Peter Niklas Wilson (1999)

Befreiungsakt aus den kommerziellen Fesseln

Seit 30 Jahren verschreibt sich das Plattenlabel „Free Music Production“
dem improvisierten Jazz

Sind die Progressiven von gestern mittlerweile die Konservativen von heute? Die dreißigjährige Geschichte der Berliner Free Music Production wird manchen Verfechter dieser These bestätigen. Die FMP ist ein Kind der Achtundsechziger – und ein europäisches Echo der Emanzipationsbestrebungen amerikanischer Musiker. In New York waren 1960 die „Jazz Artists Guild“ und 1964 die ebenso glücklose „Jazz Composers’ Guild“ entstanden, in Chicago folgte 1965 die bis heute bestehende „Association for the Advancement of Creative Musicians“.

Selbstbestimmung war das Motto: Befeiung aus den kommerziellen und künstlerischen Klammern der Plattenfirmen, Agenturen, Jazzclubs, Festivals. Selbstbestimmung suchten auch die Jungen Wilden des neuen europäischen Jazz. 1966 lancierte Peter Brötzmann die Idee einer „New Artists’ Guild“, 1968 gab es im Untergrund einer Kölner Tiefgarage ein erstes selbst organisiertes Festival improvisierender Musiker, 1968 fand in Berlin das erste „Total Music Meeting“ statt, Kontrapunkt zu den Jazztagen in der Philharmonie. Dem Komitee gehörten Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald und ein junger Bassist namens Jost Gebers an. Zu Ostern 1969 ließ der erste „Workshop Freie Musik“ die Mauern der Akademie der Künste in Berlin erzittern, im gleichen Jahr wurde die Kooperative FMP formell gegründet.

„European Echoes“, die erste LP-Produktion der FMP vom Juni 1969, wirkte wie ein Manifest: eine selbstbewusste abendländische Antwort auf das amerikanische „New Thing“ und zugleich Proklamation einer europäischen Internationalen der freien Musik mit dem Italiener Enrico Rava, den Niederländern Han Bennink und Arjen Gorter, den Schweizern Irène Schweizer und Pierre Favre, dem Belgier Fred Van Hove, den Briten Evan Parker, Paul Rutherford, Derek Bailey und den Deutschen Manfred Schoof, Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Peter Kowald, Buschi Niebergall.

Improvisation präsentieren
Was daraus erwuchs, ist eine einzigartige Dokumentation der improvisierten Musik mit knapp zweihundert LPs und inzwischen über hundert CDs. Die Institutionen „Workshop Freie Musik“ und „Total Music Meeting“ als Musterbeispiele für eine stimmige Präsentation improvisierter Musik. Die FMP als Fenster zum Westen der DDR-Improvisatoren. Die FMP als Initiatorin der Kontakte zwischen dem New Yorker Free-Übervater Cecil Taylor und europäischen Musikern. Kurz: Das Kürzel FMP als Symbol für einzigartige künstlerische Konsequenz, einen heroischen Durchhaltewillen, für 30 Jahre Selbstausbeutung ihres guten grantelnden Geistes Jost Gebers, der den Bass in die Ecke stellte und die organisatorischen Lasten der kollektiven Idee schulterte.

Standardkästchen kritisieren
Eine Erfolgs-Story, zweifellos. Und doch sprechen böse Stimmen heute unverhohlen vom „Fossil“ FMP. Brötzmann, Kowald, Schlippenbach, Parker, Taylor – immer wieder „die alten Herren“ auf neuen FMP-Platten… Jost Gebers’ Replik: „Naturgemäß ist das Interesse reduziert, wenn sich die Ergebnisse nur auf schmalspurigen Wegen zeigen. Der gesamte Improvisatoren-Nachwuchs hat ungleich größere Probleme, sich zu positionieren, da innerhalb der ersten und zweiten Generation fast alle Claims abgesteckt worden sind“.

Wirklich? Profilierte jüngere Improvisatoren wie John Butcher, Mats Gustafsson, Phil Durrant, Roger Turner, Rudi Mahall lassen sich schwerlich als Schmalspur-Epigonen abtun – und haben bei anderen Labels Gehör gefunden. Auch andernorts mag man blinde Flecken im FMP-Panorama ausmachen. Von den Experimenten mit interaktiver Live-Elektronik oder Grenzgängen zu den kreativeren Facetten der DJ-Culture ist in den Veranstaltungs- und Produktions-Aktivitäten der FMP kaum etwas zu spüren. „FMP steht für zeitgenössische akustisch frei improvisierte Musik“, zitiert Gebers eine programmatische Aussage von1969. Doch ist das Beharren auf einem Akustik-Purismus auch heute noch ästhetisch sinnvoll?

„An der Schnittstelle (von instrumentaler Improvisation und Elektronik) wird im Augenblick noch immer mit vorgefertigten Kästchen gearbeitet“ kritisiert Jost Gebers, der seine Aversion gegen „die Elektroniker mit ihren Standardkästchen aus dem Musikshop an der nächsten Ecke“ nicht verbirgt.

Kreativität konservieren
Einspruch auch hier: Die kommerzielle Elektronik ist nicht mehr oder weniger standardisiert als ein Selmer-Saxophon. Ob die Klänge uniform ausfallen, liegt in erster Linie am Benutzer und seinem Willen oder Unwillen, das Instrument „nach Vorschrift“ zu verwenden. Und am Mut, die „Bedienungsanleitungen“ ihrer Geräte umzuschreiben, fehlt es Elektronik-Improvisatoren wie Otomo Yoshihide, Bob Ostertag, Phil Durrant, David Shea gewiss nicht.

Doch wer wollte sich ernstlich über den Werte-Konservatismus der FMP beschweren, wenn er weiterhin so wunderbare Platten hervorbringt wie Cecil Taylors rhapsodisch-romantisches Solo „The Tree of Life“ (FMP CD 98), oder das transatlantische, im besten Sinn langatmige „Tangens“-Duo von Sam Rivers und Alexander von Schlippenbach (FMP CD 99),  oder  Phil Mintons  spektakuläre  Vokal-Extravaganzen  auf  „A Doughnut In One Hand“  (FMP CD 91), oder die emphatischen Albert-Ayler-Hommagen von Peter Brötzmanns Quartett „Die like a Dog“ (FMP CD 97 und FMP CD 101)?

Nicht von ungefähr ist Peter Brötzmanns „Machine Gun“-Klangsalve von 1968 nach wie vor ein Bestseller des Labels, das mittlerweile 50 Prozent seines Umsatzes in den Vereinigten Staaten erzielt. Und schließlich gibt es inzwischen genügend andere, jüngere Plattenfirmen – Leo, Okkadisk, Potlatch, Unit, Intakt, Hybrid, Random Acoustics, Hat Art und andere mehr -, die sich jener improvisierten Musik annehmen, die vor Jost Gebers’ gestrengen Ohren keine Gnade findet.

Euphorische Utopien sind, nach 30 wechselvollen Jahren, Gebers’ Sache ebenso wenig, wie düstere Untergangsszenarien: „Wenn ich jemals über die Zukunft von FMP nachgedacht hätte, hätte es FMP nie gegeben“.

aus: Basler Zeitung/Schweiz, 6. Mai 1999, www.baz.ch

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