Wolf Kampmann (2010)

Touchdown

Protokoll einer Labeltragödie
 
Das Label Free Music Production, kurz FMP, ist eine Institution, die aus der Geschichte der frei improvisierten Musik nicht wegzudenken ist. An dieser Feststellung gab es seit seiner Gründung 1969 nicht das Mindeste zu rütteln. Neben Musikern wie Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach oder Peter Kowald war es untrennbar mit dem Namen Jost Gebers verbunden, der es kompromisslos und frei von jeglichen Anfechtungen des Zeitgeistes durch die Jahrzehnte navigierte. FMP war stets mehr als ein Label. Wer eine FMP-Platte kaufte, wusste nicht nur genau, was er in den Händen hielt, sondern auch immer verlässlich, wer dahinter stand. Jost Gebers konnte sich diese Freiheit leisten, weil er nie auf die Einkünfte von FMP angewiesen war. Er hatte sich bewusst entschieden, tagsüber einem Beruf nachzugehen, der seine Existenz sicherte, und das Label unabhängig von seinen persönlichen Lebensbedürfnissen zu führen.
 
2000 erfolgte ein jäher Bruch, der für Außenstehende nicht nachvollziehbar war. Plötzlich schien es FMP zweimal zu geben. Hinter der einen FMP stand wie gewohnt Jost Gebers als Produzent, hinter der anderen Helma Schleif. Was sich anfangs wie ein schwer zu entwirrendes Joint Venture ausmachte, entpuppte sich bald als absurdes Theater, dessen schmutzige Wäsche vor Gerichten und in den Medien gewaschen wurde. Als wäre die Welt der improvisierten Musik nicht viel zu klein, um sich eine derartige Daily Soap leisten zu können. Doch eins nach dem anderen.
 
1999 blickte Jost Gebers auf 30 Jahre FMP zurück. Der Blick zurück verstellte dem idealistischen Pragmatiker indes nicht die Perspektive nach vorn. Bereits Mitte der neunziger Jahre hatte er den Entschluss gefasst, in absehbarer Zeit aufzuhören. Die Doppelbelastung von Fulltime-Job und Firma war einfach zu sehr über seine persönlichen Kapazitäten gegangen. Das Unternehmen Free Music Production (FMP) war ja zu diesem Zeitpunkt viel mehr als nur eine Plattenfirma. Neben dem Label FMP/Free Music Production - An Edition of Improvised Music mit den Bereichen Produktion, Produktionsabwicklung, Aufnahmen, Vertrieb, Verkauf und Werbung sowie der entsprechenden, über die Jahre gewachsenen Infrastruktur agierte es ja auch als Konzertveranstalter mit den damit verbundenen Bereichen Planung, Organisation und Durchführung. Beides lag in Händen von Jost Gebers.

Unabhängig von Label und Veranstalter gab es seit 1992 auch noch den selbständigen Musikverlag FMP-Publishing in Borken. Der Verlag wurde von Anna Maria Ostendorf geleitet und hielt auch die Altrechte an diversen 1991 eingestellten LP-Produktionen sowie das dazugehörige Bandarchiv mit den Masterbändern und weiteren Originalbändern, die ungezählte FMP-Konzerte dokumentierten.
 
Für die Firma Free Music Production (FMP) erhielt Gebers von 1989 - 1999 vom Berliner Senat eine institutionelle Förderung von zuletzt jährlich 224.000 DM, was in etwa 114.530 Euro entspricht. Im Zuwendungsvertrag für diese Förderung war festgeschrieben, dass von dieser Summe die Bezahlung eines Mitarbeiters mit Vollzeittätigkeit von 40 Wochenstunden inklusive Lohnnebenkosten zu bestreiten ist. Dieser Mitarbeiter war Dieter Hahne. Die Kosten beliefen sich jährlich auf 58.000 DM. Die Verwendung des Restbetrags von 166.000 DM war mit der Aufstellung eines Finanzplanes für das jeweilige Jahr verbunden, in dem alle Ausgaben mit den zu erwartenden Einnahmen gegengerechnet wurden. „Die Verwendung des Geldes“, so Gebers, „lag in meinem Ermessen und diente in den letzten Jahren hauptsächlich der Finanzierung der Konzertprojekte Workshop Freie Musik (bis 1998) und Total Music Meeting (bis 1999). Dazu kam bis 1995 oft die finanzielle Unterstützung der Rathaus-Konzertreihe und der Summer Music-Konzerte im Haus am Waldsee.“
 
Soviel zur strukturellen und finanziellen Aufstellung von FMP zum Zeitpunkt von Gebers’ Entscheidung, die Firma aufzulösen. Gebers überließ nichts dem Zufall und stellte für seinen Ausstieg einen konkreten Plan auf, der folgende Schritte umfasste: Das bestehende Label FMP/Free Music Production sollte von FMP-Publishing übernommen werden, um es für eine begrenzte Zeit weiterzuführen. Die von Anna Maria Ostendorf gestellte Voraussetzung bestand darin, dass Gebers weiterhin als Produktionsverantwortlicher zur Verfügung stehen solle. Zur Vermarktung der CDs des Labels sollte ein Vertriebspartner gefunden werden. Das tontechnische Equipment sollte verkauft und die Berliner Firma Free Music Production (FMP) abgewickelt werden.
 
Zur Umsetzung dieses Plans gab es verschiedene Modelle. „Hätten wir keinen Vertriebspartner gefunden“, erinnert sich Gebers, „hätte ich in der verbleibenden Zeit von 2000 bis 2002 als Lizenznehmer des Labels fungiert, einen Ausverkauf gemacht und vorbereitete CDs noch neu auf den Markt gebracht. Das wäre die schlechteste Variante gewesen. Die erste Überlegung war jedoch, das Label einer bestehenden Firma anzugliedern. Es ging ja nur darum, die CDs auf Basis dessen, was da über die Jahre gewachsen war, nach Bedarf fertigen und vertreiben zu lassen. Sämtliche Gespräche in diese Richtung waren jedoch recht ernüchternd und letztlich erfolglos.“
 
Nun existierte FMP trotz seines autarken inhaltlichen Anspruchs nicht im luftleeren Raum. Wie bereits ausgeführt, wurde es zu großen Teilen aus Mitteln der öffentlichen Hand unterstützt. Auch im Jahr 1997 hatten in Berlin wieder Streichungen bei der Kulturverwaltung angestanden. Davon wäre zweifellos auch FMP betroffen gewesen. Doch Gebers setzte sich mit der damals zuständigen Verantwortlichen bei der Kulturverwaltung, Barbara Esser, und ihrem Mitarbeiter Clemens Teske zusammen, kündigte sein Aufhören an und beschrieb die denkbaren Modelle. Esser und Teske versprachen, darüber Stillschweigen zu bewahren und nahmen FMP von Streichungen aus, „denn sie wollten mir nichts mehr wegnehmen, wenn ich zwei Jahre später sowieso aufhörte“.
 
1998 erfolgten dann die ersten Gespräche mit Helma Schleif. Sie war die Frau des Saxofonisten Wolfgang Fuchs und somit bestens in der frei improvisierenden Szene vernetzt. Gebers kannte Helma Schleif zu diesem Zeitpunkt bereits seit 20 Jahren und vertraute ihr. Für den FMP-Macher brachte sie die idealen Voraussetzungen für eine Kooperation in seinem Sinne mit. „Alle wussten, dass sie emsig und umtriebig ist. Sie hatte Platz, sich ein Lager einzurichten, und ihre Existenz war durch diverse Tätigkeiten abgesichert.“ Gebers und Schleif setzten sich wiederholt zusammen, bis im Sommer 1999 Einigkeit darüber erzielt wurde, dass Helma Schleif die Vermarktung der CDs des Labels übernehmen würde.
 
Konkret sah die Vereinbarung folgende Punkte vor:
Übernahme des Labels durch FMP-Publishing.
Helma Schleif erhält einen exklusiven Lizenzvertrag vom Inhaber des Labels, der Firma FMP-Publishing, zur Vermarktung der CDs des Labels FMP/Free Music Production. Die Dauer des Vertrages betrug fünf Jahre mit jeweils vier bis zwölf Neuveröffentlichungen pro Jahr plus fünf Jahre Ausverkaufszeit.
Helma Schleif erwirbt von Free Music Production (FMP) den Lagerbestand von CDs (15.255 CDs & 648 Doppel-CDs) zum Preis von 6,- DM pro CD und 12,- DM pro Doppel-CD sowie für eine Pauschale von 694,- DM ein Lagerregalsystem, Leiter, Sackkarre, Paketwaage nebst Kunden- und Lieferantendaten. Die Gesamtsumme betrug 100.000 DM plus 16% Mehrwertsteuer.
Kostenlos erhält Frau Schleif den vorhandenen Lagerbestand der CD-Drucksachen, 49.000 Booklets und 57.000 Inlaycards, 350 Promo-CDs, Verpackungsmaterial, CD-Leerboxen und Trays, alle FMP-Dateien, also Kunden, Medien, Musiker und Verkäufer sowie das Nutzungsrecht an den geschützten Namen Free Music Production und Total Music Meeting, allerdings jeweils mit einem abgrenzenden Zusatz.
 
Darüber hinaus handelte Gebers mit der Kulturverwaltung des Berliner Senats aus, dass Dieter Hahne für eine Einarbeitungszeit von Helma Schleif für ein halbes Jahr weiter bezahlt werden sollte. Die Kosten betrugen 28.000 DM. Obwohl der Senatsverwaltung zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, wer die Vermarktung der CDs des Labels übernehmen würde, fiel die Entscheidung darüber positiv aus und 2000 erhielt Helma Schleif über diese Summe einen entsprechenden Zuwendungsvertrag. Der Veranstaltungsort Podewil wollte die gesamte Tontechnik von FMP kaufen. Gespräche darüber waren bereits im Gange und ein Antrag auf Unterstützung lag der Kulturverwaltung vor.
 
Am 29. November 1999 hatten Gebers und Schleif gemeinsam eine Verabredung in der Kulturverwaltung des Senats mit Barbara Esser und Clemens Teske. Bei diesem Treffen sollten die beiden Helma Schleif kennenlernen. Dabei war auch geplant, noch einmal Details zu Hahnes Finanzierung zu besprechen. Vor dem Treffen tranken Gebers und Schleif am Rosenthaler Platz noch einen Kaffee. Dabei brachte Helma Schleif für Gebers völlig überraschend die Frage auf, ob man nicht doch noch eine weitere Finanzierung des Total Music Meetings ansprechen sollte, um das Festival gemeinsam weiterzuführen. “An dieser Stelle hätte ich stutzig werden müssen“, schätzt Gebers heute ein, „denn in unseren gesamten Gesprächen und Verhandlungen seit Mitte 1998 ging es ausschließlich um die Vertriebs- und Vermarktungstätigkeit. Es war eindeutig klar, dass mit dem Ende der Free Music Production (FMP) auch alle Live-Aktivitäten eingestellt würden. Ein kurzes Nachdenken und die Unkenntnis darüber, dass es noch eine zweite Helma Schleif gab, brachten mich dazu, dieser Angelegenheit zuzustimmen. Die Infrastruktur wäre ja während der Zeit der Abwicklung noch vorhanden, Dieter Hahne war in Berlin, ich wäre auch noch da - warum sollten wir es nicht probieren?“
 
Bei dem Treffen in der Kulturverwaltung stellte Gebers dann die Frage nach der Weiterführung des Total Music Meetings und einer entsprechenden Weiterfinanzierung. Esser und Teske waren nicht wenig erstaunt, weil sie ja wussten, dass es Free Music Production (FMP) nicht mehr geben würde und die institutionelle Förderung damit beendet wäre. Die Antwort war folgerichtig, dass die finanziellen Mittel für eine Weiterführung des Festivals neu beantragt werden müssten.
 
Zum Jahreswechsel 1999/2000 erfolgte dann die Übernahme des Lagerbestandes der CDs und des Zubehörs. Helma Schleif hatte nicht nur die Schlüssel zu Gebers’ Geschäftsräumen, sondern auch zu seiner Wohnung. Gebers selbst war seit dem 18. Dezember in Borken, um dort mit Anna Maria Ostendorf alle Details der auf sie zukommenden Arbeit zu besprechen und zu organisieren. Am 3. Januar 2000 kehrte er nach Berlin zurück. Schleif und Hahne waren inzwischen damit beschäftigt, in den Räumen von Helma Schleif den Warenbestand zu erfassen und die CDs zu zählen, um die Rechnung und die Lieferscheine erstellen zu können. Dieser Arbeitsgang wurde von Hahne ausgeführt und am 7. Januar 2000 von Frau Schleif entgegengenommen und unterzeichnet.
 
Bereits fünf Tage zuvor war der Lizenzvertrag zwischen FMP-Publishing und Helma Schleif in Kraft gesetzt worden. Frau Schleif, die jetzt ein Gewerbe angemeldet hatte, firmierte zu dieser Zeit korrekt wie vereinbart als Free Music Production Distribution & Communication. Nachdem allerdings alle Verträge und Lieferscheine unterschrieben waren, die Ware in ihren Räumen lagerte und die ersten Verkäufe vorgenommen werden konnten, änderte sie ihren Firmennamen dahingehend, dass sie das Kürzel FMP davor setzte. „Das war der Beginn einer gezielten Konfusion“, befindet Gebers heute.
 
In kürzester Zeit meldete sie den geschützten Namen Free Music Production, an dem sie nur das Nutzungsrecht mit dem Zusatz „Distribution & Communication“ hatte, als Internetadresse an. Auf ihrer schnell fertig gestellten Website befanden sich dann nicht nur diverse Fotos von Dagmar Gebers, sondern auch Texte aus einem Faltblatt der Autoren Bert Noglik, Patrik Landolt und John Corbett von 1993 sowie einem internen Papier von Free Music Production (FMP), ebenfalls aus dem Jahr 1993. Alle Texte waren in Deutsch und Englisch wiedergegeben. Jost Gebers: „Das Ganze erfolgte natürlich ohne Genehmigung, teilweise erheblich verfälscht und willkürlich falsch ergänzt. An mir ging es aber damals völlig vorbei, weil ich zu dieser Zeit weder eine E-Mail-Adresse noch einen Internetanschluss hatte.“ Dabei müsse berücksichtigt werden, so Gebers weiter, dass 2000 der Internet-Boom einsetzte. „Die Schleif-Seite mit ihren teilweise extremen Falschinformationen, war bis 2004, also fünf Jahre als einzige Seite mit der URL free-music-production im Netz zu finden. Dieser Umstand, verbunden mit der Äußerung gegenüber Musikern von einer ‚Übernahme von FMP’ musste Außenstehende zu der Annahme bringen, das sei die richtige FMP-Seite.“
 
Die Folgen waren gravierend. Bis heute sind im Web völlig irreführende und falsche Informationen zu finden, die auf Texten und Infos der Schleif-Seite basieren. Einige dieser Behauptungen werden auch nach wie vor in der Presse ventiliert. So wurde Helma Schleif am 10. Dezember 2004 in der ‚Jungen Welt’ fälschlich als Produzentin von FMP bezeichnet, die ‚TAZ’ unterstellte Gebers am 21. Oktober 2003 eine Abfindung seitens des Kultursenats in Höhe von knapp 100.000 DM, die es nie gegeben hat, und selbst im November 2008 wurde in ‚ZEIT ONLINE’ noch behauptet, die in Wirklichkeit kostenlos zur Verfügung gestellten Nutzungsrechte für den Namen „Total Music Meeting“ wären von Helma Schleif käuflich erworben worden. Die Aufzählung derartiger Falschmeldungen, die auf einem überaus verwirrenden Informationsstand beruhte, ließe sich beliebig fortsetzen. Dass sich für Gebers daraus erhebliche Rufschädigung ergab, liegt auf der Hand.
 
Anhaltende Verstöße gegen den Lizenzvertrag durch Helma Schleif führten Anna Maria Ostendorf 2003 zur fristlosen Kündigung des Lizenzvertrages. Inzwischen hatte Helma Schleif auch ihr eigenes Label a/l/l gegründet. Darauf veröffentlichte sie zunächst eine CD von Tony Oxley, die Gebers zuvor mit dem Schlagzeuger fertig gestellt hatte, dieser dann aber von FMP-Publishing zurückgekauft hatte, um sie bei ihr rauszubringen.
 
Gegen die Kündigung des Vertrages wurde von Helma Schleif Klage erhoben. Es folgte ein Verfahren, das sich über dreieinhalb Jahre hinzog. Das Landgericht Bielefeld bestätigte durch Urteil am 18.5.2006, dass die Kündigung rechtens sei. In zweiter Instanz wurde dann vor dem Oberlandesgericht Hamm am 21.11.2006 ein Vergleich gefunden, in dem folgendes festgeschrieben wurde: Die Dauer einer Ausverkaufsfrist der unter den Vertragsbestimmungen hergestellten CDs, eine Lagerbestandsaufnahme und die Rückgabe der zur Fertigung der CDs übergebenen Drucklithos und Masters. Die Lagerbestandszahlen wurden erst aufgrund eines Zwangsverfahrens gegen Schleif (mit dem Ergebnis einer Androhung von Gefängnis oder eines Zwangsgeldes) nach acht Monaten übergeben. Daneben stellte sich heraus, dass Helma Schleif in größerer Anzahl die originalen Druckunterlagen, die ja Eigentum des Labels waren, beiseite geschafft hatte und das sogar noch zwei Tage nach dem Ende des Verfahrens vor dem OLG Hamm.
 
Rückblickend räumt Gebers ein, in den vielen Jahren FMP einige, zum Teil auch gravierende Fehler gemacht zu haben. „Alle waren aber schnell und ohne größere Probleme zu beheben. Die Entscheidung für Frau Schleif als Geschäftspartnerin war jedoch ein eklatanter Fehler, unter dem alle Beteiligten (Ostendorf, ich selbst und vor allem die Musiker) zu leiden hatten und der nicht auf normalen Ebenen zu beheben war. Inzwischen ist auch im Web vielen klar, dass FMP keinesfalls mit Schleif gleichzusetzen ist und keinerlei Verbindung zwischen ihrem Label a/l/l und FMP besteht.“ Und fassungslos fügt Gebers 2010 hinzu: „Nach wie vor verstößt Frau Schleif gegen die Bestimmungen des Vergleichs vom OLG Hamm, gegen Urheberrechte (Texte, Foto) und gegen das Wettbewerbsrecht, indem sie nicht lieferbare CDs anbietet.“

aus: Buch der Spezial Edition FMP im Rückblick

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