Jazz hat sich gewandelt. Als Indiz dafür mag gelten, dass seit 1960 – nicht ohne Grund – das Präfix Jazz- vom Wortstamm –Musik allmählich eliminiert wurde. Und in dem Maße wie die Free Jazzer zur Free Music tendierten, spielte auch die Hierarchie der Instrumente nur mehr eine untergeordnete Rolle. Freiheit bedeutete auch Freiheit von den Ingredienzien des Jazz. Um die wachsende Bedeutung des Klaviers seit der stilistischen Revolution des Free Jazz erschöpfend zu erklären, müssten sicherlich noch andere Faktoren herangezogen werden. Aber die stilistische und spieltechnische Öffnung dürfte dabei ein entscheidendes Kriterium bilden.

Wer von Innovation der Klaviertechnik in den letzten zwanzig Jahren Jazzentwicklung spricht, der kann den Namen Cecil Taylor nicht ignorieren. Taylor gehört zu den Free Jazzern der ersten Stunde. Für die politisch und damit bisweilen musikalisch blind argumentierenden schwarzen Theoretiker hat er den Jazz zu seinem anarchischen Ursprung zurückgeführt, indem er angeblich eine positive Trennung von der europäischen Musiktradition vorgenommen hat. Taylors Clustertechnik, seine Auflösung von Begleitfunktionen, die rabiate Intensität seines Spiels haben in der Tat das Jazzpublikum in der Kellerkuppel ratlos hinterlassen. Aber das haben schließlich auch die Werke von Stockhausen, von Boulez oder Ligeti, denen Taylor im übrigen fast näher steht als der Jazztradition.

Von den Musikern des Jazz wurde Taylors Botschaft verstanden. Selbst die heute als die wichtigsten Vertreter eines retrospektiven Klavierstils angesehenen Chick Corea und Keith Jarrett haben von Taylors Errungenschaften, seiner kompromisslosen Musiksprache, der Härte seine Stils wenigsten zeitweise profitiert. Vor allem aber in der europäischen Variante zum Free Jazz hat Cecil Taylor bis heute seine Spuren hinterlassen. Deutlich ist dies eigentlich schon immer im Spiel Alexander von Schlippenbachs zu spüren gewesen. Manchmal hat Schlippenbach die Clustertechnik Taylors, die – wie Ekkehard Jost in seinen Analysen nachweisen konnte – vielfach aus dichten, clusterähnlichen Akkordkomplexen bestand, zum Exzess getrieben. Ähnlich wie in den rasenden Läufen des Trompeters Manfred Schoof ist auch Schlippenbachs Karatestil auf dem Pianoforte (oder eigentlich besser: Forteforte) ein ohnmächtiger und doch bewundernswerter Versuch, die Grenzen des Instruments durch blanke Physis zu überschreiten.

Auch auf seiner Solo-Schallplatte bei der Berliner Free Music Production (FMP 0430) lässt Schlippenbach die Klavierstimmer nicht verkommen. Jost hat die Polarität von Spannung und Entspannung im Jazz bei Taylor als eine Polarität von Spannung und Ins-Stocken-Geraten gekennzeichnet. Das prägnante Bild trifft noch mehr auf Schlippenbachs Spiel zu.

Die klanglich und dynamisch reduzierten Phrasen tragen die spieltechnischen Attacken stets latent in sich. Da ist keine Entspannung möglich. Pausen sind keine organischen Ruhepunkte, sie wirken wie Filmrisse: Verschnaufen wider Willen. Aggressivität und Hochspannung können aber auch anders genutzt werden. Irène Schweizers Hexensabbat (FMP 0500) weist den Weg, weil sie die Wucht des Flügels durch Präparation geschickt stutzt. Schlippenbachs Klavierspiel hat die Dimension des Schlagzeugs wiederentdeckt (immerhin zählte das Piano jahrzehntelang zur Rhythmussektion im Jazz), Irène Schweizers Spiel die des Perkussionsklangs. Der Unterschied ist frappierend.

Irène Schweizer erschließt – ohne einen Hauch poetisch-konzilanten Spiels – eine immens farbige Klangwelt, in der die Akkordmixturen von Thelonious Monk ebenso ihren Stellenwert haben wie die Kontrapunktik eines Lennie Tristano („Chabis“) oder die Flügel-Präparierungstechniken der E-Musiker in der Nachfolge von John Cage; nur dass es bei der sogenannten ernsten Musik vielfach bei der Intention bleibt, Irène Schweizer aber die äußersten Klangwirkungen des Flügels nutzt. Gegen „Hexensabbat“, das Titelstück, oder gegen „Monkey Woman“ kommt einem Cages „Prepared Piano“ wie ein einziges hübsches Toy Piano vor. Ein ungemein kontrolliertes, intellektuell und technisch-manuell überlegenes und trotzdem auch emotional überwältigendes Spiel.

Wie sehr Cecil Taylors Stil virulent ist, spürt man auch bei jüngeren Musikern wie dem relativ unbekannten, einundzwanzigjährigen Aachener Pianisten Elmar Kräling, der noch Musik studiert, ein eigenes Trio besitzt und von FMP die Chance erhielt, eine Solo-LP aufzunehmen (FMP 0560). Taylors Stil ist hier nicht nur präsent in seiner konstruktivistischen Dichte, er ist es auch in der Starrheit des rhythmischen Elements, das mit herkömmlichem Jazz-Swing nichts zu tun hat. Kräling hat im übrigen durch die Kürze seiner Stücke die Gefahr des permanenten Powerplay und der Wiederholung vermieden und eine relativ geschlossene Palette von Formen und stilistischen Spielpraktiken offeriert. Monks verquere Harmonik, die Ästhetik der sanften Töne von Bill Evans („Thoughts On My Love“) sind Elmar Kräling so geläufig wie die stockende Blockbildung Tristanos, die rhythmische Schlagkraft eines „Allegro barbaro“ („Düstere Klüster“) oder auch die tosend-extrovertierte Konzertparaphrase des 19. Jahrhunderts, die sich ausgerechnet aus einem Begleitpart zu einem „Lied für Hanns Eisler“ entwickelt.

Eigenartig gedämpft, fast verinnerlicht wirkt dagegen manches auf der Solo-Platte von Fred Van Hove (SAJ-11), dem agilen Mitstreiter in zahllosen Free-Jazz-Schlachten des Saxophonisten Peter Brötzmann und des Schlagzeugers Han Bennink. Wenn Van Hove den Boden bearbeitet, auf dem der Flügel steht, wenn er eine Trillerpfeife betätigt oder seine Klavierakkorde mit Glockenklängen übertönen lässt, dann hat man bisweilen den Eindruck, als habe er nicht das Klavier, sondern sich selbst von diesem emanzipiert. Deshalb ließe sich Van Hoves Produktion auch als ein Aphorismus zum zeitgenössischen Jazz verstehen, als eine Musik, die sich nicht der trügerischen Hoffnung hingibt, mit Kompositionsprinzipien wie Spannung oder Entspannung ließe sich ein abgeschlossenes Werk schaffen. Selbst sein „Tange Reveil“ ist in seiner Brüchigkeit, seinem fragmentarischen Charakter kein Stück, das motorische Bedürfnisse befriedigt. Wer das bedauert, der sei an LeRoi Jones’ Verteidigungsrede für Cecil Taylor erinnert: „Es gibt im Augenblick eine kleine Gruppe von Klubhabitués, die herumposaunt, sie könne zu Taylors…Musik die Finger nicht schnalzen. Dazu sage ich: Mit euren Fingern muss was nicht in Ordnung sein.“

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. April 1979

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