John Corbett (1993)

Offener Brief an FMP

Ich schreibe, um meine Bewunderung für die vielen Jahre unschätzbarer Arbeit auszudrücken, die die amerikanischen Ufer von Berlins Free Music Production erreichte, und darüber hinaus möchte ich die Bedeutung dieser Institution für die Ökonomie und Ökologie kreativer Musik überhaupt andeuten. Als Musikjournalist (Down Beat, The Wire, Coda, Pulse!, Option), Disc Jockey und Akademiker in den USA wurde mein Verständnis für europäische Musik nachhaltig durch die frühe Begegnung mit Peter Brötzmann, Peter Kowald, Misha Mengelberg, Han Bennink, Alexander von Schlippenbach, Paul Lovens, Globe Unity Orchestra und Irène Schweizer, alle von FMP, beeinflusst. In der Tat spielt diese Musik eine wichtige Rolle in meinem Berufsleben - um es auf den Punkt zu bringen: viele Musiker des Labels FMP erscheinen in meinem Buch, Extended Play.

Während FMP seinen älteren Musikern treu bleibt (es ist, im besten Sinne des Wortes, ein Label von und für Musiker), wird trotzdem die Musik neuer Musiker immer wieder vorgestellt, aufgenommen und herausgebracht, viele davon sind uns in den USA unbekannt. Dies bietet einen Überblick über einige der aufregendsten europäischen - und deutschen - Musik, die sonst völlig obskur bleiben würde. Nehmen Sie zum Beispiel den in Bochum geborenen Georg Gräwe; er spielte erst kürzlich mit seinem GrubenKlangOrchester vor begeistertem Publikum in Nordamerika; Gräwes erste zwei Platten wurden  von FMP herausgebracht. Oder nehmen Sie das King Übü Örchestrü, welches von dem in Berlin lebenden Rohrblattspieler Wolfgang Fuchs geleitet wird: ihre 1993  FMP CD Binaurality erhielt von dem Schriftsteller Kevin Whitehead eine schwärmende Rezension in der US-Zeitschrift CD Review, der mit Recht FMP als „das hippste europäische Label" bezeichnete. FMP bringt immer wieder Musik von Brötzmann, Schlippenbach, usw. heraus, während es gleichzeitig auf dem Laufenden aktueller Entwicklungen bleibt und Talenten, die es verdienen, hilft, sich einen internationalen Ruf zu erwerben. FMP war auch ein Wegbereiter, indem sie Musik aus der DDR dem Westen vorführte, lange bevor die Wiedervereinigung irgendeinem in den Augen schimmerte.

Meine Überlegung ist, dass von dem, was wir hier in den USA als abenteuerlichste europäische Musik kennen, so vieles direkt von FMP kommt, dass es  unmöglich ist, von einem kritischen Standpunkt, diese Musik ohne dieses Label zu betrachten. Sowohl als Veranstalter von Live-Musik als auch als Plattenfirma erweist sich FMP in der Tat als ein Vorbild für eines der innovativsten nordamerikanischen Festivals und Plattenfirmen, Kanadas Festival Musique Actuel de Victoriaville. Ich hatte siebenmal die Chance, in Victo dabei zu sein, und immer wieder beeindruckte es mich, wie viel das Festival und das Label in Aufmachung, Programm und Geist Jost Gebers und seiner Free Music Vision verdanken.

Während für das amerikanische Publikum seine Hauptaufgabe wohl in der Produktion und Promotion großartiger europäischer Musik zu suchen sein mag, brachte uns FMP letztendlich auch einige Dinge über uns selbst bei. Die Serie von Cecil Taylor Projekten, die FMP zusammenstellte (besonders die luxuriöse 11-CD-Kassette ) brachten diesem Label einen Platz in der amerikanischen Jazzgeschichte ein. Dafür erhielten sie eine überwältigende Resonanz der Kritik und üben damit immer noch einen starken Einfluss aus (sieben Jahre später reden alle wir Yankeekritiker ja immer noch darüber!). Es versteht sich von selbst, dass 1988 kein US-Label waghalsig und voraus denkend genug war, Cecil Taylors Bigband-Musik aufzunehmen, geschweige denn zahlreiche Duos mit europäischen Perkussionisten oder ein Duo mit Gitarrist Derek Bailey (meine Lieblingsplatte von 1989) oder gar ein Trio mit Evan Parker und Tristan Honsinger. Diese Aufgabe wurde FMP überlassen, genauso wie letztes Jahr auch, als es darum ging, die beste Aufnahme von Charles Gayle zu machen (Knitting Factory versucht es jetzt schon seit einer Weile ohne Erfolg).

FMP ist ein erstrangiges deutsches Plattenlabel. Meiner Meinung nach stellt FMP darüber hinaus seit Mitte der 60er Jahre einen der wichtigsten Beiträge zeitgenössischer Musik dar. Free Music Production sollte als ein unersetzbares Forum für musikalisches Experimentieren angesehen werden; es sollte als ein Wahrzeichen einer Kulturinstitution bewertet werden. Natürlich würde es so etwas in den USA niemals geben, aber lasst uns hoffen, dass Ihr Europäer intelligenter seid als wir!

Übersetzung: Audd Itta Sauer und Bruce Carnevale

aus einem Faltblatt der FREE MUSIC PRODUCTION (FMP) 1993/94

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