Peter Kemper (1983)

Das ästhetische Wagnis
Zur Lage der „Free Music Production“

Leider stimmt bei sogenannten Non-Profit-Organisationen der Anspruch, keine Gewinne auszuschütten, nur allzu oft mit der nüchternen Realität überein, auch keine Gewinne zu haben. Die Konsequenzen dieses Dilemmas bekommt derzeit die Berliner „Free Music Production“ zu spüren. Als eine Presseerklärung vorausgegangene Spekulationen zu bestätigen schien, wonach die international renommierte Musikerorganisation wegen überhöhter Verschuldung Anfang 1984 ihre Arbeit einstellen müsste, zeigte sich nicht allein die jazzinteressierte Öffentlichkeit alarmiert. Auch im Lager der E-Musik-Avantgarde wurden warnende Stimmen laut, dass mit dem Ende dieses seit mehr als fünfzehn Jahren funktionierenden Arbeitszusammenhangs in der musikalischen Landschaft der Bundesrepublik eine Lücke entstehen würde, die mit Sicherheit wohl nicht so schnell wieder geschlossen werden könnte.

Was hat die FMP bisher geleistet, und wie ist sie in diese finanzielle Misere hineingeraten? Seit 1968 versucht die Initiative durch regelmäßige Workshops, Konzertreihen und Schallplattenveröffentlichungen Tendenzen frei improvisierter Musik zu dokumentieren. Schon vorher hatte ein Auftritt des „Globe Unity Orchesters“ um den Pianisten Alexander von Schlippenbach auf den Berliner Jazztagen signalisiert, dass auch in Deutschland der Free Jazz im Aufwind war. Nicht zuletzt durch die Pionierarbeiten von Irène Schweizer, Gunter Hampel, Peter Brötzmann und Manfred Schoof galt in jenen Tagen die „freie Improvisation“ als alleinseligmachendes Modell „herrschaftsfreier Kommunikation“ zwischen Individuum und Kollektiv. Ein neuer Typ von aufgeklärtem Sozialverhalten, eine Vision erträglichen Zusammenlebens schien in den Kindertagen der FMP am Horizont ihrer unberechenbaren Klangexperimente aufzugehen.

Ein Schwerpunkt der Arbeit war die Schaffung von Spielmöglichkeiten für engagierte Nachwuchsmusiker, aber auch für die unerschütterlichen Barrikadenstürmer vom Schlage Brötzmann, Kowald oder Carl. Seit 1968 wird alljährlich das „Total Music Meeting“ in Berlin zum Forum ihrer Ekstasen. Daneben entstanden der „Workshop freie Musik“ - und zum fünfzehnten Male fand er in diesem Jahr in der Akademie der Künste statt - und Konzertreihen wie die „Free Concerts“ im Rathaus Charlottenburg oder „Jazz Now-Veranstaltungen. Die beiden FMP-Initiatoren Jost Gebers und Peter Brötzmann hatten dabei immer eine besondere Rezeptionsästhetik im Blick: Anstelle von fertigen Ergebnissen, abrufbaren Kompositionen und einstudierten Musiktiteln sollten die Besucher vielmehr am mitunter mühevollen Arbeitsprozess der Musiker, an ihrer experimentellen Suche nach neuen Ausdrucksformen unmittelbar teilhaben.

Kein Wunder, dass auch die Plattenproduktionen der FMP, in der Regel Live-Mitschnitte von selbst veranstalteten Workshops, diesem Ideal einer möglichst unverfälschten Authentizität huldigen. Da wird nichts nachträglich elektronisch geschönt, allein der Moment des Schallereignisses zählt für die Konserve. Roh, unbearbeitet, bisweilen grob auch die graphische Gestaltung der Plattenhüllen. Der Mut zum ästhetischen Wagnis, die Lust an der eigenen Konsequenz, all diese Charakteristika wurden zu Markenzeichen der FMP.

Neben der fortlaufenden Entdeckung von Talenten in der Bundesrepublik und in West-Berlin wie dem Gitarrentüftler Hans Reichel, dem Christmann-Schönenberg-Duo oder dem Pianisten Martin Theurer förderte die FMP seit 1072 den Kulturaustausch mit der DDR in geradezu vorbildlicher Weise. Sie machte prominente Jazzmusiker aus dem anderen Teil Deutschlands wie Ernst-Ludwig Petrowsky, Hans Rempel, Ulrich Gumpert, Günter Sommer oder Conrad Bauer im Westen bekannt, veröffentlicht Plattenaufnahmen von ihnen und vermittelt seit 1978 Konzerte mit DDR-Musikern in der Bundesrepublik.

Finanziert wurden die regen Aktivitäten der FMP durch private Spender, durch die Plattenverkäufe, im Wesentlichen aber durch Subventionen von der Akademie der Künste und der Berliner Festspiele GmbH. Als 1979 bei einem Einbruch die gesamte Technik der Organisation gestohlen wurde, kam erstmals auch Hilfe vom Berliner Senator für Wissenschaft und kulturelle Angelegenheiten. Nach Auskünften seines Büros sind in den letzten drei Jahren rund 120 000 Mark Zuschüsse an die FMP gegangen. Als zusätzlicher Förderer zeigte sich in der Vergangenheit der DAAD, der FMP-Musikern, wie zuletzt dem holländischen Pianisten Fred Van Hove, Stipendien gewährte.

Erste Anzeichen dafür, dass die Situation für die FMP in Berlin schwierig werden würde, konnte man schon auf dem letztjährigen „Total Music Meeting“ spüren. Seit nunmehr dreizehn Jahren im ehemaligen Kino „Quartier Latin“ untergebracht, konnte die fünftägige Veranstaltungsreihe ihrem Ruf, ein Alternativfestival zum „Jazzfest“ in der nahe gelegenen Philharmonie zu sein, nur noch schwerlich gerecht werden. Dazu kam ein offenkundiger Geschmackswandel bei weiten Teilen des Publikums: die ruppige, bisweilen orthodox wirkende Free Music, wie sie die FMP favorisiert, kollidierte mit den neuen Experimentiergelüsten aus dem Bereich der New-Wave-Rockmusik ebenso wie mit dem wiedererwachten Traditionalismus im modernen Jazz.

In den Konzerten des diesjährigen „Total Music Meeting“ war jetzt nur noch ein „harter Kern“ von Unbestechlichen übrig, ein Häuflein Zuschauer, die den innovatorischen Charakter frei improvisierter Musik jedem „Highlight“ in der Verwertungsmaschinerie des „Jazzfestes“ vorzogen. Dabei profitierte das „Jazzfest“ gerade in diesem Jahr besonders von den Vorleistungen der FMP: Musiker wie Heiner Goebbels und Alfred Harth, die mit dem „Duck & Cover“-Projekt für ein beklemmendes Beispiel der rebellischen Post-Punk-Ära sorgten, Richard Teitelbaum, der als Computerspezialist seine „Digital Piano Music“ aufführte, Martin Theurer im Duo mit Schlippenbach oder auch das DDR-Gespann Sommer / Wauer ernteten im glanzvollen Ambiente des „Jazzfests“ die Lorbeeren, die eigentlich der FMP gebührt hätten.

Wie dem auch sei, die „Free Music Production“ wird in der bisherigen Form nicht überleben können. Das Total Music Meeting dürfte nach Aussagen von Jost Gebers zum letzten Mal veranstaltet worden sein. Über die Jahre hinweg haben sich die Verbindlichkeiten der Kooperative, die auf dem Papier offiziell nie als Firma existiert hat und als juristisch Verantwortlichen allein den Mitbegründer Jost Geers kennt, zu einer Höhe summiert, die aus eigenen Kräften nicht mehr bewältigt werden kann. Deshalb bemüht sich die FMP gegenwärtig beim Berliner Kultursenator Hassemer um grundlegende Hilfe. Aus der Sicht der FMP würde das eine generelle Entschuldung der Organisation in Höhe von rund 500 000 Mark bedeuten.

Hauptgrund für die missliche finanzielle Lage der FMP dürfte ihre Veröffentlichungspolitik von selbstproduzierten Schallplatten sein. Obwohl die Musiker in der Regel am Umsatz nicht beteiligt werden und ihr Produktionshonorar abgegolten ist (hier irrt der Autor: die Musiker wurden nach Presszahlen honoriert), rentieren sich die Schallplatten in der Regel nicht. Auflagen von 10000 Stück gelten als Spitze, Verkäufe von gar 2000 Exemplaren wie im Fall einer Trilogie der Brötzmann-Gruppe mit Albert Mangelsdorff sind eine große Ausnahme, viele Aufnahmen stagnieren bei einer Auflage von 500. Obwohl die mehr als einhundertfünfzig Plattenveröffentlichungen der FMP nichtkommerziellen Charakter haben - eine goldene Nase hat sich niemand dabei verdient - stellt die Fortführung der bisherigen Schallplattenproduktion das Haupthindernis in den Gesprächen zwischen Gebers und dem Senat dar. Im Büro Hassemer ist man der Auffassung: „Man kann eine Plattenfirma mit privatwirtschaftlichem Interesse, auch wenn es ein Alternativ-Label ist, nicht mit Steuergeldern zur freien unternehmerischen Verfügung subventionieren.“ Rein, haushaltstechnisch erscheint dies schon nicht möglich. Deshalb plädiert die Senatsseite dafür, Plattenproduktion und Verkauf aus dem zukünftigen Organisationsrahmen der FMP herauszunehmen und sich statt dessen auf Workshops, auf länger dauernde Konzertreihen zu konzentrieren, die unter der Federführung der FMP Musiker aus unterschiedlichsten Musikbereichen zusammenführen könnten. Sozusagen ein Forum ständiger Grenzüberschreitungen.

Die FMP dagegen wünscht sich einen Regenerationsprozess, in dessen Verlauf auch ihr Archiv mit unzähligen Ton-, Bild- und Textdokumenten zur Geschichte des europäischen Free Jazz aufgearbeitet und für die musikwissenschaftliche Forschung zugänglich gemacht werden könnte. Man hält ein Büro als ständige Anlaufstelle für ebenso unverzichtbar, wie einen Raum für Proben und Workshops, in dem auch die gesamte Technik untergebracht werden kann. In diese Richtung zielen auch die Vorstellungen des Kultursenators, der sich von der eingeführten FMP mit ihren internationalen Kontakten natürlich auch in Zukunft eine Bereicherung des Berliner Konzertlebens erhofft.

Zunächst geht es jedoch darum, die wirtschaftliche Situation der FMP zu bereinigen, „das Ganze mit puls/minus null in eine neue Form zu bringen, damit Gebers sich nicht als Privatschuldner gegenüber Dritten verantworten muss“. Neben der kurzfristig erforderlichen Finanzspritze scheint mittelfristig eine Summe von rund 300 000 Mark nötig zu sein, um an einem neuen Ort und mit einer Komplettierung der Technik die Arbeit der FMP zu sichern. Dies erscheint zweifellos nicht nur im Interesse des Berliner Kulturlebens als wünschenswert. Erst im Herbst dieses Jahres sorgten von FMP-Leuten initiierte „Grenzüberschreitungen“ in Wuppertal für unerhörte Synthesen aus Musik, Tanz und Literatur.

Obwohl die jüngsten Gespräche zwischen offiziellen Stellen und den Hauptverantwortlichen der Organisation andeuten, das es mit der FMP, wenn auch in „verschlankter“ Form weitergehen wird - die Akademie der Künste hält bereits die finanziellen Mittel für den „Workshop Freie Musik ’84“ in Bereitschaft -, ist FMP-Macher Jost Gebers nach wie vor skeptisch: „Man kann nicht einzelne Teile wie Konzertveranstaltungen aus dem Gesamtkonzept der FMP herausnehmen. Natürlich wäre allen am liebsten, wenn es weitergeht wie bisher, aber mach’ das mal mit’m Fünfmarkstück.“

aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Dezember 1983

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