Wolfram Knauer (2010)

Free! Music! Production!

"Free! Music! Production!" ... Irgendwie ist jedes einzelne dieser Worte Programm in der Geschichte der FMP, wie man das Label gemeinhin nennt und es damit einreiht in die Dreibuchstaben-Independent-Jazzlabels - ESP, BYG, ICP, JMT, ECM. Es gibt auch jede Menge Vier- und Fünfbuchstaben-Labels, aber die wirken immer mehr wie Worte, haben nicht von vornherein das Rätsel der Abkürzung in sich, wurden auch oft nicht als Großbuchstabenkürzel geschrieben. "F! M! P!", "Free! Music! Production!", hat von all diesen Dreibuchstaben-Labels irgendwie den größten Aufforderungscharakter, meint man und mag es gleich wieder ausrufen: "Free...! Music...! Production...! Was ließe sich allein aus diesen Worten alles erlesen.

Free: Das Postulat der Freiheit, der musikalischen Freiheit insbesondere, zugleich der Aufruf zur Befreiung, aber auch jene seufzende Erkenntnis des endlich Frei-Seins.

Music: Der Inhalt an sich: Es geht nicht ums Geschäft, ums Verkaufen, um die Charts, sondern einzig und allein um die Musik. Mehr ist nicht zu sagen.

Production: Nun, auch wenn es um die Musik geht, ist das Ergebnis der Bemühungen nun mal ein Produkt, das die Resultate des kreativen Schaffens einer Szene dokumentiert, die sich durch die beiden ersten Begriffe definiert.

Hinter den drei Worten verstecken sich zugleich jede Menge nicht auf den ersten Blick zu durchschauende Konnotationen, die die soziale und ästhetische Wirklichkeit, oder auch die gefühlte soziale und ästhetische Wirklichkeit zumindest der 1960er und 1970er Jahre widerspiegeln. Hinter den Begriffen versteckt sich ein fast nostalgisch anmutender Traum: Wie wohl produziert man freie Musik? Hinter den Begriffen verstecken sich Geschichten einer musikalischen Entwicklung, die den europäischen Jazz, wie Ekkehard Jost es treffend formuliert hat, zu sich selbst finden ließ (Jost 1987: 9).


Historisches

Der europäische Jazz hatte sich in den 1960er Jahren von den amerikanischen Vorbildern emanzipiert - so meinten jedenfalls viele der Musiker, die sich neben den afro-amerikanischen Traditionen mehr und mehr auch eigenen ästhetischen Idealen zuwandten, von musikethnologischen Exkursen in die heimische Folklore über Experimente mit Methoden der zeitgenössischen (komponierten) Musik bis hin zu eigenen Ausdeutungen der Begriffe "frei" und "Freiheit". Ab Anfang/Mitte der 1960er Jahre auf jeden Fall verfolgten mehr und mehr Musiker Projekte, die ihre Vorbilder nicht so sehr mehr in der amerikanischen Avantgarde der Zeit suchten, sondern die sich eher der Individualisierung des europäischen Jazz widmeten.

Dieser, der europäische Jazz jener Jahre ging damals aber nicht nur künstlerisch, sondern auch organisatorisch neue Wege. In den USA hatte ähnliches schon früher begonnen: Musiker hatten seit den frühen 1950er Jahren nach und nach versucht, nicht nur für den musikalischen Teil ihrer Laufbahn verantwortlich zu zeichnen, sondern auch die geschäftliche Seite in die eigene Hand zu nehmen. Sie gründeten Musikerkooperativen, deren Ziel es war, die Vermarktung von Urheberrechten, Konzerten und Tourneen, Schallplatten usw. in der Hand und damit in der Kontrolle der Musiker zu halten. Eines der ersten musikereigenen Schallplattenlabels jener Jahre war etwa das von Charles Mingus und Max Roach 1952 gegründete Debut-Label. Die Gründung solcher selbstverwalteter Firmen ging meist mit lautstarken Protesten gegen die Ausbeutung durch die großen Plattenfirmen, die Clubbesitzer und Tourneemanager einher. Mit dem Free Jazz gab es in den 1960er Jahren einen regelrechten Boom unabhängiger, also "independent" Labels. Das hatte nun noch einen weiteren Grund: Mit der Entwicklung des Jazz in jenen Jahren hin zu immer komplexeren und zugleich weniger publikumsträchtigen Musikformen nahmen immer weniger der großen Plattenfirmen Künstler aus dem zeitgenössischen Spektrum unter Vertrag. Die Firma Impulse war eine Ausnahme, die damals Free-Jazz-Platten von John Coltrane, Pharoah Sanders und anderen Avantgardisten herausbrachte. Aber auch bei dieser Firma funktionierte dies nur, weil ihr Jazz-Abteilungsleiter in anderen Firmenzweigen mit einigen Pop-Stars viel Geld einbrachte und man ihm sozusagen sein "Hobby" ließ.

In Europa hatte die Gründung einiger Kleinlabels in den 1960er Jahren durchaus vergleichbare Gründe. Am besten verkauften sich hier damals die Aufnahmen amerikanischer Musiker. Europäische Künstler liefen nur, wenn sie gehörig gepusht wurden: 1966 beispielsweise überredete der Impresario Horst Lippmann die amerikanische Plattenfirma CBS, für den deutschen Markt eine Reihe mit Projekten aktueller deutscher Musiker herauszubringen, eine Reihe, die der Firma vielleicht ein wenig Prestige, ganz gewiss aber nicht allzu viel Geld einbrachte.

1966 wurde in Köln oder Wuppertal die New Artists Guild gegründet. Daran beteiligt waren Musiker der jungen deutschen Free-Jazz-Szene, etwa Manfred Schoof, Alexander von Schlippenbach, Peter Brötzmann, Peter Kowald und andere. Im selben Jahr organisierten einige derselben Musiker in einer Kölner Tiefgarage eine Konzertreihe unter dem Titel "Jazz am Rhein". Berlin war damals (wie noch heute) Veranstaltungsort der Berliner Jazztage (heute JazzFest Berlin), eines Festivals, das Joachim Ernst Berendt 1964 ins Leben gerufen hatte. Die Jazztage zählten bald zu den bedeutendsten europäischen Festivals - und wenn nur, wie einige amerikanische Kritiker behaupten, weil sie außerhalb jeder Konkurrenz stattfanden, nämlich nicht im Sommer wie bei solchen Veranstaltungen üblich, sondern im trüben November. Auf Initiative von Peter Brötzmann wurde 1968 das erste Total Music Meeting von Jost Gebers geplant, organisiert und durchgeführt, eine Art Gegenfestival, das im Gegensatz zu den Jazztagen nicht die etablierte Szene vorstellen wollte, sondern junge improvisierende Musiker, die sich bei diesem Treffen auf spontane Begegnungen einstellen sollten. Von Anfang an war das Total Music Meeting auf musikalische wie organisatorische Improvisation angelegt: Man lud einen begrenzten Kreis einzelner Musiker ein, stellte sie aber nicht nur in erprobten Bands zusammen, sondern ließ sie sich darüber hinaus in den Konzerten begegnen. Im Rahmen des Total Music Meeting spielten neben einigen amerikanischen vor allem europäische Musiker. Und immer wieder trafen sich beim Total Music Meeting Musiker, die aus der Spannung ihrer Begegnung neue Projekte entwickelten.

Zu Ostern 1969 wurde eine weitere Veranstaltung organisiert: der Workshop Freie Musik. Jost Gebers, Kontrabassist, späterer Chef der FMP und schon damals einer der Haupt-Drahtzieher hinter den Aktivitäten der freien Berliner Szene, berichtet:

"1970 wurde aus der dreitägigen Veranstaltung [des ersten Workshops] ein fünftägiger Workshop mit öffentlichen Proben, zwei großen Podesten in der Ausstellungshalle [der Berliner Akademie der Künste] und einem konsequenten Free-Jazz-Programm. Jetzt zeigte sich, dass unser erster Versuch, diese Musik aus dem Konzertsaal und dem Club in offene Räume zu bringen, richtig war. Die Zwänge für Musiker und Publikum konnten so erheblich reduziert werden. An diesem Konzept hielten wir bis 1972 fest. Aber auch hier gab es noch erhebliche Missverständnisse. Musiker und Gruppen, die aus der offenen Form des Workshops wieder geschlossene Konzerte mit festgelegten Abläufen machen wollten, Publikumsgruppierungen, die mitspielen oder dagegen spielen wollten (Flötenhersteller müssen in diesen Jahren gewaltige Umsätze gemacht haben). Es begannen aber auch beide Partner, Musiker und Hörer, die Möglichkeiten besser zu nutzen." (Gebers 1978)

Im September desselben Jahres kam es ebenfalls auf Initiative Brötzmanns zur Gründung der Firma Free Music Production (damals noch ohne FMP-Kürzel) durch Jost Gebers. Bis zum Beginn einer kollektiven Führung entstanden alle Projekte der Free Music Production (also Plattenproduktionen wie Konzertprogramme) zwischen 1968 bis 1972 in Zusammenarbeit zwischen Brötzmann und Gebers. Am 1. Oktober 1972 wurde die Programmplanung auf die breiteren Beine eines Kollektivs gestellt, dem neben Brötzmann und Gebers Peter Kowald, Alexander von Schlippenbach und Detlef Schönenberg angehörten. Die Musiker wollten im Rahmen der FMP nicht nur ihre Konzerte selbst organisieren, sondern auch die Platten selbst produzieren. Das Kollektiv hielt bis 1976; danach war Gebers der alleinige Verantwortliche.

Die erste Platte auf dem jungen Label hieß "European Echoes" (FMP 0010) und wurde vom Manfred Schoof Orchestra eingespielt. Mit Schoof spielten dabei einige der wichtigsten jungen Improvisatoren des europäischen Jazz: die Musiker des Peter Brötzmann Trios, des Manfred Schoof Quintetts und des Irène Schweizer Trios. 1970 erschien als zweite Platte eine Produktion der Besetzung Peter Brötzmann/Han Bennink/Fred Van Hove mit dem Titel "Balls" (FMP 0020). Neben Eigenproduktionen übernahm die FMP in jenen Jahren auch Platten in ihren Katalog, die von einigen der ihr verbundenen Musiker zuvor als Eigenproduktionen hergestellt wurden, darunter Brötzmanns "For Adolphe Sax" (aufgenommen 1967, FMP 0080) und "Machine Gun" (aufgenommen 1968, FMP 0090).

Neben der Plattenproduktion war die FMP für die inhaltliche Gestaltung des Total Music Meeting und des Workshops Freie Musik verantwortlich. Immer mehr organisierte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren Jost Gebers die gesamte Programmstruktur. Er wurde formell Chef des Labels - als Nebenjob neben seinem Hauptberuf als Sozialarbeiter. 1978 erläutert Gebers die Struktur:

"Die Akademie der Künste stellt uns jährlich die finanziellen Mittel, die Räume, Mitarbeiter und ihr Know-How zur Verfügung, überlässt aber der Free Music Production das gesamte Konzept und die Durchführung bis ins Detail. Seit einigen Jahren findet eine zusätzliche Finanzierung durch Verkauf von Senderechten statt, d.h. wir bieten ARD-Rundfunkanstalten komplette Programme nach unseren Intentionen an. Ich glaube, das ist ein einmaliges Beispiel von Zusammenarbeit einer Institution und einem Kollektiv von Musikern." (Gebers 1978)

Und 1989 erzählt er: "Auch nach der Veränderung in der Struktur der FMP blieb die Zusammenarbeit zwischen den Musikern und mir erhalten. Die beteiligten Musiker werden in die Vorbereitung und Realisierung der jeweiligen Projekte unmittelbar einbezogen." Und er berichtet über einige der organisatorischen Probleme: "Mancher denkt bei FMP an ein paar interessante Platten. Was dahinter steckt, ist oft nicht vorstellbar: permanente Rangelei um Geld, Kampf um Projekte, Clinch mit Finanzämtern, Aufnahmetechnik, Buchführung, Organisation." (Noglik 1989)

Das Konzept der FMP war künstlerisch erfolgreich, weil die FMP versuchte, ihr Programm nach den Anforderungen der Musiker zu richten. Ausgangspunkt allerdings war eine konkrete Vorstellung davon, was "freie Musik" sein solle, wie "freie Musiker" zu arbeiten hatten. Immerhin: Die Musiker hielten der FMP die Treue, als einem Veranstalter und Plattenlabel, das sicher nicht die besten Gagen oder Honorare zahlen konnte, dafür aber seit bald 30 Jahren eine kontinuierliche Konzert- und Plattenarbeit leistete. Steve Lacy erläuterte 1978 seine Zufriedenheit mit der FMP und ihren Projekten:

"Jedes Mal waren die Bedingungen gut! Nicht nur ein Konzert, sondern 3 Auftritte an verschiedenen Tagen, was uns Gelegenheit gab, eine Vielfalt von Stücken und Sets zu bringen, so dass das Publikum, indem es uns in mehreren Sinnzusammenhängen und unter verschiedenen günstigen Ausgangspunkten sah, ein besseres Verständnis für die Musik erlangen konnte. Immer wurde ein guter Sound angestrebt und fotografiert, aufgenommen und versucht, die Musik in anderer Weise zu dokumentieren, so dass die FMP mit ihrem Archiv eine Art lebender Geschichte dessen darstellt, was sich in den letzten 10 Jahren in der Freien Musik getan hat." (Lacy zit. in Gebers 1978)

Präsentation und Dokumentation: Das waren tatsächlich die wichtigsten Angelpunkte der FMP-Arbeit: Jost Gebers wollte den Status Quo und die Entwicklung der internationalen freien Musik präsentieren und dokumentieren: unter den günstigsten Konzertbedingungen, unter den günstigsten besetzungstechnischen Bedingungen, mit dem bestmöglichen aufnahmetechnischen Equipment usw. Diese selbst gestellte Dokumentationsaufgabe wird 1978 erstmals deutlich, als die FMP sich mit einer Dreier-LP und ausführlichem Dokumentations-Buch zur FMP und ihren Projekten selbst eine Art Geburtstagsgeschenk macht (For Example). Noch deutlicher aber wird diese Aufgabe 1988, in jenem Jahr, in dem Berlin "europäische Kulturhauptstadt" war. FMP nutzte den einmonatigen Aufenthalt des Pianisten Cecil Taylor mit Konzerten in den unterschiedlichsten Besetzungen zu einer einzigartigen Dokumentation, die in einer Kassette mit 11 CDs (und weiteren späteren Veröffentlichungen) mündete, in denen das Konzertprogramm des Ausnahmepianisten dokumentiert wurde. "Cecil Taylor in Berlin" ist die im Jazz vielleicht beeindruckendste Dokumentation des Schaffens eines Musikers zu einer bestimmten Zeit. Kein amerikanisches Label wäre ein solches Projekt angegangen - und auch in Deutschland bedurfte es der langen Erfahrung und Konzeption der FMP, die Berliner Senatsverwaltung von der Bedeutung eines solchen Projekts zu überzeugen.

Die FMP war ein Berliner Label, und Jost Gebers organisierte recht frühzeitig Kontakte in die DDR. Musiker wie Brötzmann, Schlippenbach, Kowald, Bennink, Mengelberg und andere reisten mit einem Besuchsvisum in die Osthälfte der Stadt, wo sie dann gemeinsam mit den östlichen Kollegen bei Montags-Sessions in der Melodie-Bar des Friedrichstadt-Palastes oder später bei offiziellen Konzerten und Workshops auftraten. Daneben brachte die FMP aber auch einige wichtige Aufnahmen von DDR-Musikern im Westen heraus - zum Teil als Eigenproduktionen, zum Teil als Koproduktionen mit dem staatseigenen Amiga-Plattenlabel, etwa die LP "Auf der Elbe schwimmt ein rosa Krokodil" des Zentralquartetts (damals noch Synopsis, FMP 0240), für die FMP 1974 aufgenommen im Rundfunk der DDR.

Man muss sich bewusst machen, welche Räder hier ineinander greifen: Eine Musikerkooperative entscheidet, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen. Ein Label mit hauptamtlichem Geschäftsführer mendelt sich über die Jahre heraus, das aber durch seine Entstehungsgeschichte, durch den starken Willen von Jost Gebers Rückhalt bei den Musikern hat, "street credibility", wie man es heute vielleicht nennen würde. Die Idee (und auch die fortwährenden Ideen der Projekte) stammen von den Musikern, aber Gebers hält sie zusammen, werkelt im Hintergrund, um sie realisieren zu können, knüpft Netze, schafft Strukturen, innerhalb derer sich die Musiker ihrer Kunst widmen können. Es ist das Ideal einer Verzahnung von Organisationsgeist und Kreativität, basierend auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt vor der Erfahrung des jeweils anderen. Es ist, wie so oft in den Künsten (oder im Leben) ein Lebenswerk, geboren aus der Idee des Kollektivs und fortgeführt mit dem Idealismus eines Menschen, der nie locker ließ, der aus Überzeugung weiterstrickte an der Idee einer freien Musik, die ihrerseits Freiraum zur Entfaltung benötigt. Man muss sich vorstellen, wie Gebers über Jahre Briefe an hochrangige Kulturbürokraten in Ost und West schrieb, um seine Projekte zu finanzieren, Räume zu sichern oder einfach nur Musikern die Reise zu ermöglichen (insbesondere von Ost- nach West-Berlin). Es war eine Beziehung gewiss nicht ohne Reibungen: Weder Gebers noch die Musiker, die über die Jahre mit FMP zu tun hatten, sind maulfaul, wenn es darum geht, ihre Meinung zu sagen. Es gab Auseinandersetzungen, Streits, die sowohl die ästhetische wie auch die geschäftliche Seite des Labels und der FMP-Aktivitäten betrafen. Eines wenigstens wurde ihm, anders als vielen anderen Labelmachern, nie vorgeworfen: dass er es des Geldes wegen machte. Im Gegenteil steckte Gebers über die Jahre etliches an Eigenkapital in die FMP-Aktivitäten.

FMP ist Musikgeschichte; es ist zugleich Kulturgeschichte Berlins als einer geteilten Stadt. Die Wegemarken der Geschichte des Labels stimmen überein mit wichtigen Stationen in der Geschichte Berlins: Studentenrevolte, kulturelle Annäherung zwischen West und Ost, Fall der Mauer, Wiedervereinigung und damit verbunden der kulturelle Umbruch. FMP hat auf all diese Entwicklungen reagiert, sie begleitet, sie in das Netz der improvisatorischen Begegnungen mit eingeflochten. Eine Besonderheit der FMP-Programmpolitik war, dass eigentlich all ihre Aktivitäten eng miteinander zusammenhingen: die Konzerte, Workshops, Platten - das eine ging aus dem anderen hervor, bedingte das andere. Es war ein zerbrechliches Gefüge, das Jost Gebers da zu jonglieren hatte und das zusammenzubrechen drohte, sobald eine der darin involvierten Komponenten wegzubrechen drohte. Das Faszinierende an dieser Jonglage ist, wie der amerikanische Musikwissenschaftler Mike Heffley in seiner ausführlichen Dokumentation der Berliner Szene um das FMP-Label festhält (Heffley 2000 / Heffley 2005), dass das Label sich auf dem internationalen Markt behaupten kann, obwohl es eher inhaltliche als Marktziele verfolgt.

Und doch: Mit dem Fall der Mauer und den daraus folgenden politischen und ökonomischen Entwicklungen und ihren Auswirkungen auf die Kultur wurde es für die freie Musik und ihre Aktivitäten noch schwerer als schon zuvor.


Ästhetisches

Das Repertoire der Musik, die auf FMP dokumentiert ist, reicht von knallhartem, "kompromisslosem" Free Jazz über Soundfrickeleien bis hin zum kritisch-ironischen Umgang mit der Tradition oder mit den Traditionen. Es gibt etliche Beispiele aus dem Katalog der FMP, und zwar nicht nur die lustvolle Wort- und Perkussionsakrobatik Sven-Åke Johanssons, die geradezu zum Schmunzeln anregen, die aber irgendwo zugleich andeuten, dass man mit dem künstlerischen Lachen auch eine Gesellschaft verlachen kann.

Doch ist der europäische Free Jazz weiß Gott nicht nur spaßvoll und unterhaltend. Es gibt auch das andere Extrem, das nämlich einer Musik, deren ästhetisches Ziel eher die Läuterung als die Unterhaltung der Hörer zu sein scheint: einer Musik, die sich ernster gebärdet als die offizielle ernste Musik. Es gibt Musiker, für die schon mal das eigene Experiment mehr im Vordergrund zu stehen scheint als dessen Vermittlung an ein Publikum. Ohne Publikum allerdings ging auch diese Musik nicht. Und seit den 1970er Jahren gab es eben auch ein Publikum, das keine Vermittlung wollte, das keiner Vermittlung bedurfte, das vielleicht gerade stolz darauf war, zu den Eingeweihten zu gehören, die verstanden, worum es ging, und die die scheinbar kompromisslosen Free-Jazz-Exzesse zu schätzen wussten.

"Kompromisslos": ein gern benutztes Wort im Zusammenhang mit FMP. Die Musik sei kompromisslos, heißt es und meint, sie mache keine Anstalten einem Markt gerecht zu werden, sondern nur sich selbst. Das Adjektiv ist im Jazz oft als höchstes Lob gemeint: "kompromisslos"! Aber ist es wirklich so wünschenswert, dass man keine Kompromisse eingeht in seiner Musik? Ist nicht das ureigene Agieren des Jazzmusikers, also musikalische Kommunikation, das Zusammenspiel mit anderen Musikern, bereits die Grundlage eines jeden Kompromisses? Es gehe dabei um ästhetische Kompromisse, wendet man ein, die man als Künstler nicht eingehen dürfe, um seine eigene Sache nicht zu verraten, um sich selbst treu zu bleiben. Mike Heffley erzählt von einem 1996 von der FMP geplanten Konzert, bei dem Steve Lacy und Cecil Taylor gemeinsam auftreten sollten. Lacy kam mit einem durchgeplanten Konzept, in dem er zeitgenössische Dichtung mit weitgehend durchkomponierter Musik konfrontierte; Taylor dagegen improvisierte von Anfang bis Ende. Am Schluss weigerte sich Taylor, mit Lacy zusammenzuspielen, und Gebers habe seine Entscheidung gut verstanden, da auch er Lacys Verneigung vor den hohen Gütern von Literatur und Komposition als ein Missverständnis begriff (Heffley 2000: 605-606, Fußnote 16). Kompromisslosigkeit in diesem Sinne kann Kommunikation also auch von vornherein verhindern. Auch das kein Werturteil, sondern einzig eine Feststellung.

Die Kompromisslosigkeit in der Musik ist allerdings ein zweischneidiges Schwert. Sie entstammt oft genug eher einem eurozentrischem als einem afro-amerikanischen Kulturverständnis. In jenem nämlich wird neben dem musikalischen Weg immer auch die Reaktion des Publikums mit einbeschrieben. Amerikanische Musiker verstehen sich aus ihrer Tradition heraus als Mittler zwischen Tradition und Avantgarde; sie schrieben Traditionen genauso fort wie sie Neues erfanden. Ihre Kompromisslosigkeit bestand damit höchstens in dem Willen, einen eigenen Weg innerhalb dieses Traditionskontinuums zu gehen. In europäischer Lesart allerdings sieht Kompromisslosigkeit oft aus wie ein ästhetisches Manifest statt wie eine Selbstverständlichkeit aus der Sache heraus. Dabei braucht es auch in der Musik eine Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß am Ganzen, wie fast überall im Leben: Auch Revolutionen wollen geplant sein. Wer dabei war bei den Total Music Meetings, kann viel davon erzählen, wie "Kompromisslosigkeit" Teil der Atmosphäre der Veranstaltungen war. Die Geschichten mögen manchmal ein wenig nostalgisch klingen. Doch bei aller Nostalgie: So war es nun mal tatsächlich: Es gab eine Zeit, zu der Musik zugleich ein philosophisches Manifest war, helfen sollte, das Denken zu verändern. Es gab eine Zeit, in der lange und komplexe Improvisationen nicht abschreckten, sondern anspornten. Die Musik war auch damals verbunden mit dem Äußeren, mit den Räumlichkeiten etwa, in denen die Konzerte stattfanden, mit den Gesprächen, die sich um sie rankten, immer mit der Kommunikation, die zwischen Musikern und Publikum möglich war, die die Künstler im wahrsten Sinne des Wortes anfassbar machte.

Die Balance also zwischen der Erlebbarkeit von musikalischer Kommunikation und ihrer Dokumentation, zwischen dem körperlichen Machen, Dialogisieren, Hinausschreien, dem zeitgleichen Hören und Erleben und dem nachfolgenden Nachhören und Nach-vollziehen-können ist es, die Jost Gebers und die FMP erreichen wollten, eine Balance der musikalischen Vermittlung. Und durch die Dokumentation des scheinbar Kompromisslosen konnte man die Folgerichtigkeit der Entwicklung genauso erkennen wie Seitenwege, kreative Irrwege, die letzten Endes keine solchen waren, weil Kreativität gerade auch solcher Irrwege bedarf, um Möglichkeiten auszutesten.


Gestern und heute

Immer noch hört man die Konnotationen mit, die FMP über die Jahre gepflegt hat. Die Idee von Freiheit hat sich mittlerweile verändert, auch im Jazz. Die Musik steht immer noch im Mittelpunkt beim kreativen Machen, sie steht aber nicht mehr unbedingt in kompletter Opposition zum Markt. Die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen auch die Bedingungen für die Musik. Frei improvisierte Musik hat nach wie vor ihre Berechtigung, produziert nach wie vor spannende Ergebnisse, hat nach wie vor einen (wenn auch begrenzten) Markt. Musiker haben immer noch das Bedürfnis zu spielen, ihr Publikum zu finden und die Ergebnisse ihres kreativen Weges festzuhalten und zu verbreiten. Mit dem Einzug des Internets allerdings haben sich die Vertriebsstrukturen erheblich geändert – und dabei rede ich gar nicht einmal von Downloads und anderen Sorgen der kommerziellen Musikindustrie. Mit dem Einzug des Internets wurde es für Musiker leichter, mit all ihren Projekten präsent zu bleiben, egal ob sie auf ihrer eigenen Website ihre neuesten CDs verkaufen, einzelne Titel oder ganze Alben zum Download anbieten oder auf ihrer MySpace-Seite Titel ihres aktuellen Programms bereitstellen, das noch gar nicht auf CD erschienen ist. Es ist keine Kostenfrage mehr, Livemitschnitte zu machen, die auch ohne aufwendige Technik hörenswert sind. Und die CD-Produktion kann entweder über ein Label oder aber auch selbst in überschaubarem Kostenrahmen gefahren werden - Jazzalben werden heutzutage oft genug eh nicht mehr im Geschäft, sondern vor allem bei den Konzerten der Musiker verkauft.

Eines aber haben Labels den neuen Vertriebsstrukturen nach wie vor voraus: Sie sind im besten Fall eine Art Gütesiegel für die auf ihnen produzierte Musik. Gute Labels haben es geschafft, ein eigenes Profil zu entwickeln, das Hörer (= Käufer) animiert, auf diesem Label auch Risiken einzugehen, sich Musiker und Projekte anzuhören, von denen sie vielleicht zuvor noch nie etwas gehört hatten. ECM, Enja, ACT ist das gelungen, im freieren (und europäischen) Maßstab auch ICP, BVHAAST oder Hat Hut, Cryptogramophon in den USA und vielen anderen Labeln – und zwar auf ganz unterschiedlichem musikalischem Terrain. FMP mag heute mehr für eine kreative Vergangenheit stehen als für die ästhetischen Diskurse der Gegenwart, auch deshalb, weil die letzten Aufnahmen des Labels (mit vereinzelten Ausnahmen nach 2000) 1999 gemacht wurden und Gebers sich seither mit Akribie vor allem der Dokumentation gewidmet hat, also der Archivierung veröffentlichter wie nicht-veröffentlichter Bänder, dem Reissue wichtiger Alben einschließlich zuvor nicht veröffentlichter Tracks, der Planung und Realisierung einer Website, auf der jedes einzelne Album des Labels festgehalten ist und viele der Quellentexte zu FMP nachzulesen sind. FMP mag aber auch deshalb heute mehr für eine kreative Vergangenheit stehen als für die ästhetischen Diskurse der Gegenwart, weil auch darin die Arbeit des Labels und die Arbeit von Jost Gebers konsequent waren: Bei aller Unterschiedlichkeit der auf FMP dokumentierten Musik hat man auch das Gefühl einer gewissen ästhetischen Geschlossenheit, weiß quasi, von welchen Tönen, Klängen und musikalischen Kommunikationsflüssen man spricht, wenn man über "FMP" redet. Weil FMP auf jeden Fall bis heute für eine kreative Spannung steht, der das Unvorhersehbare wichtiger ist als das Vorhersehbare. Weil die freie Musik für die FMP seit Ende der 1960er Jahre steht eben auch eine gewisse Freiheit in den Ohren hervorruft. Weil man immer noch ausrufen möchte "Free! … Music! … Production!"


Literatur:

Gebers 1978:
Jost Gebers (Hg.): For Example. Workshop Freie Musik 1969-1978. Photographs, Documents, Statements, Analyses, Berlin 1978 (LP Beiheft: FMP/Free Music Production)

Heffley 2000:
Mike Heffley: Northern Sun, Southern Moon. Identity, Improvisation, and Idiom in Freie Musik Produktion, Middletown/CT 2000 (PhD thesis: Wesleyan University)

Heffley 2005:
Mike Heffley: Northern Sun / Southern Moon. Europe's Reinvention of Jazz, New Haven 2005 ( Yale University Press)

Jost 1987:
Ekkehard Jost: Europas Jazz 1960-80, Frankfurt/Main 1987 (Fischer Taschenbuch Verlag)

Noglik 1989:
Bert Noglik: Ball Pompös, Arte Povera, Daily New Paradox. Stichpunkte zur Free Music Production (FMP), in: Jost Gebers (Hg.): 1969-1989 Twenty Years Free Music Production, Berlin 1989 (FMP/Free Music Production)


aus: Buch der Spezial Edition FMP im Rückblick

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